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Geld oder Leben
Er sah vom Bestellschein auf und horchte zur geöffneten Bürotür hinüber. Im Keller hatte doch gerade etwas gescheppert. Oder sollte er sich geirrt haben? Sie hatten die Kassen abgerechnet und das Geld in den Tresor eingeschlossen. Dann waren Petra und Hilde noch mal nach vorne in den Laden gegangen, um einige Verkaufstische mit Sonderangeboten für morgen vorzubereiten. Und Doris hatte sich schon verabschiedet. Nein, im Keller war wirklich niemand. Wahrscheinlich war das Geräusch aus dem Verkaufsraum gekommen.
Sein Blick fiel auf die Wanduhr. Schon 18 Uhr 45. Rasch stand er auf und ging die zwei Schritte bis zur Bürotür.
„Petra? – Wie weit seid ihr? – Höchste Zeit für Feierabend.“
Umgehend ertönte die Antwort aus dem vorderen Teil des Supermarktes.
„Sind schon fertig, Chef. – Ich muß nur noch schnell etwas in den Keller bringen.“
Wenige Augenblicke später erschien Petra mit einem Karton unter dem Arm im Anlieferungsbereich. Ihr folgte Hilde. Sie trug ein Herren-Portemonnaie in der linken Hand. Während Petra die Kellertreppe hinabeilte, stieg Hilde die wenigen Stufen zum Büro hinauf.
„Irgendein Kunde hat mal wieder was liegen lassen.“ Hilde streckte ihm die Geldbörse entgegen. „Sind nur zwei Mark und ein paar Pfennige drin. Aber natürlich kein Name und keine Adresse.“
„Du weißt doch, wo die Kiste steht.“
Er blätterte weiter in den Bestellungen. Hilde zog den großen Karton mit der Aufschrift „Fundsachen“ aus dem Schrank und legte das Portemonnaie hinein. Bevor sie die Kiste wieder zurückschob, schweifte ihr Blick über den Inhalt – Portemonnaies, Kugelschreiber, Taschenmesser, Mützen, Handschuhe und Einkaufsbeutel.
„Was die Leute alles im Laden liegen lassen …!“
Plötzlich erklang von unten ein Schrei. Hilde zuckte zusammen.
„Was war das?“
„Wahrscheinlich hat Petra wieder mal eine Maus im Keller gesehen.“
Er wandte sich erneut den Papieren zu. Da hallten Schritte auf der Kellertreppe und eine Männerstimme dröhnte:
„Weiter. Aber versuch’ nicht wegzulaufen.“
Er hob den Kopf und sah zur Tür.
„Chef! Hilfe!“
„Halt die Klappe!“
Er sprang zur Bürotür, dann die Stufen hinab. Hilde folgte ihm. Gerade kam Petra die Kellertreppe herauf, dicht hinter ihr ein Mann, eine schwarze Maske über dem Kopf und eine Pistole in der rechten Hand.
Als der Unbekannte sie sah, blieb er stehen und richtete die Waffe auf sie:
„Halt! Alle da rüber in die Ecke. Los!“
Der Mann schob sie vorwärts, sprang dann nochmal einige Schritte zurück und sah sich um. Die Sturmhaube rutschte ihm über die Augen und er rückte sie mit der linken Hand wieder zurecht.
„Wo ist das Geld? Da oben im Büro?“
Der Maskierte trat näher an ihn heran und richtete die Pistole auf ihn.
„Nein. Dort den Gang entlang und um die Ecke im Arbeitsraum steht der Tresor.“
„Tresor?“
„Ja. Gewöhnlich schließt man größere Geldsummen in Tresoren ein.“
„Und … und ihr habt sogar hier in diesem kleinen Supermarkt einen Tresor?“
„Na klar. Jeder Supermarkt hat einen Tresor.“
Der Unbekannte sah ihn unbeweglich an und die Hand mit der Pistole sank langsam nach unten. Plötzlich riss er die Waffe wieder hoch.
„Wie geht der Tresor auf? Du hast doch bestimmt einen Schlüssel.“, krächzte der Fremde.
Seine rechte Hand griff zur Hosentasche, doch da wurde ihm der Lauf der Pistole auf die Brust gedrückt.
„Stop! Was hast du vor?“
„Hier habe ich den Tresorschlüssel.“
Er deutete auf seine rechte Hosentasche. Der Bewaffnete trat einen Schritt zurück und wandte sich den beiden Frauen zu.
„Ihr beide bleibt hier stehen und rührt euch nicht vom Fleck. Ist das klar?“
Petra und Hilde nickten.
„Und du kommst mit mir zum Tresor. Vorwärts!“
Er ging den Gang entlang. Der Unbekannte folgte ihm mit der Pistole im Anschlag. Er bog um die Ecke, trat ins Arbeitszimmer und stand dann vor dem Geldschrank.
„Du machst jetzt den Tresor auf. Voran! Aber mach’ keine Dummheiten.“
Die Pistole wurde ihm noch einmal kräftig auf die Brust gedrückt, dann verschwand der Mann wieder im Gang. Er zog den Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloß den Tresor auf. Vom Flur her erklang die Stimme des Unbekannten:
„Rührt euch nicht von der Stelle.“
Als er die stählerne Tresortür aufzog, stand der Fremde schon wieder im Raum.
„Beeil Dich. Hol das Geld raus. Und hier rein damit. Wieviel ist das?“
„Weiß ich nicht genau. Aber es müßten etwa fünftausend D-Mark sein.“
„Was? Nicht mehr? Warum ist das nur so wenig? Ihr müßt doch heute viel mehr kassiert haben. Wo ist der Rest?“
„Wegen so Typen wie dir bringen wir nachmittags schon mal einen Teil des Geldes zur Bank.“
Er packte die gebündelten Geld-Scheine in die Tasche und sah dann zu dem Maskierten auf, der ihn abermals unbeweglich anstarrte.
„Die Wechselgeld-Rollen auch?“
„Was? … Ja. Natürlich.“
Der Unbekannte atmete schwer und folgte nun mit dem Lauf der Pistole jeder seiner Bewegungen, als er auch das Kleingeld im Plastikbeutel verstaute. Die letzten zwei Rollen mit Zehn-Pfennig-Stücken lagen noch im Tresor, als der Maskierte nach der Tasche griff und mit der Waffe zur Tür deutete.
„Los. Zurück zu den Frauen.“
Sie verließen den Arbeitsraum und der Fremde stieß ihn mit der Pistole durch den Gang vorwärts. Die beiden Frauen standen noch in der gleichen Ecke. Petras Atem ging kurz und heftig. Hilde stand halb hinter ihr und krallte die Finger ihrer rechten Hand um das linke Handgelenk.
„Wo kann ich euch denn hier einsperren? Gibt es einen abschließbaren Kellerraum?“
Die Mündung des Pistolenlaufs bewegte sich wieder auf ihn zu.
„Für die Kellerräume gibt es keine Schlüssel ...“
Der Fremde zupfte an seiner Maske.
„ … aber? Sag schon.“
„Dort der Lastenaufzug zum Keller kann von innen nicht bedient und auch nicht geöffnet werden.“
Der Unbekannte sah zur Fahrstuhltür und deutete dann mit der Waffe hinüber.
„Na los. Rein mit euch.“
Er ging zum Aufzug, drehte den Schlüssel, der in der Tür steckte, öffnete und betrat die Kabine. Hilde folgte ihm, während Petra von dem Fremden hinterher gestoßen wurde.
„Jetzt ist es mir aber bald zu dumm ...“
„Schnauze. Und weiter.“
Der Lauf wurde ihr fester in den Rücken gepresst. Sie stapfte voran. Der Maskierte schloß hinter ihnen die Aufzugtür, sah noch einmal durch das kleine eingebaute Fenster und zog am Türgriff. Dann drückte er auf den mit einem großen K gekennzeichneten Knopf.
Der Aufzug stoppte im Keller und Stille breitete sich aus. Eine Stille, die sie gefangen nahm, so wie sie im Fahrstuhl gefangen waren. Er nahm nicht wahr, daß die Reste einer geplatzten Kaffeepackung, die in einer Ecke der Fahrstuhlkabine lagen, einen leichten, herben Duft verbreiteten. Es dauerte einen langen Augenblick bis er die Stille durchbrach, an die Aufzugtür trat und durch die schmale Scheibe hinausschaute. Er sah gegenüber das vergitterte Kellerfenster, das ihm den Blick auf einen Teil des Parkplatzes, der hinter dem Geschäft lag, ermöglichte. Aber er bemerkte weder Menschen noch Fahrzeuge. Der Parkplatz war bereits leer. Nur sein roter VW Passat stand noch dort. Er sah auf seine Armbanduhr. 18 Uhr 56. Petra schob sich neben ihn und auch Hilde kam auf Zehenspitzen aus der Ecke des Aufzugs an die Scheibe heran.
„Wo ist er?“, wisperte sie.
„Ich glaube, der ist schon auf und davon.“
„Sicher?“
„Bestimmt. Der will doch seine reiche Beute in Sicherheit bringen.“
Seine Antwort verscheuchte die Stille endgültig.
Hilde atmete schnaufend ein und aus.
„Jetzt werden wir die ganze Nacht hier drin feststecken. Das ist ja furchtbar. Ich will raus. Ich will nach Hause. Was machen wir denn nur. Wir werden noch verhungern und verdursten. Das kann doch alles nicht wahr sein. …“
Er legte die Hand auf ihren Arm.
„Wir kommen hier raus. – Keine Bange.“
„Wie soll das denn gehen? Wir sind hier eingesperrt. Uns hört und sieht doch niemand.“
Er presste seine Schläfe an die Scheibe und sah durch das Fenster steil nach unten.
„Bei diesem Lastenaufzug stecken die Schlüssel außen in den Türen. Wir werden die Scheibe eintreten, dann können wir durch das Loch greifen und uns selbst öffnen.“
„Und sie glauben, das geht?“
Er glitt mit den Fingerspitzen am Rand der Scheibe entlang.
„Die Scheibe ist zwar ziemlich gut befestigt … aber wir werden es versuchen. – Haltet mich bitte fest. Hier an den Armen.“
Petra und Hilde hielten ihn rechts und links fest. Er beugte sich zurück und schnellte dann mit dem rechten Fuß nach oben. Der Knall dröhnte im Aufzugschacht und die Kabine zitterte.
„Da ist gar nichts passiert. Noch nicht mal ein Kratzer.“
Hilde drückte mit der Hand gegen die Scheibe.
„Also direkt noch mal.“
Er stand schon wieder bereit. Der zweite Tritt. Die Aufzugtür vibrierte. Ein erster kleiner Riß. Er holte erneut Schwung. Es krachte und ein Riß lief quer über die ganze Scheibe. Petra trat an das Fenster heran.
„Sieht gut aus. Ich glaube, gleich ha…“
Ihr Blick wurde starr und Ihre Mundwinkel sanken nach unten.
„Was ist los?“
Er schob Petra zur Seite.
„Der Schlüssel …“
„Was ist damit?“
Er spähte hinaus.
„Der Schlüssel … er liegt auf dem Boden.“
„Du hast recht. Der muß von der Erschütterung rausgefallen sein.“
Hilde drängte sich zwischen sie.
„Wirklich? Wie furchtbar. Nun werden wir doch die ganze Nacht hier festsitzen. Was machen wir denn jetzt? … Wieso gucken Sie denn ständig auf die Uhr?“
„In zehn Minuten wird unsere Rettungsaktion starten.“
„Wie bitte?“
Petra trat einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen, sodaß sich eine tiefe Furche über ihrer Nasenwurzel bildete.
„In 27 Jahren Ehe war ich immer pünktlich zu Hause oder habe rechtzeitig angerufen, wenn es später wurde. Wenn ich um zwanzig nach sieben nicht zu Hause bin, wird meine Frau hier anrufen. Jetzt ist es zehn nach sieben. Also noch zehn Minuten.“
Hilde fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare.
„Das ist ein schlechter Scherz. Dafür bin ich jetzt nicht in der richtigen Stimmung.“
„Das ist mein Ernst. Ihr werdet es erleben.“
Es war 19 Uhr 20 als oben im Büro das Telefon schellte. Petra sah Hilde an.
„Das Telefon. Er hat recht. Wer sollte sonst um die Zeit noch anrufen?“
Er lehnte an der Aufzugwand und lächelte.
„Wie gesagt … jetzt startet die Rettungsaktion.“
Hilde kratzte mit der Schuhspitze über einen Fleck auf dem Boden.
„Und was wird ihre Frau jetzt machen?“
„Weiß nicht genau. Vielleicht kommt sie vorbei und sieht nach. In einer guten Viertelstunde könnte sie hier sein.“
„Hoffen wir, daß sie sich beeilt.“
In Hildes Augen war etwas zu erkennen, etwas, das sich Bahn zu brechen suchte, so wie sich im Frühjahr ein erster grüner Halm durch den noch winterharten Boden kämpft.
Petra stand an der Tür und schaute durch die Scheibe zum Kellerfenster.
„Da! Seht mal! Das ist doch unsere Doris.“
Er trat ebenfalls an die Scheibe und Hilde folgte.
„Was macht die da? Was sucht die hier?“
„Aaahh. Meine Frau war noch besser als ich dachte.“
„Wie bitte? Was hat Doris mit Ihrer Frau zu tun?“
„Sie hat sich wohl daran erinnert, daß Doris direkt neben dem Laden wohnt. Sie hat sie angerufen und gebeten mal nachzusehen. Ganz einfach.“
Petra stand immer noch an der Scheibe.
„Sie geht weiter. Ich glaube sie will zum Hintereingang.“
„Na, dann los. Auf ‚drei’ rufen wir ‚Hilfe’. – Eins. Zwei. Drei. Hiiilfeee!“
Sie trommelten mit den Fäusten gegen die Aufzugtür.
„Nochmal. Eins. Zwei. Drei. Hiiiiilfeeeee!“
Petra starrte durch das gesplitterte Glas.
„Sie kommt ans Kellerfenster. – Doris! Hier sind wir! Hiiilfeee!“
Alle drei versuchten durch die schmale Scheibe nach draußen zu sehen.
„Ja, sie sieht herein. Ich glaube sie hat uns entdeckt.“
Petra keuchte.
„Sie zeigt an, daß sie telefonieren will.“
Hilde schloß die Augen und ihr Kopf sank auf ihre Brust herab.
Kurze Zeit später fuhren zwei Polizeiwagen vor. Die Beamten brachen die vordere Ladentür auf und ließen sich von Doris in den Keller zum Lastenaufzug führen.
„Der Schlüssel liegt da unten auf der Erde.“
Er deutete auf den Boden. Einer der Polizisten bückte sich, hob ihn auf und öffnete damit die Fahrstuhltür.
„Dann kommen Sie erstmal raus und mit nach oben.“
Der älteste der Beamten, ein Polizeihauptmeister, streckte Hilde die Hand entgegen.
„Kommen Sie. Es ist vorbei.“
Sie ließ sich von ihm hinausführen. Petra folgte und zuletzt verließ er die Kabine.
Während zwei Beamte das Geschäft durchsuchten – vielleicht hielt sich der Täter noch irgendwo versteckt –, wurden die aus dem Aufzug Befreiten von dem Polizeihauptmeister befragt. Tathergang und Täterbeschreibung standen bereits auf seinem Notizblock.
„Und was war das für eine Tasche, in die Sie das Geld packen mußten?“
„Eine einfache Plastiktüte mit unserem Firmenlogo drauf. Vielleicht hat er sich die sogar erst hier im Laden genommen.“, antwortete er und blickte auf, da in diesem Moment die beiden Polizisten von der Durchsuchung der Geschäftsräume zurückkehrten.
„So, alles kontrolliert. Es ist keiner mehr da. … Hoppla.“
Der Beamte stolperte und stützte sich an der Wand neben der Aufzugtür ab.
„Was liegt denn hier rum?“
„Schon wieder was für unsere Fundsachen-Kiste.“, murmelte Hilde und schlurfte auf die Plastiktasche zu.
„Nicht anfassen!“ Der Polizeihauptmeister hielt sie am Arm fest.
Einer der Polizisten zog ein Paar Gummihandschuhe aus seiner Jackentasche, streifte sie über und beugte sich zu der ‚Stolperfalle’ hinab.
„Ganz schön schwer die Einkaufstüte.“
Er öffnete den Beutel und die Beamten sahen hinein.
„Holla! Was haben wir denn hier? Die Tüte ist ja voll Geld! Das wird doch nicht etwa …?“
Der Polizeihauptmeister leerte den Beutel aus und legte das Geld auf den Schreibtisch.
„Bitte zählen Sie nach!“
Die Augen der Beamten folgten jeder seiner Handbewegungen, als er die Geldscheine bündelweise, dann die Münzrollen und schließlich das lose Hartgeld durchzählte. Auf seinem Notizblock reihten sich die Zwischensummen untereinander. Schließlich griff er zum Taschenrechner und tippte die Zahlen ein. Ein letzter Tastendruck auf das Gleichzeichen, dann blickte er vom Display auf und zum geöffneten Kassenbuch hinüber.
„Es stimmt genau. Das Geld ist vollzählig vorhanden.“
Eine Frage schwang durch den Raum, aber es dauerte eine endlose Minute bis sie einer der Beamten aussprach.
„Der Kerl hat wirklich die Tasche mit dem gesamten Raub liegen lassen? Einfach vergessen?“
Die Polizisten sahen einander an.
„Warum? Wie kann es sein, daß ein Räuber seine Beute einfach am Tatort vergißt?“
Der Polizeihauptmeister faßte sich ans rechte Ohrläppchen und sein Blick wanderte immer wieder zwischen dem Geld, der Einkaufstüte, den Überfallenen und seinen Kollegen hin und her. Plötzlich hob der Beamte, der über die Tasche gestolpert war, den Kopf.
„Wann, sagten Sie, wurden Sie in den Aufzug gesperrt?“
„Ein paar Minuten vor sieben Uhr.“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Polizisten.
„Etwa um diese Uhrzeit wurden wir zu einem Verkehrsunfall ganz in der Nähe gerufen. Als wir hier vorbeifuhren, haben wir an der Kreuzung das Martinshorn eingeschaltet. Er dachte wohl, dass jemand Alarm ausgelöst hat und wir seinetwegen kommen. Da hieß es für ihn nur noch: Geld oder Leben.“