Geliebte Elster
Cassidy löste das gelb schwarze Seil aus dem Karabienerhaken und sah sich um. Sie war wie geplant in dem großen Saal gelandet, in dem das riesige Dinosaurierskelett stand. Der gesamte Raum und auch die angrenzenden Räume waren dunkel. Nur der Schein von den Straßenlaternen fiel auf den Marmorboden.
Schon seit einer Woche kam sie täglich in das Museum am Central Park. Immer in einer anderen Verkleidung. Studentin, Geschäftsfrau, alte Dame mit einem Gehstock und sogar als Mann verkleidet. Aber sie blieb immer unerkannt. Gut, dachte Cassidy, so kann mich später keiner auf den Videobändern identifiezieren.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die hier herschende Dunkelheit und sie sah sich das Skelett genauer an. Jetzt im Dunkeln wirkte es sehr bedrohlich. Aber der arme Kerl war ja schon seit einer Ewigkeit tot.
Sie konzentrierte sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe. Während sie weiter ging griff sie in die Tasche ihrer schwarzen enganliegenden Jacke und förderte eine kleine Schachtel zutage. Auf der Deckelinnenseite waren mehrere schwarze Male zusehen, die davon zeugten das an der Stelle schon einiger Zigarretten ausgedrückt worden waren. Dann steckte sie sich die Zigarrette, die sie der Schachtel entnommen hat, an. Immer darauf bedacht keinen Lungenzug zumachen.
Vor dem nächsten Raum ging sie in die Knie und nahm einen kräftigen Zug des stinkenden Glimmstängel. Den blauen Dunst blies sie dann vor sich hin. Plötzlich kamen vor ihr dünne rote Lichtschranken, die waagerecht und diagonal verliefen, zum Vorschein. Sie nahm ihren schwarzen Rucksack, der sie schon seit ihrer ersten Tour immer begleitet, ab und legte sich flach auf den Boden. Dann kroch sie, den Rucksack vor sich herschiebend, unter den Lichtschranken hindurch. Erst nach ein paar Metern, als sie sicher war das Hindernis überstanden zu haben, stand sie wieder auf und schnallte sich ihren Glücksbringer wieder auf den Rücken.
Aus ihren vielen Besuchen in der letzten Woche wusste sie das sich in dem Raum, in dem sie sich gerade befand, die Schaufenster mit den Szenen aus der Steinzeit, befanden. Hier hatte sie nichts zu befürchten. Also machte sie sich weiter auf den Weg zu dem Objekt ihrer Begierde.
Am Ende des Raumes erwarteten sie wieder Lichtschranken, aber auch diese Hürde nahm sie mit Leichtigkeit. Cassidy holte die Blechschachtel wieder aus ihrer Tasche und öffnete sie. Dann drückte sie wie jedesmal die Zigarrette darin aus und legte den Stummel wieder hinein. Sie wusste das sie ihn nicht einfach so auf den Boden schmeißen konnte. Von dem Filter konnten sie ihre DNS nehmen und die damit überführen. Anhand der vielen Einbrüche im Laufe ihres erst 25jährigen Lebens konnten sie Cassidy für sehr viele Jahre wegsperren. Und das wollte sie auf keinen Fall. Ihre Freiheit war ihr wichtiger als alles ander.
Sie ging zu der Wand rechts von ihr. Eine Kamera war auf die Mitte des Raumes gerichtet. Das wusste sie von ihrem ersten Besuch, bei dem sie sich die Positionen aller Überwachungstkameras notiert hatte. An die Wand gedrückt schlich sie weiter. Als sie bei den großen Fenster ankam ging sie gebückt weiter, damit die Kamera nicht ihren Schatten, der auf den Boden fiel einfangen konnte. Als sie die Fenster passiert hatte richtete sie sich wieder auf und suchte das Bild, das sie sich als Makierung gemerkt hatte. Ab da konnte sie sich kamerafrei bewegen.
Dann kam sie in den nächsten Raum. Hier sollte sie finden was sie suchte.
Auf einem Sockel, der mit purpurnem Samt bespannt war, lag er.
"Fast zu einfach" überlegte Cassidy. Während der vorhergehenden Besuche in dem Museum konnte sie es nicht riskieren einen längeren und intensiveren Blick auf den hühnereigroßen Diamanten zuwerfen. Sie hätte damit sofort die Aufmerksamkeit eines der Wachmänner erregt und das war zugefährlich.
Aus Erfahrung wusste sie das der Stein noch eine andere Sicherung hatte. Aber das augenscheinlich nichts zusehen war konnte es sich nur um einen Mechanismus handeln, der das Gewicht des auf ihm liegenden Stein kontrollierte. Wie immer war sie darauf vorbereitet. Sie griff in ihren Rucksack und holte ein kleines Säckchen daraus. Sie sah nach oben um sicher zu gehen das der Stein nicht noch eine andere Sicherung hatte und trat dann näher heran. Aber sie konnte nichts erkennen. Das Kissen auf dem der Stein thronte war wirklich ein Kissen. Vorsichtig nahm Cassidy den Stein runter und legte zur Sicherheit das Säckchen an dessen Stelle. Natürlich hatte sie vorher dafür gesorgt das keine Fingerabdrücke von ihr auf dem Stoff des Sackes waren. Und die Erde hatte sie den Blumenkästen vor dem Museum entnommen. Gestern Nacht, als sie auf der Lauer lag und feststellen wollte wie oft ein Streifenwagen hier vorbei kam.
Bevor sie den Stein in ihre Tasche steckte betrachtete sie ihn noch einmal. Im Dunkel sah er nicht annähernd so prächtig aus wie bei Licht. Unter ihren Lederhandschuhen konnte sie die geschliffenen Kanten des Steines fühlen. Triumphierend warf sie ihn kurz in die Luft und ließ ihn dann in ihren Rucksack plumpsen. Dann wollte sie sich leise wieder aus dem Raum entfernen als sie wie erstarrt stehen blieb.
Ihr Bauch verkrampfte sich und sie merkte das ihr Herz zu zerspringen drohte. Sie konnte es nicht fassen ihn hier zusehen. Vor allem nicht nachdem sie ihm die K.O.-Tropfen gegeben hatte.
"Du hast wohl nicht mit mir gerechnet?" es klang mehr wie eine Feststellung als wie eine Frage.
"Je später der Abend..." sie musste sich furchtbar zusammenreißen um es so normal wie möglich klingen zulassen.
Verzweifelt suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit, denn sie wusste nicht was er mit ihr anstellen würde. Jetzt nachdem er wusste wer sie war.
Verwundert stellte sie fest das ihre Hände begonnen hatten zuzittern. Sie hoffte das er die Schwäche in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
"Warum musstest du das machen?" fragte er mit tiefer Stimme.
"Aus dem gleichen Grund aus dem du nun hier bist." erwiederte sie. Die Spannung zwischen den beiden stieg mit jeder Sekunde. Keiner von beiden wusste so recht was er als nächstes machen sollte.
Er kam näher. Nur einige Schritte und blieb im Schein der Straßenlaterne stehen. Sie konnte sehen das er wieder eine seiner Jeans trug und dazu ein Tanktop. Bei dem Anblick erinnerte sie sich sofort wieder an die beiden gemeinsam verbrachten Nächte in seiner Wohnung. Bei dem Gedanken daran das bald nicht mehr haben zukönnen verkrampfte sich ihr der Magen. Sie schluckte und hoffte damit den Schmerz in ihrer Brust mit runter schlucken zu können, aber der blieb hartnäckig. Genauso wie der, der ihn verursachte.
Erst jetzt bemerkte sie seine Dienstwaffe, die im Hosenbund steckte. Cassidy wusste das er sie nie gegen sie benutzen würde.
"Und was hast du jetzt vor?" fragte sie und versuchte mit aller Macht das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Er überlegte lange. Sie konnte ihm die Enttäuschung ansehen. Die Enttäuschung sich in Cassidy geirrt zuhaben. Sie konnte auch sehen das er hin und her gerissen war zwischen seiner Pflicht als Cop und der Liebe zu ihr. Wenn es überhaupt noch Liebe war. Bei dem Gedanken daran er würde sie nicht mehr lieben blieb ihr fast das Herz stehen. Sie schluckte abermals den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie wusste nicht was vernichtender war: gefasst und für eine Ewigkeit in den Knast zu gehen oder die Vorstellung von ihm nicht mehr geliebt zu werden.
Blödsinn, schaltete sich ihr Verstand wieder ein. Du kennst den Kerl erst seit vier Tagen, rügte sie sich selbst, der kann sich ummöglich in dich verliebt haben. Und selbst wenn, dachte Cassidy weiter, was sollte sie mit einem Klotz am Bein anfangen. Er stand zwischen ihr und dem Weg in die Freiheit und die ging ihr über alles.
"Wie bist du eigentlich hier reingekommen?" fragte sie ihn um etwas mehr Zeit zu gewinnen.
"Beziehungen." sagte er knapp.
"Du willst mich also festnehmen?" fragte sie kurzum. Sie begann zu schwitzen. Das war ihr nicht mehr passiert seit ihrem ersten Einbruch.
"Nein", sagte er. "Das würde zu viele Fragen bedeuten."
"Was wirst du dann mit mir machen, Carl?" sie schluckte wieder. "Die Belohnung mit mir teilen?" In ihrer Laufbahn waren ihr schon so viele korrupte Bullen begegnet das es schon fast selbstverständlich war für sie.
Sie sah ihm an dem zusammengeballten Fäusten an, das sie ihn mit der Annahme gekränkt hatte. Ihn, der nur für seinen Job als Polizist lebte.
"Ich werde dich gehen lassen."
Sie konnte sehen das ihm die Entscheidung nicht leicht fiel.
"Warum?" fragte sie obwohl sie die Antwort eigentlich schon wusste. Aber sie wollte sie unbedingt noch ein letztes Mal von ihm hören.
"Das fragst du noch?" schrie er. Der ganze Raum schien zu beben.
Statt zu erschrecken musste sie lächeln, aber sie machte schnell wieder ein ernstes Gesicht. Er sollte nichts merken. Langsam ging sie an ihm vorbei zu den Lichtschranken und kämpfte wie verbissen dagegen an ihn in den Arm zu nehmen und zuküssen. Wenigstens ein letztes Mal.
Cassidy hatte bereits ihren Rucksack abgenommen und sich vor die Lichtschranken gekniet, als sie noch einmal zurück sah zu ihm. Ihre Augen brannten wegen der Tränen in ihren Augen. Er hatte sich nicht nach ihr umgedreht.
Dann verschwand sie unter den roten dünnen Lichtschranken.
Zwei Wochen später saß sie am Strand. Einer wie sie ihn sich immer erträumt hatte. Auf Hawaii. Ihr Auftraggeber hatte sie großzügig Entlohnt und davon gönnte sie sich jetzt endlich den lang ersehnten Urlaub.
Plötzlich merkte sie ein komisches Gefühl in ihrem Bauch und ihr Herz schlug schneller. Eine zweite Sonnenliege wurde neben ihrer aufgebaut und dann wusste sie es. Er hatte ihre Nachricht auf seinem Anrufbeantworter von der netten alten Dame bekommen und war ihr nachgereist.