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Gedeih
Anna isst ihren Apfel zügig und mit Genuss, sie beißt große Stücke von ihm ab, dass es nur so knackt. Dann, wenn ein Stück zu groß ist und im Mund sperrig wird, gluckst sie und ihre Augen blitzen vergnügt. Das Gehäuse nagt sie gründlich ab, damit ihr auch nichts entgeht.
Lars dagegen isst so langsam, dass der Apfel da, wo die Schale schon fehlt, bereits braun wird. Kleine Mäusebisse macht er, knabbert herum, ich frage mich, ob er überhaupt weiß, wie der Apfel schmeckt, den er in der Hand hält. Er wirkt auch so abwesend, dass ich bezweifle, ob er sich des Apfels in seiner Hand bewusst ist.
Jarah schält ihren. Als Kind hat sie die Schale abgenagt, bis nur noch ein kahler Apfel übrig war, um sich dann über diesen herzumachen, da bin ich mir ziemlich sicher.
"Wohin damit?" Das ist Anna, und sie meint das Apfelhaus, das Gehäuse, den Krips, das Ding, das keinen gescheiten Namen hat.
Ich schaue mich im viel zu engen Zimmer, in dem wir zu viert sitzen, und das für vier Leute, wie schon gesagt, einfach viel zu eng ist, um, und finde keinen Mülleimer. Er steht sonst immer dort, zwischen dem Schreibtischbein und der Heizung, nur jetzt nicht.
"Leg's einfach da hin", sage ich, und mache eine vage Bewegung in Richtung Schreibtisch, "ich räum' das dann später weg." Innerhalb von sechs Minuten liegen vier Apfelhäuschen da, hübsch nebeneinander, und sechs Minuten sind es nur deshalb, weil Lars so langsam ist.
Eine halbe Stunde später gehe ich aus dem Haus, um einzukaufen.
Als ich wieder nach Hause komme, wächst ein kleiner Apfelbaum auf meinem Schreibtisch. Der Baum, es ist vielmehr ein Spross, ist noch klein, vermittelt aber schon jetzt einen Eindruck davon, wie groß er zu werden verspricht. Vier dünne Sprosse, gesäumt von zarten Erstlingsblättern, verschlingen sich zu einem einzigen, wie ein lockerer Zopf. Ich lasse die Einkaufstaschen im Türrahmen stehen und gehe in das kleine Zimmer, das für eine Person wiederum vollkommen ausreichend ist, um mir das Ganze genauer anzusehen.
Ich erinnere mich an Tage, ich muss etwa fünf, sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als ich Hühnereier aus dem Kühlschrank stahl und sie unter Bergen von Kissen verstaute, um kleine Küken auszubrüten. Mehrere Versuche scheiterten, und meine Mutter, die sich über verschwindende Eier wunderte und die Ursache dessen schließlich entdeckte, versuchte mir zu erklären, weshalb Eiern aus dem Kühlschrank keine Hühnchen entschlüpfen würden. Außerdem die Kissen. "So ein Ei braucht Körperwärme", sagte sie, "dann musst du dich schon selbst drauf setzen." Und: "Nein!", fügte sie rasch hinzu und hielt mich am Arm fest, als ich Anstalten machte, mich auf ein Ei zu setzen.
Meine Nasenspitze berührt fast die jungen Blätter und ich kann die Blattadern sehen. Die grünen Stängel drängen sich aus vier Fenstern von vier antrocknenden Apfelhäusern. Ich luge in ein Fenster und sehe den braunen Kern, der halb aufgebrochen ist. Hauchdünne weiße Wurzeln sind schon erkennbar.
Ich kann es nicht leugnen, ich bin maßlos erstaunt über ein solches Wachstum. Ganz ohne mein Zutun, ganz ohne Körperwärme. Kopfschüttelnd gehe ich aus dem kleinen Zimmer, denn ich muss auspacken und nachdenken.
Das einzig Vernünftige wäre natürlich, den jungen Apfelbaum auszureißen und die schrumpeligen Apfelreste in den Müll zu werfen, wo sie hingehören. Aber angesichts der Tatsache, dass es sich hierbei um etwas sehr Ungewöhnliches, ja Einzigartiges handelt, ist der Gedanke daran vielleicht doch nicht so vernünftig. Wie ich es auch drehe und wende, es kommt nichts Kluges dabei heraus. Ich stelle mir vor, wie ich im Schatten eines Apfelbaums Papiere sortiere, schreibe, arbeite, nachdenke, einen Apfel pflücke, mich im Chefsessel drehe, mich mit einem Fuß ständig an der Schreibtischkante abstoße und dabei das Blätterdachmuster bewundere.
Sieben Tage später gibt es einen Rohrbruch. Ich erwache von Geräuschen, einem Knacken und Brechen, Zweige und kleine und größere Deckenstücke rieseln auf den Fußboden, ich habe Staub im Gesicht und Staub auf dem Bettlaken. Es ist dunkel, ich knipse das Licht an und sehe: Der Haupttrieb, der Stamm des einst so zarten Apfelbäumchens, bohrt sich seinen Weg durch die Decke. Während sich die umgebenden Zweige und schwächeren Äste nur an die Zimmerdecke schmiegen und sie wohl bald vollkommen verbergen werden, ist der Stamm stark genug, um durch jedes Material zu brechen. Ich setze mich in den Chefsessel, drücke meine Zehen gegen die Schreibtischkante, stoße mich ab, lege den Kopf in den Nacken und staune über das Muster, das Spiel der Blätter und Zweige, weiche herabfallenden Brocken aus. Dann fängt es an zu regnen. Sintflutartig ergießt sich Wasser über mich, den Schreibtisch, den Boden, das Bett; alles wird nass, alles ist nass, der Apfelbaum hat die Wasserleitung getroffen. Nach einer Weile höre ich Geschrei im Zimmer über mir, die Nachbarn müssen das Loch in ihrem Fußboden bemerkt haben, und die Pflanze, die sich unbeirrt, ja vom Wasser noch mehr Kraft schöpfend, ihren Weg gen Himmel bahnt. Nicht zu verachten das ganze Wasser. Ich habe den Baum zu keiner Zeit gegossen. Angesichts des außergewöhnlichen Wachstums fand ich Bewässerung völlig überflüssig. Und jetzt kennt der Baum kein Halten mehr.
Schreie und Rufe, Poltern, hastige Schritte. Dann lugt das Gesicht, oder zumindest ein Ausschnitt davon, der Nachbarin über mir hervor. Ich drehe mich jetzt nicht mehr im Sessel. "Was tun Sie da? Was ist das für ein Baum? Wächst der bei Ihnen?"
Und dann hat der Stamm das nächste Stockwerk erreicht.
"Meine Güte! Wir müssen hier raus! Womöglich stürzt das Haus noch ein!" Eilig entfernt sie sich, dann nähern sich die trippelnden Schritte der Nachbarin ein weiteres Mal, ihr wütendes Gesicht erscheint. "Sie Wahnsinnige!"
"Es tut mir Leid!", rufe ich ihr hinterher. Ich setze zu einer Erklärung an, aber da ist sie schon fort.
Ich höre zu, wie das Haus erwacht und sich das Gemurmel, Gewusel und Geschnatter auf die Straße verlegt. Meine weißen Vorhänge leuchten vom Blaulicht der Feuerwehr im Halbsekundentakt auf. Mittlerweile hat der Stamm das letzte Stockwerk durchbohrt und entfaltet sich in der Nachtluft. Ich kann ein paar Sterne glitzern sehen. Das Laub in meinem Zimmer bebt erwartungsvoll. Ich stehe auf, meine Hände suchen Halt am verflochtenen Stamm, ich stelle meinen Fuß auf eine Wurzel, den anderen auf eine Windung des Stamms, ziehe mich hoch, klettere von Ast zu Ast, von Stockwerk zu Stockwerk, durch die Löcher, die mein Apfelbaum in den Zimmerdecken des Hauses verursacht hat, bis aufs Dach. Die nächtliche Brise weht Stimmengewirr zu mir herauf, das sich mit Laubrauschen verwebt.
Es ist schön hier oben.
Die Nachtluft ist mild, fast kühl, aber mich friert nicht. Ich lehne mich an den mittlerweile auch in dieser Höhe gut gewachsenen Stamm, spüre die raue Borke durch den Stoff meines Pyjamas und wie sie an den Schulterblättern angenehm pikst. Von hier aus sehe ich bis zum Rand des Dachs, dahinter ist Abgrund und blaues Licht, dann schwarz. Menschen sehe ich keine, aber ich könnte sie mir vorstellen, wie sie sich auf dem Bordstein versammelt haben in Morgenmänteln und Nachthemden und besorgt das Haus betrachten, wie es von innen aufgebrochen wird. Ich bin weit weg von ihnen.
Der Baum wächst weiter. Wo ich lehne, bleibt er unverändert, aber neben meiner Schulter sprießt ein junger Ast und bietet mir einen Apfel an. Ich schaue zu, wie er wächst und reift, lache, pflücke ihn und esse ihn auf, bis nur noch das Gehäuse übrig ist, das ich Apfelhaus nenne, hole weit aus und werfe es über den Rand des Dachs in die murmelnde Menge.