- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Gedankenoxidation
Zwischen der ehemaligen Militäranlage, deren mit Graffiti besprühten Ummauerung und den Plattenbauen der Stalin-Ära klingen seine gleichmäßigen Schritte auf dem kiesigen Boden hohl und unwirklich, als würfe man sie in ein Vakuum und nur ein vereinzelter Fluch oder das entfernte Rauschen einer Straßenbahn reißt für einen kurzen Moment diesen Kosmos der Stille aus seiner Dimension.
Die Schriftzüge an den Wänden erinnern ihn an Werbeschriften; groß, blockig, akzentuierte Ränder und selten länger als fünf Buchstaben: PND zum Beispiel oder KOS.
Baudrillard hielt Graffiti einst für revolutionären Sprengstoff, die Rebellion der Zeichen. Doch wie wir wissen, fand sie nie statt, die große Walze, und alles was bleibt sind klagende Hunde ohne Maulkorb hinter verrosteten Gittertoren, alter Industrieschrott aus den Achtzigern, Tank-Tops, gechlorte Schwimmbäder und Autotuning, Nagellackentferner und Mikrowellengerichte, ein Menü in neonschwarzen Buchstaben.
Quadratischen Legebatterien türmen sich auf, bereit Nachwuchs zu spucken, Säuglinge werden aus den offenen Fenstern gerotzt wie die Kanonenkugeln aus den Luken der HMS Victory. Zumindest erscheint es ihm so.
Noch eine Scheibe Wurst für den Kleinen?
„Danke, nein. Heute nicht und auch nicht morgen, da ich nicht wiederkommen werde, nie wieder…“
Wo soll es denn hingehen?
„Das wüssten sie wohl gerne! Aber sie kriegen mich nicht, ich werde ihnen nicht sagen, wo ich hingehe. Denn dann kommen sie, kommen mit ihren Tafeln und Erhebungen, bringen mir ihre Ordnung in mein Leben, und stilles Wasser mit einem Spritzer Zitrone und rascheln mit ihrer Alufolie um meine Ohren herum, tänzelnde Maisdosen fressen Anlegeschneisen in meine Hirnrinde und dazu wird mir der neueste Roman Ingeborg Bachmanns von Johannes B. Kerner vorgelesen!
Nein, ihre Ansichten sind mir fremd, ich tanze nicht zu eingemauerten Melodien.“
Und er ging weiter, schaute in den Himmel, diese warme Erhebung über den Flachdächern, rotweiniges Rauchgehänge, schwer und klebrig und vergaß wieder die Wurst, sinnierend ob der Verzehr konservierungsstoffhaltiger Waren auch einen konservierenden Effekt auf den Konsumenten haben könnte, atmete ein und aus, über seinen Gedankengang lächelnd und lauschte dem Gekräusel des Windes.
Die Ruinen seiner Gedanken abmoosend, durchwandert das Wesen die Wälder und Flächen, schlaflos, kein Rastplatz in Sicht, haltlos und ohnmächtig. Schlurfender Nebel umzüngelt sein Schuhwerk, schwarzes Leder, glatt glänzend.
Wo bist du?
Aber da war nichts mehr, kein Wort, kein Funke und nichts bleibt, außer milchig-mattem Kristall, aushauchend in die Nacht ziehend wie die Rauchfäden eines Argabatti.
Jeder Schritt als ein Anfang und ein Ende, jede Bewegung einem Fluss gleich, dessen Vergangenheit mit einer Klaviersaite abgetrennt wurde, unauffindbar, jenseits jeglicher Dinglichkeit und in einem andauernden Prozess des Vergessens und neu Erwachens.
Nebel zieht seine Kreise wie ein Albatros, die Schlinge wird enger, man vergisst sich selbst, vergisst zu essen, zu schlafen und jede Aktion hängt schwer wie in Blei, tropfend wie Honig ziehen Fäden ihre Bahn zu dem Ursprung des Denkens, zur großen Mutter und zum kleinen Bruder.
Mit gesenktem Kopf, in die Schwaden um seine Füße starrend, war er sich nun sicher:
Dies war ein guter Tag gewesen, morgen wird er ihn vergessen haben.