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Gefesselt und frei

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14.09.2001
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Gefesselt und frei

Es war kurz nach fünf Uhr morgens. Ich schlich durch das kühle Halbdunkel des beginnenden Tages über den großen Parkplatz des Bauunternehmens. Hinter mir ragten die kahlen Wände großer Lagerhallen auf, schlicht wie Pappschachteln und sicher nicht viel massiver. Es roch ein wenig nach dem taufeuchten Teer des Platzes. Dunst hing in der Luft, den ich einatmete. Er verursachte ein leichtes Kratzen im Hals. Endlich erreichte ich den Lastwagen. Es war ein typischer Baulaster mit einer Kippladefläche. Wenn ich entdeckt würde, könnte ich mich sicher irgendwie herausreden, außerdem hatte ich kein Einbruchswerkzeug dabei, das mich bei einer Durchsuchung in Schwierigkeiten hätte bringen können. In dem Sack, den ich bei mir trug, hätte man nur ein paar Gürtel gefunden. Mein Gesicht war pechschwarz geschminkt und ich trug enge schwarze Kleidung und schwarze Stoffhandschuhe. Ich hockte mich an der linken Seite des Lasters hin und holte die acht Gürtel aus dem Sack. Dann schob ich mich auf dem Rücken unter den Laster und befestigte die Gürtel paarweise an den zahlreichen verdreckten Stangen, die ich dort vorfand. Zwei weiter vorne und noch sechs andere im Abstand von etwa einem halben Meter dahinter. Die Gürtel schloß ich jeweils am äußersten Loch, so dass sie große Schlaufen bildeten. Nun folgte der wirklich komplizierte Teil. Als erstes schob ich meine Beine durch die beiden hintersten Gürtelschlaufen. Es war eine ziemliche Verrenkung nötig, um sie so zu befestigen, dass sie letztendlich ein Stück über dem Fußgelenk eng am Fahrzeugboden anlagen. Ich musste feststellen, dass es recht unangenehm ist, wenn die Füße einen knappen halben Meter über dem Erdboden hängen und man sich mit den blanken Ellenbogen auf einem zerschrundenen geteerten Boden abstützen musste. Wenn ich meine Körperspannung ein wenig verringerte, bog sich mir der Rücken durch. Nicht nur deshalb beeilte ich mich, die beiden nächsten Schlaufen zusammenzuführen, mich hindurchzuwinden und schließlich meine Hüfte auf die gleiche Weise fest zu zurren. Mit den nächsten beiden Schlaufen verfuhr ich genauso, nur dass ich meinen Brustkorb darin befestigte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es fast sechs war. Ich glaubte, dass der Tag eines Bauarbeiters recht früh begann. Und ich war längst in einer Situation, aus der ich mich nicht wieder würde herausreden können. Der Morgen dämmerte und die Sonne stand gerade so tief, dass sie mich sogar unter diesem Fahrzeug blendete.
Es war an der Zeit, den Magnethut aufzusetzen. Fast hätte ich es vergessen und das hätte wohl ziemlich unangenehme Konsequenzen gehabt. Den Magnethut hatte ich mir selber gebastelt. Auch dabei war ein Gürtel zum Einsatz gekommen. Wenn die Leute wüssten, dass man sich mit Gürteln nicht nur gürten sondern noch tausend andere Sachen damit machen kann! Den Gürtel hatte ich ein wenig gekürzt und in der Mitte einen starken Magneten aus einem Lautsprecher befestigt. Nun schnallte ich mir diese simple, aber nötige Konstruktion stramm um und schloss den Gürtel an meinem linken Ohr. Unter dem Kinn hätte das Metall des Verschlusses nur fürchterlich gedrückt, da dort der ganze Zug lasten würde. Der Magnet befand sich danach an meinem Hinterkopf. So gesehen war die Bezeichnung "Magnethut" vielleicht nicht ganz richtig, aber mir fiel keine bessere ein. Den Sack, in dem ich die Gürtel transportiert hatte, stopfte ich mir in die Hosentasche. Es wurde noch einmal richtig anstrengend, als ich mich mit dem rechten Arm abstützte und den linken in die dafür vorgesehene Gürtelschlaufe steckte und diese festzog. Danach steckte ich den rechten Arm in seine Schlaufe und zog den Gürtel mit den Zähnen zu. Es kostete mich einiges an Nerven und Kraft, so lange mit dem Arm herum zu ruckeln, bis der Stift der Gürtelschnalle durch ein Loch rutschte.
Erleichtert hob ich den Kopf ein bisschen, der Nacken tat mir weh. Auf einer Strecke von zwei Zentimetern wurde mein Kopf urplötzlich hochgerissen und blieb mit einem satten Klack! am Fahrzeugboden kleben. Ich erschrak ein wenig, begriff dann aber, dass ich ja den Magnethut aufhatte, der offensichtlich hervorragend funktionierte.
Erschöpft aber zufrieden hing ich eine Weile einfach da. Ich beobachtete, wie sich der morgendliche Dunst langsam lichtete. Ich betrachtete meine Umgebung genauer. Vorher hatte ich mir nie Gedanken gemacht, wie so ein Laster eigentlich von unten aussah. Links von mir befand sich die Kardanwelle, die, das wusste ich immerhin schon, bei den meisten Lastern freilag. Sie war beängstigend nah. Trotzdem war ich sicher, dass ich sie selbst dann nicht berühren könnte, wenn ich es ernsthaft versuchte. Der Boden des Lasters war, wie nicht anders zu erwarten, verdreckt und ölig. Es gab eine Menge Stangen und Ausbeulungen hier unten, deren Zweck oder Ursache ich nicht verstand. Im Licht der tiefstehenden Sonne warfen sie harte Schatten aufeinander. Es gab nur Licht und Schatten und harte Konturen. Es roch nach altem Öl und trockener Erde.
Ich stellte fest, dass ich meine derzeitige Situation genoss. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie waagerecht festgezurrt irgendwo herumgehangen. Es war nicht vergleichbar mit dem Liegen in einer Hängematte, dort lag man erstens andersherum und zweitens wurde man am ganzen Körper abgestützt. Meine Gürtel stützten mich hingegen nur an den wichtigsten Stellen ab, aber das genügte. Nach einer Weile nahm ich sie nicht mehr bewusst wahr. Die Arme hatte ich weit von mir gestreckt festgebunden, vielleicht der einzige Abstrich an Bequemlichkeit. Ich konnte sie aus Platzmangel nicht rechtwinklig angewinkelt festbinden, mit den Händen rechts und links etwas von meinem Kopf. Aber immerhin, wenn ich jetzt die Fäuste ballte und entschlossen nach vorn blickte, sah ich aus wie Superman im Flug.
Schrittgeräusche dicht neben mir rissen mich aus meinen Träumereien. Die ersten Arbeiter waren schon da. Weiter hinten auf dem Parkplatz sah ich, wie ein Bagger langsam auf die Ladefläche eines Transportfahrzeuges fuhr.
"Uwe! Gleich ist Abflug!", rief ein Mann, der direkt neben dem Laster stand. Die Enden seiner Hosenbeine waren mit hellbrauner Erde beschmutzt.
"Kleinen Moment noch! Kannst den Wagen schon mal warmlaufen lassen!", rief ein anderer Mann zurück.
Der erste Mann setzte sich in den Kipplaster, ließ den Motor jedoch aus. Ich selber hielt auch nichts davon, Wagen warmlaufen zu lassen. Dass dies etwas bringen sollte, hielt ich für einen modernen Aberglauben.
Kurze Zeit später kam der andere Mann zügig angelaufen. Er schloss gerade den linken Knopf seiner blauen Latzhose an seiner Brust, was ich aus seinen Bewegungen zu erkennen glaubte, da ich ihn nicht vollständig sehen konnte, dazu war er schon zu nah. Tatsächlich konnte ich relativ viel von meiner Position aus sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Der Lastwagen zitterte ein wenig, als der Mann in die Fahrerkabine sprang. Er hatte wohl Übung darin. Ich glaube nicht, dass man das Zittern des Fahrzeugs von außen gesehen hätte, aber durch meine enge Verbindung mit ihm spürte ich jede Schwingung.
Es gab ein heftiges Rumpeln, als der Motor ansprang. Als er sich im Leerlauf befand, ruckelte er immer noch ziemlich heftig und war sehr laut. Mir hätten sicher bald alle Knochen wehgetan, wäre der Wagen nicht gleich losgefahren. Es war toll, die Beschleunigung zu fühlen und gleichzeitig sicher angegurtet zu sein. Ich kam mir ein wenig vor wie in der Achterbahn. Auch wenn der Laster auf dem Parkplatz sicher noch nicht schnell fuhr, kam mir die Geschwindigkeit schon berauschend vor, weil mein Gesicht nicht weit vom Boden entfernt war. Einzelne Details des Untergrundes konnte ich schon gar nicht mehr ausmachen, sie verschwommen zu Streifen. Der plötzliche Gedanke, dass ich nicht sehen konnte, was auf mich zukam, gab mir einen unangenehmen Adrenalinstoß. Ich war kein Adrenalinjunkie. Wenn ich den Kopf so weit in den Nacken legte, wie es gerade ging, konnte ich die vordere Stoßstange sehen, die ein Stück unter den Fahrzeugboden reichte. Von der Strecke, die vor dem Laster lag, konnte ich kaum einen Meter sehen. Es konnte alles Mögliche auf mich zugerast kommen und ich würde es kaum wahrnehmen können, bis es mich treffen würde.
Als schien eine höhere Macht mir eben diesen Gedanken bestätigen zu wollen, spürte ich einen Schlag. Wir waren gerade über die Schwelle gefahren, die das Gelände des Bauunternehmens von der Straße abtrennte. In einem Bogen näherten sich mir seitlich die kurzen Streifen der Mittellinie der Fahrbahn. In Wirklichkeit bewegte ich mich natürlich in einem Bogen auf sie zu, als der Laster rechts abbog, aber ich empfand das nicht so. Es ist fast so, wie wenn man während einer Zugfahrt aus dem Fenster schaut und die anderen Gleise in der Nähe eines Bahnhofs sich dem Zug zu nähern oder sich zu entfernen schienen. Manchmal vereinigten sich zwei Gleise zu einem, um sich kurz darauf wieder aufzuspalten. Ich habe dieses Schauspiel schon immer gemocht, und auch jetzt - auf die Straße übertragen - faszinierte es mich. Die Fahrt beschleunigte nochmals, zwischen dem Einlegen der Gänge konnte ich deutlich hören und spüren, wie der Motor immer höher drehte, bis er beim nächsten Gang wieder ruhiger lief. Während der Fahrt lief der Motor auch wesentlich ruhiger als im Leerlauf. Ich kannte dieses Phänomen von meinem eigenen Wagen, doch ich kannte mich mit KFZ nicht aus und konnte es mir nicht erklären. Dabei war es eine alltägliche Sache in meinem Leben gewesen und trotzdem verstand ich es nicht und hatte es auch nie hinterfragt. Auf manche Dinge muss man wirklich erst mit der Nase gestoßen werden. Wir fuhren noch durch die Ortschaft, doch das Geschwindigkeitsgefühl war bereits enorm. Ich verspürte dauernd den Zwang, die Augen zuzukneifen, weil ich tatsächlich intuitiv jeden Moment einen Gegenstand auf der Fahrbahn erwartete, der mir entgegenschlug. Vielleicht einen großen eisernen Haken, der in die Straße eingelassen war und mir das Gesicht vom Schädel reißen würde wie einen Lappen. Natürlich war die Vorstellung unsinnig.
Höchstwahrscheinlich würde gar nichts auf der Straße liegen. Ich kannte den Straßenverlauf in der Ortschaft, und wusste schon kurz vorher Bescheid, bevor wir ihr Ende erreichten und die Landstraße begann. Es war unbeschreiblich. Der Fahrer drückte ordentlich aufs Gas und die Beschleunigung schien mein Körpergewicht zu verdoppeln. Ich konnte einen Jauchzer nicht unterdrücken. Natürlich konnten ihn die Fahrer nicht hören, da hätte ich noch so laut schreien können.
Es war fast, als würde ich fliegen.
Ich fühlte mich unheimlich frei.
Ich stieß einen lauten Brüller aus.
Und ich war Superman.
Neben mir rasten die hohen Grashalme am Straßenrand vorbei. In kurzen Abständen aufeinander folgten die schwarzweißen Begrenzungspfähle. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie weit sie vorschriftsmäßig auseinanderstanden. Dadurch würde ich meine Geschwindigkeit bestimmen können. Sie musste ungefähr bei hundert Stundenkilometern liegen, schätzte ich schließlich. Wie hätte es auch anders sein sollen, viel langsamer als Hundert fuhr auf der Landstraße niemand. Urplötzlich änderte sich die Szenerie links von mir in eine Aneinanderreihung von Bäumen, die an mir vorrüberrasten. Genauso plötzlich verschwanden sie wieder, und machten der gewohnten Böschung Platz. Dahinter ging es recht steil runter, vermutete ich. Eine Leitplanke tauchte schnell wie eine Schlange aus dem Boden auf und raste eine Weile an mir vorbei. Sie sah bei der Geschwindigkeit wie ein völlig glattes Band aus. Ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um sie zu berühren. Tatsächlich spürte ich irrsinnigerweise einen Moment den Drang, genau dies zu tun. Ich hätte mir die Hand wohl bis auf die Knochen abgeschrabbt, aber in diesem Moment, an diesem Ort hatte ich das Gefühl, alles tun zu können. Die Leitplanke verschwand blitzschnell wieder in dem Boden, aus dem sie geboren war. Ich versuchte, einigermaßen nach vorn zu sehen, musste die Augen dabei aber halb zukneifen. Der Fahrtwind war beachtlich und hätte sicher sehr heftig an meinen Kleidern gezerrt, wenn ich nicht darauf geachtet hätte, enganliegende Kleidung auszuwählen. Die Schminke auf meinem Gesicht fühlte sich mittlerweile recht spröde und ausgetrocknet an. Sie war wohl nicht für so hohe Geschwindigkeiten ausgelegt. Das hätte der Hersteller auf die Packung schreiben müssen, dann hätte ich vielleicht doch Schuhcreme gewählt.
"Hey, du!"
Ich erstarrte innerlich.
Woher kam diese Stimme?
Ich sah mich um so gut es ging, doch ich konnte niemanden entdecken.
"Links von dir, du Blindschleiche! Hinter der Kardanwelle!"
Vorsichtig sah ich nach links. Ich drehte mich nicht gern zu der Kardanwelle. Sie war ein Ungetüm aus Stahl, das sich beängstigend schnell drehte. Doch hinter der Kardanwelle sah ich nichts. Nur Schatten, die sich allerdings leicht zu bewegen schienen...
"Ich sehe nichts!", rief ich zurück.
"Vielleicht, weil ich genauso getarnt bin wie du!", kam die Antwort. Es klang nach einer Mädchenstimme.
"Wer bist du?"
"Mein Name ist Karya Kassandra. Mehr verrat ich nicht."
"Wie kommst du dazu, dich unter diesen Kipplaster zu hängen?", wollte ich wissen.
"Er erschien mir am geeignetsten."
Da musste ich ihr zustimmen. Auch ich hatte ein paar Tage zuvor die Laster untersucht und mich schließlich für diesen entschieden.
"Sag mal, hast du meinen Bruder gekannt?", fragte sie mich.
"Wieso? Nein, ich glaube nicht. Wie heißt er denn?"
"Er hieß Koros."
Ich hatte ein ungutes Gefühl.
"Warum sprichst du von ihm in der Vergangenheit?", fragte ich geradeheraus.
"Weil er tot ist. Ich dachte, du kanntest ihn vielleicht, weil er sich auch mal unter einen Laster gebunden hatte. Einmal."
"Was ist passiert?"
"Er hatte zu weite Sachen an. Er war wohl auch zu nah an der Kardanwelle."
Ich schluckte. Ich brauchte nicht weiter zu fragen, was passiert war.
Mir war schlecht. Zwischen der Kardanwelle und dem Bodenblech darüber waren keine zehn Zentimeter Platz. Eigentlich war es kaum vorstellbar, dass dort ein Mensch durchgedreht werden konnte.
"Wann war das?", fragte ich.
"Vor fast einem Monat. An diesem Laster."
Auf letztere Information hätte ich gerne verzichtet. Ich glaubte plötzlich, zwischem dem Öl und dem Dreck den Geruch alten Blutes wahrzunehmen. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. Ich sagte nichts mehr.
"Keine Sorge" beruhigte sie mich nach einem kurzen Schweigen, "ich habe ihn nie persönlich gekannt. Ich habe erst nach seinem Tod von ihm erfahren."
"Warst du überrascht von den Umständen seines Todes?", fragte ich.
"Überrascht? Nein, eher amüsiert."
Ich schwieg ein wenig verwirrt.
"Wie sollte ich überrascht sein, er war für mich nur ein weiterer Verrückter der sein vorzeitiges Ende fand. Ab und zu liest man so etwas in der Zeitung.", erklärte sie.
Sie fand es also verrückt, sich unter Lastwagen zu binden. Außerdem schien sie ziemlich gefühllos zu sein.
"Findest du es verrückt, sich unter Lastwagen zu binden?", hakte ich nach.
"Nein. Verrückt ist, wenn man weite Kleidung dabei anzieht und unnötige Risiken eingeht."
"Trauerst du nicht um ihn?"
Die Frage schien sie überrascht zu haben, denn es dauerte einen Moment, bis sie antwortete:
"Ich kannte ihn nicht. Genauso wenig wie all die anderen Menschen, die täglich sterben. Würde ich um ihn trauern, müsste ich um alle trauern. Meine Verwandtschaft zu ihm kann ich zu keinem Kriterium machen. Das wäre falsch."
Ich dachte kurz über ihre Worte nach und gab ihr recht. Der Knoten in meinem Magen löste sich auf und ich fühlte mich wieder besser. Eine Weile hingen wir still nebeneinander und schossen im Tiefflug über die Landstraße. Keiner von uns sagte ein Wort, aber wir wussten beide, dass der jeweils andere jetzt ein wenig Ruhe brauchte, um zu genießen. Ich hob den Kopf und sah nach vorn. Mit den zusammengekniffenen Augen und den vom Fahrtwind streng zurückgestrichenen Haaren kam ich mir vor wie ein Windhund. Als ich genug davon hatte, entspannte ich mich und ließ meinen Kopf nur von dem Magnethut halten. Ich sah nun direkt auf die Straße. Doch ich sah sie undeutlich, weil ich auch meine Augen entspannte und nicht scharf stellte. In meinem Gesichtsfeld herrschte schwarzgraue Bewegung, die immer mehr verschwamm und sich schließlich auflöste, als ich in einen Halbschlaf glitt.

Ich sah mich selber noch einmal, wie ich im Morgennebel über das Parkgelände hastete. Geschmeidig wie ein Ninja sprang ich die letzten Meter zum Kipplaster und hockte mich hin.
"Wir mögen keine Ninjas", vernahm ich plötzlich eine krächzende Stimme. Ich fuhr zusammen und sah mich um. Neben mir stand eine riesige, dicke Kardanwelle, die sich metallene Arme in die Hüften stemmte.
"Hey, Kardanjungs, seht euch mal den hier an!", rief sie in den Nebel.
Schwankend traten einige Gestalten aus dem Dunst und nahmen Form an. Es waren Kardanwellen aller Größen. Schweigend und drohend gruppierten sie sich um mich und nahmen mir jede Möglichkeit zur Flucht.
"Gefällt er euch, hä?", fragte die erste Kardanwelle die Gruppe. Sie war wohl der Anführer.
Buhrufe und Pfiffe erschallten als Antwort.
"Verpiss dich, Kleiner", rief einer aus der Menge.
"Ja! Mach dass du fortkommst!", schrie ein anderer.
"Das ist unser Revier!", drohte jemand von hinten.
Ich schrumpfte ein Stück. Selbst durch die ordentlich aufgetragene schwarze Schminke traten mir schon die ersten Schweißperlen.
"Tja", meldete sich wieder der Anführer, "du gefällst ihnen wohl nicht. Wir sind die Kardanwellengang und wir mögen überhaupt kein Fleisch. Weißt du, was wir mit Fleisch machen?", fragte er mit leiser drohender Stimme.
Es gab böses Gelächter.
Ich war kurz davor, einen verzweifelten Fluchtversuch zu wagen. Irgendwoher wusste ich, was sie mit Fleisch machten.
Der Anführer stellte sich vor mich und fing an, sich zu drehen. Immer schneller und schneller.
"Wie heißt du eigentlich?", erscholl eine Stimme hinter ihm.
Ich wachte auf.

Neben mir drehte sich rasend die Kardanwelle. Dahinter hing Karya.
Karya Kassandra. Kardan Kassaray. Mein Schweiß wurde im Fahrtwind eiskalt.
"Hey, ich hab dich was gefragt! Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt!"
"Ralf." Was für ein simpler Name.
"Toll, jetzt können wir uns richtig unterhalten!", freute sich Karya.
"Hm." Ich fand langsam wieder in die normale Realität zurück, in der ich einfach nur unter einem Laster hing.
"Sieh mal her!"
Ich wandte den Blick nach rechts zu Karya. Wenn ich den Kopf senkte und zur Seite sah, konnte ich unter der Kardanwelle hindurchsehen. Zwei Augen tauchten aus der Schwärze auf. Dann ein Stück Haut. Und noch eines. Karya entfernte mit einer Hand die spröde Schminke von ihrem Gesicht. Das war nicht so riskant, wie es aussah, auch sie hatte sich zusätzlich im Schulterbereich befestigt. Die entfernten Schminksplitter wurden vom Fahrtwind sofort weggerissen und verschwanden irgendwo weit hinter uns. Einige prallten vorher noch an Unebenheiten des Fahrzeugbodens oder gerieten kurz in Luftwirbel. Sie warf die Schminke ab wie ein Baum die Blätter im Herbst. Bald sah ich ein Gesicht, zu dem ich sprechen konnte. Es war scharf geschnitten, aber nicht unweiblich. Sie hatte grüne Augen und langes schwarzes Haar, das allerdings streng zurückgekämmt in ihrem Hemdkragen verschwand.
"Warum habe ich die ganze Zeit deine Augen nicht gesehen?", fragte ich sie.
"Tja, ich war eben konsequent", sagte sie und hielt mit ihrer freien Hand lächelnd ein halb durchsichtiges Band hoch. Ich vermutete, dass sie es aus einer Nylonstrumpfhose geschnitten hatte.
"Hoppla", sagte sie mit künstlicher Überraschung und ließ das Band los. Es verschwand blitzartig. Kurz darauf verzog sie das Gesicht.
"Was ist?", fragte ich.
"Es ist unter den Hinterreifen gekommen. Ich wollte zusehen, wie es davonflattert."
"Schade."
"Könntest du deine Schminke auch entfernen?"
Ich tat es. Die schwarzen Blätter verloren sich im Wind.
Karya sah mich listig aus ihren grünen Augen an.
"Falls ich dich mal in der Stadt treffen sollte, würde ich dich wiedererkennen. Würde dich das stören?", fragte sie.
"Nein, ich schätze nicht."
Es wäre nichts Schlimmes daran. Ich könnte mir sogar vorstellen, mit ihr in ein Café zu gehen.
"So etwas Schönes wie das hier hab ich noch nie erlebt", sagte sie.
"Ja, es ist einzigartig. Wie Motorradfahren, nur viel schneller."
"Zumindest viel intensiver. Es ist wie Fliegen. Aber nicht wie gemächliches Dahingleiten, sondern wie ein Flug mit einer Rakete."
"Nächstes mal ziehe ich mir aber eine Schutzbrille auf."
"Das werde ich auch machen. Aber vergiss nicht, eine Nylonstrumpfhose darüber zu ziehen, sonst könntest du auffallen. Pass auf!"
Zuerst dachte ich, ihre letzten beiden Worte bezögen sich auf meine mögliche Entdeckung. Dann aber sah ich, wie sie in einer Bauchtasche herumwühlte und einen Luftschlangenring hervorholte. Ich musste mir eingestehen, dass sie sich weit besser vorbereitet hatte als ich.
"Sieh her! Jetzt!"
Sie hielt den Luftschlangenring mit der Öffnung parallel zum Luftstrom unter ihren Bauch. Es entwickelte sich ein wunderbarer, graziler Strahl von wirbelnden Farben. Unsere Münder standen vor Faszination offen. Es war nicht die erste Luftschlange, die ich sah, aber in diesem Moment kam es mir so vor und ich wurde wieder zu einem Kind, das vor Freude lachte. Ihr erging es offenbar genauso, auch sie brach in Gelächter aus.
Als wir uns wieder beruhigt hatten, begann sie wieder, in der Bauchtasche zu wühlen. Sie zauberte ein gelbes Windrad hervor. Kaum hatte sie dies getan, als es sich auch schon irrsinnig schnell zu drehen begann. Es war nur noch ein Schemen, eine blasse Sonne. Wir waren sofort gebannt von diesem Anblick, doch ein lautes Knacken kündigte schon den Untergang unserer Sonne an. Es folgte ein zweites Knacken, dann ein Knall, ein Aufschrei von Karya, sie ließ das zerfetzte Windrad fallen. Ein drittes Knacken, als der Holzstiel unter dem Hinterreifen zersplitterte.
"Es hat mir in die Hand geschnitten, als es kaputt ging. Hast du gesehen, wie schnell es sich gedreht hat?"
"Ja."
"Puh. Darauf muss ich erst mal eine rauchen!"
Sie kramte eine Zigarette hervor und klemmte sie sich zwischen die Lippen. Dann nahm sie ein Streichholz und bewegte es langsam zur Straße hinab. In dem Moment, wo der Streichholzkopf die Straße berührte, flammte er auf. Blitzschnell führte sie ihn zur Zigarette, drückte ihn hinein und zog heftig. Sie brachte es tatsächlich fertig, die Zigarette anzuzünden.
"Wow", brachte ich hervor.
"Der Trick ist", erläuterte sie zwischen zwei genüßlichen Zügen, "das Streichholz an die Zigarette zu drücken, solange der Schwefel noch brennt. Der geht im Fahrtwind nämlich nicht aus."
"Ist es nicht ein wenig gefährlich, solche leicht entzündlichen Streichhölzer mit sich herumzutragen? Wo hast du die eigentlich her?"
"Von 'nem russischen Freund. Und ja, es ist gefährlich, sie mit sich herumzutragen."
Damit war das Thema für sie erledigt. Obwohl ich es für so gefährlich auch nicht hielt.
Sie hielt den Kopf seitlich, wenn sie den Rauch ausatmete, damit er ihr nicht in die Augen geriet. Eine zeitlang rauchte sie still und ich sah der Umgebung auf meiner Seite des Lasters zu, wie sie an mir vorbeiflog. Der Fahrtwind sorgte dafür, dass die Zigarette äußerst schnell abbrannte, und als ich kurz in ihre Richtung sah, stellte ich fest, dass sie sich bereits eine zweite angezündet hatte. Oder die dritte. Was spielten Zahlen und Zeit noch für eine Rolle? Ich war Nichtraucher, aber auf meine Weise genoss ich die Luft wie sie den Rauch. Als ich nochmals in ihre Richtung sah, schnippte sie gerade einen Zigarettenstummel weg und sah nachdenklich nach vorn. Es gab einen dumpfen Schlag und gleichzeitig stieß sie einen letzten Rauchstreifen aus ihrem blutbespritzten Gesicht.
"Oh Scheiße!", fluchte ich. "Karya! Was ist passiert?"
"Wir haben ein Tier überfahren."
Sie fuhr sich mit der Zunge um den Mund und schnitt damit ein weißes Oval in die blutbespritzte Fläche.
"Es war wohl ein Fuchs", stellte sie fest.
Unglaublich.
"Das hast du am Geschmack des Blutes erkannt?", fragte ich erstaunt.
"Nein, ich hab ihn kurz gesehen."
Irgendwie erleichterte mich das.
Das Blut trocknete schnell auf meiner Haut und ließ sie sich unnatürlich straff anfühlen. Mühsam befreite ich eine Hand aus ihrer Schlaufe und kratzte es mir ab. Dabei war ich froh über meine Handschuhe, ich hätte das Zeug nicht gern unter den Nägeln gehabt, vielleicht-
"Was wenn der Fuchs Tollwut hatte?", fragte ich sie erschrocken, "du hast sein Blut geschluckt."
"So kann man sich bestimmt nicht infizieren."
"Wenn du meinst."
"Und wenn schon."
"Ich mach mir Sorgen um dich. Du bindest dich unter Kipplaster, trinkst Fuchsblut, und du hast einen russischen Freund, der dir unsichere Streichhölzer gibt."
Sie lachte trocken.
Das getrocknete Blut in ihrem Gesicht bildete einen schönen Kontrast zu ihren grünen Augen. Dazu noch ihre fast weiße Haut... grün, weiß, rot...
"Sag mal, bist du Italienerin?", fragte ich unvermittelt.
"Nein, aber mein Vater ist Ire. Wie kommst du darauf?"
"Nur so ein Gefühl."
Ich sah wieder nach unten auf die Straße.
Mir kam der Gedanke, dass diese Aktion nichts für Klaustrophobiker wäre. Der Platz war wirklich knapp bemessen. Allerhöchstens 30 Zentimeter unter meiner Nasenspitze raste die Fahrbahn wie das Schmirgelpapier eines Bandschleifers entlang. Karyas Bauchtasche schwebte nur knapp darüber. Und trotz dieser Enge fühlte ich mich frei.
"Ich glaube, es wird Zeit für mich zu gehen. Wir sind gleich am Ziel.", bemerkte Karya im Plauderton.
"Du willst gehen? Und wie willst du das anstellen? Du hast doch nicht etwa vergessen, dass wir-...", ich stockte, als ich ihre Knie sich der Straße nähern sah. Sie hatte Rollschuhe daran befestigt.
"Bist du des Wahnsinns?!", rief ich ungläubig.
"Nein, ich bin nur am Ziel, wie gesagt."
Inzwischen hatte sie die Knierollschuhe schon auf die Straße gelassen und die kleinen Räder drehten sich mit irrsinniger Geschwindigkeit. Ich stellte fest, dass sie sich nicht mit Gürteln, sondern mit Karabinerhaken aufgehängt hatte, die sie nun nacheinander geschickt löste. Schließlich öffnete sie die letzten beiden Haken und hielt sich nur noch mit einer Hand am Fahrzeugboden fest. Mit der freien Hand holte sie einen weiteren Rollschuh aus einer von mir nicht einsehbaren Vertiefung und schob die Hand hinein. Dann stieß sie sich nach rechts ab und nahm dabei blitzschnell einen weiteren Rollschuh mit der linken Hand, den sie geschickt anzog, während sie auf beiden Knien und dem Handrollschuh balancierte.
"Tschüssi!", rief sie mir noch zu.
Sie verlor etwas an Geschwindigkeit und geriet hinter den Laster. Wenn die Lastwagenfahrer jetzt in den Rückspiegel sähen, würden sie ihren Augen nicht trauen. Ich ließ den Kopf hängen und sah unter mir durch. In der Ferne rollte sie wie ein großer Hund auf allen vieren.
Ich flog weiter.

 

Moin moin...


Also, ich habe es ehrlich gesagt noch nie erlebt, daß eine Geschichte mit so wenig Handlung mich so gefesselt hat. Das soll keine Kritik sein, eher ein allumfassendes Lob. Normalerweise könnte man die Handlung Deiner Geschichte einfach mit einem Satz zusammenfassen (mache ich nicht, da ich weiß, daß viele Leute erst die Kritiken und dann die Geschichten lesen). Aber Du hast da eine wunderschöne Geschichte draus gemacht. Äußerst beeindruckend, wirklich...

Kritisieren möchte ich sie nicht, nur zwei Sachen.
Die Anmerkung am Anfang finde ich ein wenig unpassend. Generell finde ich solche Sachen nicht so toll, wenn ein Autor seinem Leser vorschreibt, wie der seine Geschichte zu lesen hat. Du hast natürlich vollkommen recht, man muß sich drauf einlassen, aber ich denke mal, das merkt man spätestens nach der ersten Seite.


Und diese eine Stelle hier ist ein wenig unrealistisch:

"Könntest du deine Schminke auch entfernen?"
Ich tat es. Die schwarzen Bläter verloren sich im Wind

Zumal Dein Protagonist angebunden war und erst später in Text steht, daß er seine Hände löst.

Ansonsten habe ich gar nichts zu meckern. Diese Geschichte hat ihren Weg in die Wirklichkeit in meinem Kopf gefunden. Das schaffen die wenigsten.


Auch ich mache jetzt noch eine Anmerkung. Dies ist mein hundertster Kommentar gewesen (mal wieder), aber das soll nicht weiter interessieren, ich wollte es nur mal anmerken.

Ein beeindruckter GNOEBEL (der in jeder Suppe ein Haar sucht)

 

Hi, Gnoebel!

Also, ich habe es ehrlich gesagt noch nie erlebt, daß eine Geschichte mit so wenig Handlung mich so gefesselt hat. Das soll keine Kritik sein, eher ein allumfassendes Lob. Normalerweise könnte man die Handlung Deiner Geschichte einfach mit einem Satz zusammenfassen (mache ich nicht, da ich weiß, daß viele Leute erst die Kritiken und dann die Geschichten lesen). Aber Du hast da eine wunderschöne Geschichte draus gemacht.

Und das ist genau, das, was ich wollte! :)
Mag sein, dass man die Handlung kurz zusammenfassen könnte, aber mir ging es um das "Feeling". Darum, zum Träumen zu verleiten. Das Unwirkliche wirklich erscheinen zu lassen. Das Einfache schön wirken zu lassen. Ich weiß natürlich nicht im Detail, was ich bei dir erreicht habe. Aber so ungefähr hat 's wohl hingehauen. :)
Und dass du so etwas noch nie erlebt hast... freut mich, dir eine neue Erfahrung beschert zu haben!

Also gut, die Anmerkung entferne ich.
Die Stelle, die du zitiert hast, seh ich mir noch mal an. Wobei mir ein Tippfehler aufgefallen ist, der im Original nicht vorhanden ist. Warum machste das nicht mit Kopieren und Einfügen (STRG-C, STRG-V)?

Es ist sehr schön für einen Autor, wenn seine Geschichte verstanden wird.

Ein fröhlicher Leif

 

Hey, wo ist die Anmerkung? Die hat den Text doch erst so richtig gemütlich gemacht?

Entschuldige, wollte Dich nur verunsichern. Schön, wenn ein Kritiker so schnell Feedback bekommt.

Gut, daß wir uns verstehen... Hach, diese Harmonie... schön...


Mit dem Rechtschreibfehler hast Du mich erwischt. Normalerweise mache ich das auch so, aber irgendwie hat das nicht richtig funktioniert. Ich schiebe ab jetzt alle meine Fehler rigoros auf das neue Layout, welches ich aber trotzdem nicht übel finde. (Nicht, daß ich Ärger mit Mirko kriege) ;)

So, ich mach jetzt Mittag

 

Hallo Leif!

Auch mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Sie war irgendwie rafiniert geschrieben und ich fand toll, wie detailgenau du die doch eher eigenartigen Verhaltensweisen des Protagonisten beschrieben hast (z. B. das Anbringen der Gürtel).
Faszinierend, wie man auf so eine inhaltliche abstrakte Idee kommen und damit auch noch fünf Seiten füllen kann.
Dennoch hätte ich mir noch ein paar Erklärungen gewünscht. Welcher Sinn steckt hinter das Verhalten der beiden? Wohin geht die Fahrt?
Oder war bloß der "Kick", der Adrenalinstoß, den man dadurch hat, ausschlaggebend?
Jedenfalls finde ich die Geschichte sowohl inhaltlich als auch sprachlich sehr gelungen. Weiter so!

Viele Grüße, Michael

 

Hallo Leif,

mir hat die Geschichte insgesamt auch gut gefallen. Ich muss aber auch gestehen, dass ich im Mittelteil manchmal Probleme hatte, konzentriert bei der Sache zu bleiben, weil ich wohl etwas erwartet habe, was dann nicht kam.

Die Geschichte ist aber so flott und flüssig geschrieben, dass ich dann doch bis zum Ende am Ball geblieben bin, auch wenn irgendwann klar war, dass eigentlich nichts "Weltbewegendes" mehr geschieht.

Gruß

Christian

 

Ich kritisiere dann mal die Kritiken. ;)

@Michael

Dennoch hätte ich mir noch ein paar Erklärungen gewünscht. Welcher Sinn steckt hinter das Verhalten der beiden? Wohin geht die Fahrt?

Das war nicht Zweck der Sache. Der Leser sollte sich schon fragen, warum die beiden das machen, aber aus Gründen der Seltsamkeit löse ich das nicht. Ich hab mir sogar einen Spaß draus gemacht, die Protagonisten selber immer ausweichend über das Theam denken/reden zu lassen.

Es folgen signifikante Stellen:

"Wie kommst du dazu, dich unter diesen Kipplaster zu hängen?", wollte ich wissen.
"Er erschien mir am geeignetsten."
Da musste ich ihr zustimmen. Auch ich hatte ein paar Tage zuvor die Laster untersucht und mich schließlich für diesen entschieden.

"Wie sollte ich überrascht sein, er war für mich nur ein weiterer Verrückter der sein vorzeitiges Ende fand. Ab und zu liest man so etwas in der Zeitung.", erklärte sie.
Sie fand es also verrückt, sich unter Lastwagen zu binden. Außerdem schien sie ziemlich gefühllos zu sein.
"Findest du es verrückt, sich unter Lastwagen zu binden?", hakte ich nach.
"Nein. Verrückt ist, wenn man weite Kleidung dabei anzieht und unnötige Risiken eingeht."

"Falls ich dich mal in der Stadt treffen sollte, würde ich dich wiedererkennen. Würde dich das stören?", fragte sie.
"Nein, ich schätze nicht."

Hier soll man sich fragen, ob die beiden ihre Aktion für illegal halten.

"Ich mach mir Sorgen um dich. Du bindest dich unter Kipplaster, trinkst Fuchsblut, und du hast einen russischen Freund, der dir unsichere Streichhölzer gibt."

Sieht er es wirklich als gefährlich an, sich unter Kipplaster zu binden? Oder scherzt er nur?

es gibt noch andere solche Stellen, die ich aber nicht mehr aufzählen will.

Jedenfalls finde ich die Geschichte sowohl inhaltlich als auch sprachlich sehr gelungen. Weiter so!

Danke. Ich werde bestimmt so weiter machen, ich kann nicht anders! :D

Und nun zu dir, criss:

Ich muss aber auch gestehen, dass ich im Mittelteil manchmal Probleme hatte, konzentriert bei der Sache zu bleiben, weil ich wohl etwas erwartet habe, was dann nicht kam.

Mich würde interessieren, was du erwartet hast. Gab es da eine konkrete Sache? Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, dass die beiden sich verlieben und sich durch die Kardanwelle die Hand reichen und dadurch wirklich vollkommen vereinigt werden.

Die Geschichte ist aber so flott und flüssig geschrieben, dass ich dann doch bis zum Ende am Ball geblieben bin, auch wenn irgendwann klar war, dass eigentlich nichts "Weltbewegendes" mehr geschieht.

Angenehm. Gut, dass es sich für dich doch gelohnt hat. :)

 

Hallo Leif!

Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, dass die beiden sich verlieben und sich durch die Kardanwelle die Hand reichen und dadurch wirklich vollkommen vereinigt werden.

Hm... !?

Nö, das hatte ich nicht erwartet. Wäre aber vielleicht ein schönes Happy End geworden?? Bei der Länge der Geschichte war ich wohl darauf eingestellt, dass es nicht "nur" ums Lastersurfen geht. Dass diese "Erwartung" nicht erfüllt wurde, macht aber nix. Deine Intention war halt eine andere.

Christian

 

Hallo Leif,

eine der coolsten und phantasievollsten Geschichten, die ich hier gelesen habe. Ich konnte mir alles sehr gut vorstellen, auch das Superman-feeling. Du hast es geschafft, immer noch einen drauf zu setzen. Ich war mindestens genauso überrascht, wie dein Erzähler, als plötzlich Karya auftauchte. Geschickt, zunächst nur mit der Stimme zu arbeiten. Dachte zuerst, sie käme aus dem LKW, so nach dem Motto, dass die Begleitperson des Fahrers ihn beim Anschnallen beobachtet hatte.

Das Gespräch zwischen den beiden hast du sehr gut erfunden, natürliche Dialoge, immer wieder eine Überraschung: der tote, fremde Bruder über den sie nicht trauern kann; sein Fehler zu weite Klamotten angezogen zu haben; die plötzliche Erkenntnis deines Erzählers, wie gefährlich die Kardanwelle ist. Leise Andeutung von möglicher Liebesgeschichte. Sehr poetisch, der Luftschlangenring. Und als letztes Feuerwerk, die Rollschuhe.

Wirklich beneidenswert Deine Phantasie!

Das einzige, was mich störte, war der zu lang geratene Traum über die Kardanwelle. Er war zwar lustig, aber hat durch seine Länge zu sehr vom Geschehen abgelenkt.

Gut fand ich auch deine Fahrbahn-Vergleiche mit dem Bandschleifer. Das fand ich ziemlich anschaulich.

Die Fuchsepisode fand ich auch gut. Ich hatte schon die ganze Zeit darauf gewartet, dass der LKW über irgendetwas Unangenehmes fährt, wobei ich allerdings nicht an ein überfahrenes Tier gedacht hätte. Das war schon ziemlich ekelhaft, aber glaubhaft beschrieben, auch die Angst vor dem tollwutinfiziertem Blut.

Stil.
Mir gefallen die sehr präzisen, authentisch wirkenden Beschreibungen. Auch die sehr natürlichen Dialoge. Manchmal schreibst du mir aber zu "anstrengend", zu umständlich. Ich war mir zunächst nicht sicher, ob ich Lust hatte, die Geschichte zu Ende zu lesen. Dann hattest du mich aber am Wickel, und ich hätte sie nicht mehr weglegen wollen.

Ein Beispiel. Vielleicht verstehst du dann besser, was ich meine:

Es war kurz nach fünf Uhr morgens. Ich schlich durch das kühle Halbdunkel des beginnenden Tages über den großen Parkplatz des Bauunternehmens. Hinter mir ragten die kahlen Wände großer Lagerhallen auf, schlicht wie Pappschachteln und sicher nicht viel massiver. Es roch ein wenig nach dem taufeuchten Teer des Platzes. Dunst hing in der Luft, den ich einatmete. Er verursachte ein leichtes Kratzen im Hals.

Der Anfang ist nicht schlecht, klingt - in meinen Ohren - aber teilweise zu umständlich.
> z.B. "Dunst, den ich einatmete."
> oder "fünf Uhr Morgens", darauf das redundante "beginnenden Tages".
> was soll sonst geteert sein, wenn nicht der Platz?! Platz würde ich deshalb streichen.

Sieh´s als Denkanstoss:
>
Es war kurz nach fünf Uhr morgens. Ich schlich durch das kühle Halbdunkel über den großen Parkplatz des Bauunternehmens. Hinter mir ragten die kahlen Wände großer Lagerhallen auf, schlicht wie Pappschachteln und sicher nicht viel massiver. Es roch ein wenig nach taufeuchtem Teer. Dunst hing in der Luft. Beim Einatmen verursachte er ein leichtes Kratzen im Hals.

Fazit:
lesenswert, sehr außergewöhnlich. :thumbsup:

Pe

 

Was für Kritiken! Dass ich das noch erleben darf!
Danke!

 

So, jetzt finde ich die Zeit, etwas genauer und chronologisch auf eure Kritiken einzugehen.

@Bo:
Naja, viel kritisiert hast du ja nicht :D.
Freut mich, dass es dir gefallen hat.

@Petdays:
Ja, eine Liebesgeschichte "liegt in der Luft", ist aber nicht explizit eingebunden. Die einzige Stelle, an der der Protagonist Gefühle für Karya zeigt, ist:

"Ich mach mir Sorgen um dich. Du bindest dich unter Kipplaster, trinkst Fuchsblut, und du hast einen russischen Freund, der dir unsichere Streichhölzer gibt."

Weiter vorne denkt er etwas in der Richtung:

Ich könnte mir sogar vorstellen, mit ihr in ein Café zu gehen.

Ich denke, das eigentliche Gefühl einer sich anbahnenden Liebe entsteht durch die Romantik, die gerade im gemeinsamen Erleben einer solch außergewöhnlichen Situation und der Freiheit liegt. Die bereits vorher in der Story als eher gefühllos beschriebene Karya haut am Ende jedoch einfach ab, ohne irgendwelche Kontaktmöglichkeiten zu nennen. Die beiden werden sich höchstwahrscheinlich nie wiedersehen.

Das einzige, was mich störte, war der zu lang geratene Traum über die Kardanwelle.

Der hätte m. E. auch ruhig länger sein können.

Manchmal schreibst du mir aber zu "anstrengend", zu umständlich.

Die Stellen, die du zitierst, finde ich so in Ordnung. Das mit dem "Teer des Platzes" würde ich aber evtl. auch weglassen. Ich dachte mir, es wäre vielleicht etwas intensiver und anschaulicher, wenn ich vom "kühlen Halbdunkel des beginnenden Tages" schreibe.

-------------------------------------------

Ich bin die Story und Kritiken noch einmal durchgegangen.
Dabei ist mir folgendes aufgefallen:

@gnoebel:

Also, ich habe es ehrlich gesagt noch nie erlebt, daß eine Geschichte mit so wenig Handlung mich so gefesselt hat.

Ist das eine Anspielung auf den Titel? :D

@Michael:

Oder war bloß der "Kick", der Adrenalinstoß, den man dadurch hat, ausschlaggebend?

Ich habe zwar schon erläutert, dass die Motivation von Ralf (Protagonist) und Karya rätselhaft bleiben soll, aber hierzu passt sehr gut folgende Stelle aus der Story:

Der plötzliche Gedanke, dass ich nicht sehen konnte, was auf mich zukam, gab mir einen unangenehmen Adrenalinstoß. Ich war kein Adrenalinjunkie.

Warum macht er das also?
Man kann es nur so erklären: weil er die Freiheit hat, es zu tun. Deshalb macht Karya das auch.
Ok, jetzt hab ich es verraten. :) Aber das soll sich der Leser eigentlich selber denken, in der Story werfe ich die Frage nach der Motivation absichtlich öfters auf (siehe mein 2. Posting).

Noch was:

Das getrocknete Blut in ihrem Gesicht bildete einen schönen Kontrast zu ihren grünen Augen. Dazu noch ihre fast weiße Haut... grün, weiß, rot...
"Sag mal, bist du Italienerin?", fragte ich unvermittelt.
"Nein, aber mein Vater ist Ire. Wie kommst du darauf?"

Hat jemand dabei eigentlich an die italienische und irische Flagge gedacht, und daran, dass Iren häufig grüne Augen haben?

So das wars, die Zeit rennt mir wieder davon. Und ich muss noch den nächsten Laster nach Fulda erwischen. ;)

 

Hey, dein Beitrag ist noch ganz frisch! Der Titel passt meiner Meinung nach. Oder wie wäre es mit "Lastwagen"? ;)
Klar ist der Titel nicht psychedelisch, schließlich handelt die Story von einer durchaus realistischen Aktion. Der Titel "Surfen mit den Kardanjungs" klingt cool, aber gibt das wesentliche der Story nicht wieder. Die Würfel sind gefallen.

 

Ich find "Surfen mit den Kardanjungs" auch am besten, obwohl ja nur ein Exemplar in der Geschichte vorkommt.

 

Oh, jetzt, wo ich mal nach Jahren eine Inventur meiner Stories mache, fällt mir doch tatsächlich ein knallharter Sachfehler auf.
Mit der Änderung einer Richtungsangabe wäre er fast behoben, aber das zieht weitere Konsequenzen nach sich. :(

Außerdem glaube ich, dass das meine Lieblingsgeschichte von mir ist. Hatte vorher etwas von Haruki Murakami gelesen und finde, dass meine Dialoge ein ähnliches Feeling haben. :)
Und ich würde das sooo gern auch mal erleben! :D

Ist noch jemandem der Sachfehler aufgefallen?

 

Hallo Leif,

Deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Sie gehört zu den wenigen, die nicht vor Action und Handlung nur so strotzen und doch nicht langweilig sind. Die Action findet meiner Meinung nach im Inneren des Protagonisten statt und kommt über starke Gefühle zum Ausdruck. Ein wahres Wechselbad der Gefühle.
Was mir auch sehr gefallen hat, sind die lebensnahen Dialoge und wie sie den Figuren passend in den Mund gelegt worden sind.
Der eine oder andere wird vielleicht sagen, dass die Geschichte etwas zu sehr gestreckt worden ist; ich denke aber, dass das Mitfühlen mit der Hauptfigur, gar das Hineinfühlen wohl Dein Hauptanliegen ist. Und das ist Dir ziemlich gut gelungen. Ich jedenfalls habe schon lange nicht mehr eine so "langweilige" ;-) und trotzdem hochspannende Geschichte gelesen. Nur weiter so!!

Gruß Johannes.

 

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