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Geburt des Waldes
Die Luft war bleiern, Wasserdampf stieg aus dem feuchten Erdreich, tränkte den Wind. Milchiger Nebel waberte durch die Stämme der alten Bäume, durch dunkelgrünes Farnkraut, dichtes Gebüsch und feuchte Blätter. Der Boden atmete, spie seinen würzigen, harzigen Geruch in die Welt, Ausdünstungen aus Moos, Erde, Schlamm. Die Bäume ächzten, Äste wiegten in den Kronen, dem Himmel entgegen, doch dort oben war nur Grau, dunkles, schmutziges Grau, keine Sonne, kein Licht.
Die Rinden tränten, Harz perlte auf ihrer rauen, spröden Haut, ergoss sich nach unten, tropfte. Geräusche, allgegenwärtig und doch leise, unscheinbar. Und überall Krabbeln und Huschen, Verstecken und Graben, alles schien unterwegs, alles in Bewegung, alles lebte.
Der Wald lebte.
Und er wartete.
***
Das Mädchen kam in den Wald, wie so oft, wenn es einsam war.
Verträumt überquerte es die breite Wiese und strich mit den Fingern durch das hohe Gras. Ein kühler Wind frischte auf und wehte von fern her die Geräusche des Dorfes, leise Geräusche waren es, kaum zu hören in der merkwürdigen Stille des Waldes.
Das Mädchen sah zum Himmel. Düster hatten sich Wolken aufgebäumt, von der untergehenden Sonne in schmutziges Rot getaucht. Vielleicht würde es ein Gewitter geben. Das Mädchen dachte daran, die Blitze vom Fenster in der großen Stube zu beobachten, wie sie grell und leuchtend blau über den Himmel zuckten, während im Ofen ein knisterndes Feuer brannte.
Etwas Helles wurde ihr gewahr, als sie den Blick über den Waldrand schweifen ließ. Klar und deutlich hob sie sich vom Dunkel der dahinter liegenden Bäume ab. Neugier packte sie und sie trat näher, richtete ihre scharfen Augen auf das Fremde. Es war eine Blume.
Eine große Blume, wie sie bisher noch nie eine gesehen hatte. Freilich, sie kannte viele Blumen, Gänseblümchen, Veilchen, Sauerampfer, Bocksbart, Hahnenfuß, Bärenklau. Doch diese Blume war anders. Sie war ihr fremd.
Obwohl im Schatten der hohen Bäume neben ihr, leuchtete diese Blume nahezu. So hell und rein, als würde die Sonne selbst sie bescheinen. Und dann diese Farben. Die großen Blütenblätter lagen dicht aneinender, faustgroß waren sie und sie schimmerten in einem zarten Blau, das heller noch war als der Himmel an sonnigen Tagen. Das Mädchen trat näher, fast ehrfurchtsvoll, wie sie sich sonst nur dem Altar der Kirche näherte.
Als sie nur noch einen Schritt von der Blume entfernt war, da zuckte diese plötzlich, die Blütenblätter begannen zu zittern, so als fröstelte die kleine Pflanze. Es war eine ganz und gar menschliche Regung, die die Pflanze durchfuhr. Das Mädchen hielt inne, wagte es nicht, zu atmen, als die Blütenblätter sich öffneten und ein zarter Duft in die Luft ventilierte. Das Mädchen sog den Geruch ein, köstlich war er, es roch nach Morgenluft, süßlich wie Honig und herb wie der Kräutertee, den die Großmutter immer braute.
Dann wurde ihr jedoch schwindelig. Sie sank auf die Knie, spürte aber keine Angst, zu sehr war sie benommen von dem Duft, lächelte sogar, als sie sich mit den Händen im Gras abstützen musste, doch auch ihre Arme gaben nach, sanken ein und sie schlug mit dem Gesicht auf die weiche Erde, immer noch selig lächelnd.
So lag sie da, als die Pflanzen nach ihr griffen, als sich dünne Äste um ihre Gelenke wickelten wie Seilzüge, als sich Blätter auf ihre Augen legten und auf ihren Mund, als sie zurechtgelegt wurde von einer Kraft, die fremd war und mächtig. Und erst, als sich ihre Beine gewaltsam spreizten, da begann sie zu begreifen - zu spät. Sie wehrte sich, bäumte sich auf, doch ihre Muskeln waren nichts gegen die Kraft, die sie nun gefangen hielt. Sie spürte, wie etwas in ihr war, wusste nicht was, konnte nicht sehen, konnte nicht rufen.
Dann war es vorbei.
Und sie rannte weg, flüchtete aus dem Wald, warf keinen Blick zurück, nicht auf die schöne Blume, nicht auf die Bäume.
Sie spürte etwas in ihrem Leib brennen, etwas Fremdes, etwas Neues, und als der Wind ihre nassen Wangen kühlte, zuckten in der Ferne die ersten Blitze über den trüben Himmel.
***
Regen peitschte gegen das Glas, die Scheibenwischer lagen im aussichtlosen Kampf gegen die Wassermassen. Der Doktor war müde, sein Rheuma machte ihm zu schaffen, seine Finger waren ein Meer aus Schmerzen, hatten ihn kaum schlafen lassen, der Magen brannte von den Schmerzmitteln, die doch kaum Linderung brachten. Er quälte das Auto, mochte nicht schalten, zu sehr schmerzten die Finger.
Die Straße war glatt, Ströme aus Wasser, Matsch, Laub.
Das Haus stand abseits der anderen, abseits der kleinen Siedlung. Endlich war er da, quälte sich aus dem Auto, verfluchte seinen Beruf, der ihn zwang, das trockene Haus gegen diesen Irrsinn einzutauschen. Kühe schrieen in den nahen Ställen, Blitze geißelten den Himmel, Donner wogte in der Nähe, ein Elektrisieren erfüllte die Luft, der Doktor spürte es trotz des Regens, der ihm die Sicht nahm, der ihm kalt den Rücken nässte, der ihn frieren ließ, zittern.
Wieder schrieen Kühe, verzweifelt ob der wütenden Natur, ein Hund bellte laut, verstummte, jaulte, bellte erneut.
Der Doktor lief ins Licht, zum Haus, in den Schutz vor Wind und Wasser. Er klingelte und hämmerte gegen die Tür, als man ihm nicht sofort aufschloss. Hämmerte selbst dann noch, als eine alte Frau, gebückt, mit einem alten Kopftuch und darunter schlohweißem Haar, die Tür öffnete.
Herein, herein, murmelte sie durch den zahnlosen Mund.
Der Doktor verlor keine Zeit, die Tür schloss sich hinter ihm und sperrte das Gewitter aus. Eine Stille war im dunklen Flur mit den dicken Teppichen, dass sich der Doktor einen Moment lang in einer fremden Welt fühlte, doch dann wurde er wieder des Regens gewahr, der am Dach abperlte und nach unten strömte. Ein Bild erschien vor seinem Auge, das Haus, umhüllt, umspült von Wasser, alle Wände, das Dach, der Garten, alles bedeckt von einem Fluss aus Wasser, der nichts übrig ließ, was vom Menschen gemacht war.
Schnell, schnell, murmelte das Mütterchen und eilte voran.
Ein merkwürdiger Duft hing in der Luft, erinnerte den Doktor an die Kirche, die er jeden Sonntag besuchte, der Geruch von Kerzen, Weihrauch.
Und tatsächlich, Rauch quoll aus dem Zimmer, in das die alte Frau ihn führte. Schmale tönerne Schalen standen um das breite, dunkle Bett, in ihnen lagen Kohlen, daraus quoll der Weihrauch und schwängerte die Luft mit seinem Gestank; dem Doktor wurde schwindelig, er spürte ein Hämmern in seinem Schädel, strich sich über die noch vom Regen feuchte Stirn und schlüpfte aus seiner Jacke.
Im Bett lag bleich und mit weit aufgerissenen Augen die junge Frau – (das Kind!, dachte der Doktor) - auf dem Rücken, den Oberkörper auf dicke Kissen gestützt, die Haare strähnig und glänzend vom Schweiß, die Beine gespreizt und die Knie angewinkelt, die Hände im Bettzug verkrallt. Sie atmete tief, immer wieder malmten die Zähne aufeinander. Die Augen waren weiß, durchsetzt von vielen roten Äderchen, die jeden Moment zu platzen drohten. Doch das Mädchen war still. Es schrie nicht, tobte nicht, weinte nicht.
Nur das Geräusch ihres Atems durchbrach die Stille. Und das Zischen der Kohle in den Weihrauchschälchen. Sie lag in den Wehen, das war dem Doktor sofort klar.
Das Kind gebiert ein Kind, dachte der Doktor.
Das Mütterchen, das dem Doktor geöffnet hatte, betupfte dem Mädchen die Stirn mit einem weißen, nassen Lappen. Neben dem Mädchen, die Hände im Schoß verkrampft, saß eine Frau, an die vierzig, wahrscheinlich die Mutter der Gebärenden. Sie starrte den Doktor verzweifelt an, die Augen und der Kopf schwer, der Rücken gebeugt wie unter der Last vieler Jahre.
Der Doktor verlor keine Zeit.
Ob die Ambulanz verständigt sei, rief er und stürzte auf die Gebärende hin.
Nein, nein, sagte das Mütterchen und betupfte weiter die Stirn ihrer Enkelin.
Warum nicht?, schrie der Doktor. Der Schmerz seiner Finger war vergessen, als er seine Ledertasche öffnete. Nur das Zittern seiner Hände gemahnte ihn noch seines Rheumas.
Als niemand reagierte, wiederholte er seine Frage, dieses Mal ein schrilles Schreien: Warum die Ambulanz nicht verständigt sei?
Doch wieder beantwortete niemand seine Frage. Stattdessen bäumte sich das Kind auf, in stillem Schmerz und ohne zu schreien, nur ein leises Keuchen entwich ihrem Mund wie ein Atemstoß.
Und der Doktor traute seinen Augen kaum, als die Spitze eines kleinen Köpfchens zwischen den Beinen der Gebärenden hervorlugte.
Zu spät, ging es ihm durch den Kopf, zu spät.
Blut quoll dem Mädchen zwischen den Beinen hervor, sprudelte und durchtränkte das vormals weiße Laken.
Es kommt, es kommt, sagte das Mütterchen mit spröden Lippen.
Licht, Licht, verlangte der Doktor. Er brauche Licht, Handtücher, Wasser..., seine Stimme brach ihm ab wie einem Jungen im Stimmbruch. Mit großen Augen, die ihm aus den Höhlen traten, verfolgte er das Spektakel, fühlte sich plötzlich völlig unerfahren und an seine Lehrjahre erinnert. Viele Geburten hatte er seitdem geleitet, erfolgreich, viele der Kinder hier hatten zuerst von allen Menschen seine Hände gespürt, doch dies hier, dies hier war anders.
Der Kopf quoll weiter nach draußen und mit ihm Blut. Der Doktor versuchte die Blutung zu stoppen, doch zugleich wusste er, dass er zwecklos war.
Sie müsse ins Krankenhaus, gellte er. Die Mutter der Gebärenden starrte ihn nur schweigend an, noch immer die Hände im Schoß verschränkt. In seiner Verzweiflung wandte sich der Doktor an die Großmutter, doch diese lächelte nur gütig und betupfte beständig weiter die Stirn des Mädchens.
Dieses war immer noch still. Schrie nicht, weinte nicht.
Stattdessen erfüllte plötzlich ein schrilles Geschrei das Zimmer.
Der Doktor wich zurück, konnte nicht fassen, was er sah: Das Kind schrie! Kaum, dass sein Mund an der Luft war, schrie es, der Rest des Körpers noch in der Mutter steckend, tat also das, was die werdende Mutter verweigerte, schrie, als eigentlich sie schreien sollte.
Endlich fasste der Doktor der jungen Frau auf den aufgetriebenen Bauch. Weich war die Muskelschicht unter der Haut und der Doktor erstarrte vor Schreck. Ein Riss. In der Gebärmutter.
Das Kind hingegen erkämpfte sich schreiend den Weg nach draußen, auf einem Schwall aus Blut schwimmend, die Mutter sank ins Kissen zurück, die Augen geschlossen, die Lippen nur ein dünner, fahler Strich. Ein letztes Aufbäumen, still und ohne Tränen.
Das Kind war geboren.
Und die Mutter starb. Sank zurück ins Bett, die Augen geschlossen, endlich – endlich! – eine einzelne Träne, die auf ihrer von der Anstrengung geröteten Wange trocknete. Es war, als würde sie nur schlafen, doch der Doktor wusste es, wusste es ohne sie zu untersuchen, dass sie tot war, dass das Leben sie verlassen hatte, gleich in zweierlei Hinsicht.
Der Doktor sank gegen die Wand, bleich, zitternd, müde, rutschte hinab zu Boden, die großen Hände voller Blut.
Die Mutter der Toten saß noch immer starr, die Hände im Schoß gefaltet. Nur das alte Mütterchen weinte, doch ihr Weinen ging unter im Geschrei des frisch geborenen Kindes, das die Welt begrüßte.
Der Doktor starrte auf das Kind, das in blutigen Leinen lag, das Gesicht zerknautscht und bedeckt mit braunem Schleim, der aussah wie rostige Spinnweben, und schrie.
Und schrie.
Und schrie.
***
Und er wuchs heran.
***
Er sei zurück, stellte der Junge fest. Warum er Worte sprach, wusste er nicht, er hatte nur ein fernes Gefühl, dass es richtig war zu sprechen.
Der Wald wusste längst um seinen Sohn und empfing ihn freudig. Die Blätter der hohen Bäume zitterten und der Tau fiel von ihnen herab und sprenkelte den Boden, benetzte das Gesicht des Jungen wie ein warmer, sanfter Regen. Die Äste knirschten und wankten hin und her und es war mehr als der Wind, der sie bewegte. Die Büsche am Boden neigten sich dem Jungen zu, berührten mit ihren saftigen, grünen Zweigen, seine Hose, seine Beine, seinen Bauch.
Er lachte glücklich und freute sich.
Langsam ergab so vieles einen Sinn.
Und er lauschte den Geräuschen, die so anders klangen und doch konnte er sie verstehen.
Er wusste, was zu tun war.
Er verließ den Wald auf dem schmalen Pfad. Und die Pflanzen folgten ihm.
Er ging über die Felder, die Wiesen, die Weiden. Und die Pflanzen folgten ihm, umschlangen Kühe und blökende Schafe. Holz grub sich in das Fell der Tiere, Äste schoben sich in ihre schreienden Mäuler, Blumen wuchsen in ihren aufgeblähten, aufgeplatzten Leibern.
Er ging durch das Dorf und die Pflanzen folgten ihm. Wurzeln brachen den Asphalt, zerschmetterten Mauern und brachen Bretter.
Er ging vorbei an staunenden Gesichtern, aufgerissenen Mündern und dumm glotzenden Augen. Und die Pflanzen folgten ihm, begruben die Menschen unter sich, verschlangen sie, so schnell, dass den meisten kein Laut oder Schrei entfuhr.
Und der Junge verließ die Stadt, seine Brüder zu suchen.