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Gedankenoxidation

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23.10.2006
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Gedankenoxidation

Zwischen der ehemaligen Militäranlage, deren mit Graffiti besprühten Ummauerung und den Plattenbauen der Stalin-Ära klingen seine gleichmäßigen Schritte auf dem kiesigen Boden hohl und unwirklich, als würfe man sie in ein Vakuum und nur ein vereinzelter Fluch oder das entfernte Rauschen einer Straßenbahn reißt für einen kurzen Moment diesen Kosmos der Stille aus seiner Dimension.

Die Schriftzüge an den Wänden erinnern ihn an Werbeschriften; groß, blockig, akzentuierte Ränder und selten länger als fünf Buchstaben: PND zum Beispiel oder KOS.

Baudrillard hielt Graffiti einst für revolutionären Sprengstoff, die Rebellion der Zeichen. Doch wie wir wissen, fand sie nie statt, die große Walze, und alles was bleibt sind klagende Hunde ohne Maulkorb hinter verrosteten Gittertoren, alter Industrieschrott aus den Achtzigern, Tank-Tops, gechlorte Schwimmbäder und Autotuning, Nagellackentferner und Mikrowellengerichte, ein Menü in neonschwarzen Buchstaben.

Quadratischen Legebatterien türmen sich auf, bereit Nachwuchs zu spucken, Säuglinge werden aus den offenen Fenstern gerotzt wie die Kanonenkugeln aus den Luken der HMS Victory. Zumindest erscheint es ihm so.

Noch eine Scheibe Wurst für den Kleinen?

„Danke, nein. Heute nicht und auch nicht morgen, da ich nicht wiederkommen werde, nie wieder…“

Wo soll es denn hingehen?

„Das wüssten sie wohl gerne! Aber sie kriegen mich nicht, ich werde ihnen nicht sagen, wo ich hingehe. Denn dann kommen sie, kommen mit ihren Tafeln und Erhebungen, bringen mir ihre Ordnung in mein Leben, und stilles Wasser mit einem Spritzer Zitrone und rascheln mit ihrer Alufolie um meine Ohren herum, tänzelnde Maisdosen fressen Anlegeschneisen in meine Hirnrinde und dazu wird mir der neueste Roman Ingeborg Bachmanns von Johannes B. Kerner vorgelesen!
Nein, ihre Ansichten sind mir fremd, ich tanze nicht zu eingemauerten Melodien.“

Und er ging weiter, schaute in den Himmel, diese warme Erhebung über den Flachdächern, rotweiniges Rauchgehänge, schwer und klebrig und vergaß wieder die Wurst, sinnierend ob der Verzehr konservierungsstoffhaltiger Waren auch einen konservierenden Effekt auf den Konsumenten haben könnte, atmete ein und aus, über seinen Gedankengang lächelnd und lauschte dem Gekräusel des Windes.

Die Ruinen seiner Gedanken abmoosend, durchwandert das Wesen die Wälder und Flächen, schlaflos, kein Rastplatz in Sicht, haltlos und ohnmächtig. Schlurfender Nebel umzüngelt sein Schuhwerk, schwarzes Leder, glatt glänzend.

Wo bist du?

Aber da war nichts mehr, kein Wort, kein Funke und nichts bleibt, außer milchig-mattem Kristall, aushauchend in die Nacht ziehend wie die Rauchfäden eines Argabatti.

Jeder Schritt als ein Anfang und ein Ende, jede Bewegung einem Fluss gleich, dessen Vergangenheit mit einer Klaviersaite abgetrennt wurde, unauffindbar, jenseits jeglicher Dinglichkeit und in einem andauernden Prozess des Vergessens und neu Erwachens.
Nebel zieht seine Kreise wie ein Albatros, die Schlinge wird enger, man vergisst sich selbst, vergisst zu essen, zu schlafen und jede Aktion hängt schwer wie in Blei, tropfend wie Honig ziehen Fäden ihre Bahn zu dem Ursprung des Denkens, zur großen Mutter und zum kleinen Bruder.

Mit gesenktem Kopf, in die Schwaden um seine Füße starrend, war er sich nun sicher:
Dies war ein guter Tag gewesen, morgen wird er ihn vergessen haben.

 

Hallo Subart,

Zwischen der ehemaligen Militäranlage, dessen mit Graffiti besprühten Ummauerung
Die Militäranlage – also „deren.“

Zwischen der ehemaligen Militäranlage, dessen mit Graffiti besprühten Ummauerung und den Plattenbauen der Stalinära, klingen seine gleichmäßigen Schritte auf
Das Komma beendet ja nur eine Aufzählung (zwischen dem, dem und dem). Sowohl grammatikalisch als auch von der Satzrythmik müsste es also weg.
Vgl: Peter, Paul und Mary gründen eine Band.
Stalin-Ära würde ich mit Bindestrich schreiben.

gerotzt wie die Kanonenkugeln aus den Luken einer HMS Victory
HMS Victory klingt aber eher wie der Name eines bestimmten Schiffes und nicht wie eine Gattungsbezeichnung, also „der“, oder?

ich werde es ihnen nicht sagen, wo ich hingehe.
Das „es“ killt die Satzmelodik.

und dazu wird mir der neueste Roman Ingeborg Bachmanns von Johannes B. Kerner vorgelesen!
Ich finde Oliver Bierhoff verkörpert all das, was an diesem „Wir sind Deutschland“ schief läuft, aber okay. Johannes B. Kerner folgt ihm sicher dichtauf.

Und er ging weiter, schaute in den Himmel, diese warme Erhebung über den Flachdächern, rotweiniges Rauchgehänge, schwer und klebrig und vergaß wieder die Wurst, sinnierend ob der Verzehr konservierungsstoffhaltiger Waren auch einen konservierenden Effekt auf den Konsumenten haben könnte, atmete ein und aus, über seinen Gedankengang lächelnd und dem Gekräusel des Windes lauschend.
Das gefällt mir, hier ist es in der ersten Hälften gut gemischt, nicht zu überladen (rotweiniges Rauchgehänge klingt auch einfach toll), aber am Ende mit dem doppelten Partizip. Nojo, ist halt nicht so meins.

dessen Vergangenheit mit einer Klavierseite abgetrennt wurde
Saite

Ja, Gedankenoxidation passt irgendwie. Drückt ein Lebensgefühl aus, ein ziemlich privates. Ist auch ein irgendwie privater Text, eine in Worten gepresste Gemütslage, Mischmasch aus Sinnstreben und Überdrüssigkeit. Schon okay, für so ein Gedankenbild. Eine „richtige“ Geschichte bedürfte jetzt einer Handlung, so ist es ein Stimmungsbild und das ist immer schwer zu bewerten.
Im Vergleich zu früheren deiner Texte finde ich den hier aber sauber gearbeitet und gut lesbar. ;)

Gruß
Quinn

 
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hallo quinn,

HMS Victory klingt aber eher wie der Name eines bestimmten Schiffes und nicht wie eine Gattungsbezeichnung, also „der“, oder?

HMS Victory war der name mehrerer britischer kriegsschiffe zwischen 1559 und 1760. da das letzte modell bis 1903 im aktiven dienst war und noch heute im hafen von portsmouth steht, kann mans ändern, was hiermit geschehen ist.

Das gefällt mir, hier ist es in der ersten Hälften gut gemischt, nicht zu überladen (rotweiniges Rauchgehänge klingt auch einfach toll),

das freut mich

aber am Ende mit dem
doppelten Partizip
. Nojo, ist halt nicht so meins.

stimmt

Drückt ein Lebensgefühl aus, ein ziemlich privates. Ist auch ein irgendwie privater Text, eine in Worten gepresste Gemütslage, Mischmasch aus Sinnstreben und Überdrüssigkeit.

das trifft es eigentlich ganz gut.

Im Vergleich zu früheren deiner Texte finde ich den hier aber sauber gearbeitet und gut lesbar.

na immerhin, das ist doch mal was. der nächste text beschäftigt sich dann aber auch wieder mit themen, wie xenas hühneraugen oder fliegenden schweinen mit diarrhö und wird schlampiger ausfallen. ;)

gruß,
subart

 

Hej subart,

der Stil hat mir gefallen, die Bilder. Ein bisschen mehr Zusammenhalt zwischen den einzelnen Passagen hat mir gefehlt.

stilles Wasser mit einem Spritzer Zitrone und rascheln mit ihrer Alufolie um meine Ohren herum, tänzelnde Maisdosen fressen Anlegeschneisen in meine Hirnrinde
Find' ich gut.

Kann Johannes B. Kerner lesen?

Quadratischen Legebatterien türmen sich auf, bereit Nachwuchs zu spucken, Säuglinge werden aus den offenen Fenstern gerotzt
Ich hab' das Gefühl, hier schleicht sich eine längst vergangene Zeit in den Text. Das klingt nach zwanziger Jahren, Mietskasernen, Kindern, die Tage auf Treppenstufen und vor Hauseingängen verbringen.

Viele Grüße
Ane

 
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hallo ane,

es freut mich natürlich, dass dir mein stil gefallen hat und es mir gelungen ist, ein paar bilder zu erzeugen, darauf kam es mir in diesem text zu einem großen teil an.

deinen kritikpunkt bezüglich des mangelnden zusammenhalts kann ich nachvollziehen, der prot durchlebt/verarbeitet jedoch seine eindrücke auf eine sehr unstrukturierte art und weise.
so schnell seine gedanken kommen, verschwinden sie auch wieder.
gerade dieser fehlende zusammenhang ist quasi ein bestandteil seiner "gedankenoxidation".

Kann Johannes B. Kerner lesen?

auch wenn er nicht den eindruck macht, muss man wohl leider davon ausgehen.

Ich hab' das Gefühl, hier schleicht sich eine längst vergangene Zeit in den Text. Das klingt nach zwanziger Jahren, Mietskasernen, Kindern, die Tage auf Treppenstufen und vor Hauseingängen verbringen.

ich hatte dabei eher das leipziger viertel grünau im kopf. ist ne nette plattenbausiedlung, in der nicht nur die kleinen auf den treppenstufen rumhängen, sondern auch die großen.;)

so gesehen also, von seiner trostlosigkeit her, recht ähnlich.

deine interpretation dieser stelle hat durchaus seine reize, würde dann allerdings nicht mehr zur zeitlichen ebene passen bzw. im gegensatz zu den graffitis und baudrillard stehen.

der prot lebt schließlich in der gegenwart, beschrieben werden seine eindrücke und gedanken, die er in dieser nacht durchlebt.

liebe grüße,
subart

 

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