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Geisterstadt

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24.06.2001
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Geisterstadt

Es regnet Steine, wenn ich mich vor die Haustür wage. Felsbrocken stürzen auf mich nieder, sobald der Himmel mein Antlitz erkennt, als wäre ich ihm feind. "Bin ich dir feind, Himmel?" frage ich ihn Nacht für Nacht. Doch er spricht nicht mit mir. Die Wölfe heulen in der Dunkelheit und kauern beisammen und fürchten sich. "So antworte mir doch!" Stille -
selbst die Wölfe sind verstummt. Ich scheine es nicht wert zu sein, eine Antwort zu bekommen. Ein Antwort auf all die Fragen, die mich nicht loslassen, die Löcher in meine Träume hineinfressen und alles verbrennen, was mir früher einmal wichtig gewesen ist.
Doch was sind schon Träume? Ich kann sie sehen, wenn ich genug Mut aufgebracht habe, hinauszutreten in den Sturm. Dann erkenne ich Leute, die wegschauen, die mich mustern als wäre ich ein Tier, Leute, die sich umdrehen und erstaunt mit dem Finger auf mich deuten, Leute, die die Köpfe zusammenstecken, wenn ich gehe. Sie kennen meinen Namen nicht. Wenn sie mich jemals kannten, so werden sie mich wieder aus ihrem Gedächntnis verbannt haben- aus Angst. Regenschirme helfen nicht gegen Sturzbäche von Steinen. Sie fürchten sich: davor, dass alles gleichbleiben und davor, dass sich etwas ändern könnte. Ich schwebe über ihren Köpfen, wenn ich an ihnen vorüberschreite. Lange schon gehöre ich nicht mehr zu ihnen. Verstoßen, verdrängt, gelöscht aus dem Gewissen. Ich erinnere sie daran, dass sie böse sind, weil sie sind, wie sie sind. Mütter, die mir entgegenkommen, nehmen ihre Kinder an die Hand. Vielleicht trifft einer der Blitze, die Zeus gegen mich aussendet, auch einmal sie. Die Stadt ist marode. So sehr, dass ich fürchte, ich könnte sie zum Einsturz bringen, wenn ich zu fest auftrete. Alles zittert. In der Nacht ist die Stadt dunkel und kalt wie ein steinerner Riese, damit sie nicht von den schwarzen Götter heimgesucht wird, wenn diese vorüberflattern und ihre grellen Blicke über die nächtlichen Umrisse der Stadt gleiten lassen. Nur vereinzelt lodern Flammen aus den Mülltonnen, während die Stadt im Regen ertrinkt. Und Schatten tanzen drum herum und springen und schwinden, wenn die Feuer ersterben. Ratten flüchten aus ihren Verschlägen. Es ist bereits zu spät. Die Flüche bleiben ungehört, weil der wütende Wind zu laut pfeift, als wollte er dem Elend eine Stimme geben. Die Straßen rinnen durch tote Fassaden und Blicke rauschen auf ihnen hinweg, um einen Ausweg zu finden. Doch sie finden ihn nicht. Sie finden ihn nie. Schwarze Flaggen wehen zerfetzt am Straßenrand. Rettung? Nein. Wir sollen weiter leiden. Der Himmel bricht über uns herein und splittert wie die Mauern, die über unsern Köpfen thronen. Und während ich in leeren Blicken wie in der Zeitung lese, rasselt die Straßenbahn durch den kalten Regen und verschwimmt zuletzt noch mit dem Rest der Welt. Bis auch sie verschwindet und das Auge nichts mehr sieht als den Regenschleier. Wenn alles wieder still ist kehren die Geister zurück in ihre Stadt und zerren an den leeren Häusern, um sich letzte Erinnerungen mitzunehmen, dorthin wo sie jetzt hausen und darauf warten, dass die Nacht hereinbricht über die Stadt. Denn es ist ihre Stadt. Man kann ihre Stimmen hören, wenn sie in das Heulen des Sturmes einstimmen. Und wenn man noch Gefühle hat, ist man bewegt. Sie wandeln weiter durch die Gassen bis zum Morgengrauen. Denn sie sind allein. Am Tage müssen sie vergehen, schon warte ich auf sie und auf die nächste Nacht. Und schaue hinauf zum Himmel, wo die Götter dieser Welt auch mich und dich bewegen. Im Wissen, dass dies niemals enden wird.

 

Die wievielte das ist? Hm, sorry, keine Ahnung. Ich habe irgendwann mal aufgehört sie zu zählen... Ich weiß auch nicht ob die Story wirklich "ankommen" soll, denn mittlerweile finde ich sie selbst nicht mehr so gut. Sie ist noch aus meiner "Jugendzeit"... :D

Toby

 

Düstere Atmosphäre, philosophischer Inhalt ... ich denke die Geschichte passt in beide Kategorien, sowohl in diese als auch in die von No One Lives Forever vorgeschlagene.
Liest sich sehr gut, doch muss man sich zuweilen sehr konzentrieren, um nicht den Überblick zu verlieren. Kein Happen für zwischendurch, aber ein - wenn auch etwas kurzer - Ausflug in die Welt des Übersinnlichen.

Einziger Kritikpunkt: Die Spannung leidet unter dem philosophischen Stil. Nichts desto trotz eine gelungene Geschichte. <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">

 

Was gelungen ist, sind viele der Bilder und Wortspiele. Diese lassen sich gut lesen und lassen Bilder entstehen, so daß die Stadt bei Nacht voller Bewegung ist; Schatten, Feuer und rauschende Götter, wow! :eek:

Zwei Sachen haben mich gestört:

1.: Die Geschichte ist sehr abstrakt gehalten. Das ist allgemein kein Fehler, hat mich aber beim Lesen etwas verwirrt.
z.B.

Vielleicht trifft einer der Blitze, die Zeus gegen mich aussendet, auch einmal sie.
Spielt das in Griechenland? Das antike kann es nicht sein, weil da ja auch irgendwo ne Straßenbahn war.

2.: DIE ABSÄTZE! Ich weiß nicht, ob Du mit Absicht keine einbaust (ist mir schon bei "Im Wald" aufgefallen), aber das schreckt viel, glaube ich, ab.
Hier geht es, weil die Geschichte nicht so lang ist, aber wenn ein Satz nach dem anderen auf einen losdrischt, dann kann es manchmal auch ganz schön schwer sein, dem Inhalt zu folgen.

Na ja, nur n Tip...

 

Hallo Toby,

auch das ein guter Text, ein Stück Prosa, das durch seine Stärke beeindruckt. Manchmal fühlt man sich an die Sprache der expressionistischen Lyriker erinnert. "es regnete Steine", oder "Felsbrocken stürzen auf mich nieder", oder "Fragen, die Löcher in meine Träume hineinfressen", oder "die Straßen rinnen durch tote Fassaden." Das sind stilistische Beispiele für die Sprache der Expressionisten. Natürlich kann man das auch gut auf Prosa übertragen. Die Handlung, in ihrer mächtigen Bildhaftigkeit symbolisch, spielt sich zwischen dem Ich, fast möchte ich sagen: dem lyrischen Ich, und den Geistern dieser seltsamen Stadt ab. "Während ich in leeren Blicken wie in einer Zeitung lese", mit diesem Satz bekommt das Erzähler-Ich die Bedeutung eines Sehers, eines Propheten. Und was er verkündet, ist wohl die Angst vor einer Katastrophe, die kommen wird. Auch darin ist der Text beinah expressionistisch. Nur eben, und das ist das Betrübliche an der Sache, ist die Botschaft der Expressionisten heute wieder auf erschreckende Weise aktuell. Die Vereinzelung des Menschen, der kommen sieht, was unausweichlich ist, zeigt sich an Reaktionen der andern: Leute, die sich umdrehen und erstaunt mit dem Finger auf mich deuten, oder Mütter, die ihre Kinder fester bei der Hand nehmen. Der Blitz des Zeus, die Steine vom Himmel, die Flammen aus den Mülltonnen, das alles lässt sich mit wenig Phantasie auf heutige Verhältnisse übertragen. "Die Geisterstadt" ist ein bedrückend aktueller Text.

Viele Grüße

Hans Werner

 

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