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Gedanken über Trauer
Gedanken über Trauer
Lena zu treffen, bedeutet Unsicherheit. Sie ist eine gute Freundin, doch jetzt ist sie eine Trauernde.
Ich halte aus, dass sie nicht mehr lacht, ihren abwesenden Blick und das stundenlange Rühren im Kaffee, der schon längst kalt ist, alles halte ich aus. Sie ist verantwortlich für meine Gänsehaut mitten im Sommer, dafür, dass die Sonne bloß brennt und nicht wärmt.
Wenn sie anruft, mit dünner Stimme um ein Treffen bittet, (nur eine halbe Stunde, das reicht schon), klopft es gleich hinter der Schläfe und die Schmerzsichel legt sich um meinen Kopf.
Ich sage nie ab. Das geht doch nicht. Sie trauert um ihren Mann, das wird weniger mit der Zeit, mein Gott, es war ein Schock für Lena, für mich auch, niemand war darauf vorbereitet.
Sie versaut mir den Sommer, sie ödet mich an! Ich schäme mich für diese Gedanken, doch ich denke sie und stelle manchmal das Telefon ab.
Jetzt sitzen wir wieder auf der Seeterrasse, ihr Kaffee ist kalt, der Erdbeerkuchen von der Sonne matschig und die halbe Stunde längst vorbei.
So geht es nicht mehr, denke ich, es sind schließlich meine Lebensstunden.
Erzähl mir, wie die Trauer ist, Lena!
Wollte ich das sagen? Ich will es aber wissen, wirklich. In sie rein kriechen will ich, damit meine Wut verraucht, vielleicht. Wenn ich ihr Innerstes verstehen kann, verschwindet die Hilflosigkeit, diese lähmende Ohnmacht.
Sie hat mich sofort verstanden, schaut plötzlich klar und mit diesem nachdenklichen Blick, den sie auch hat, wenn wir über Lebensdinge reden, über Kino, Arbeit, Politik, Urlaub.
Lena hat ihre Steilfalte zwischen den Augenbrauen, sie atmet tief.
Trauer ist Abwesenheit, sagt sie, leere Stellen im Alltag, weiße Flecken in jedem Raum.
Ich beuge mich vor. Was noch, was ist Trauer noch?
Trauer ist Stille in mir, wenn draußen alles laut ist, wenn Stimmen mich nicht erreichen, weil meine Kraft nur für den nächsten Schritt reicht, aber nicht fürs Zuhören.
Sie weint, sieht mich aber an.
Weiter, Lena, was weiter?
Ich gehe durch meine Strasse, sagt sie, und plötzlich werden alle Fenster zu Feinden. Sie versperren mir den Blick in die Häuser, sie schotten alles ab. Mauern sind dicker als früher, die Menschen sitzen in ihren Bollwerken, ich gehe vorbei und die Fenster grinsen hinter mir her.
Aber deine Nachbarn, Lena, sie sind doch da, sie sind doch die gleichen geblieben!
Sie dreht an ihrem Ehering, ich sehe nicht hin, halte ihren Blick fest.
Ihre Augen flattern weg, huschen über das Wasser, es dauert, bis sie weiter spricht.
Ich kann ihre Blicke nicht mehr auffangen, sie gehen vorbei, verstehst du, ich verliere ihre Blicke. Ich verliere auch die Worte, vergesse einfach, was man sagt, so im Alltag, wenn alles ganz gewöhnlich geschieht. Was immer ich gesagt habe, ich weiß es nicht mehr.
Ich schlage mit der Hand auf den Tisch, mein Kopf droht zu platzen.
Das geht mir doch genau so, Lena! Ich weiß auch nicht mehr, was ich sagen soll! Was haben wir geredet, was haben wir gelacht, weißt du noch? Und jetzt? Gar nichts mehr ist davon übrig, es gibt wohl keinen Vorrat für schlechte Zeiten, was?
Sie schweigt lange.
Vielleicht doch, sagt sie schließlich, nimmt über den Tisch hinweg meine Hand und beginnt wieder zu weinen. Ich warte, doch mehr kommt nicht.
Die halbe Stunde ist eine lächerliche Zeitspanne, denke ich und bin froh, dass die Sonne endlich hinter den Bäumen verschwindet. Eine lächerliche Zeitspanne, wenn man über die Lebensdinge redet.