Generation Praktikum
Florence wollte Lehrerin werden.
Sie war in einem kleinen französischen Dorf, nahe der deutschen Grenze aufgewachsen und hatte schöne Erinnerungen an Schulferien mit den Eltern in Deutschland. Also wollte sie Deutsch-Lehrerin werden.
Die Hälfte des Studiums war nun um und ein zweiwöchiges Praktikum an einem deutschen Gymnasium war nicht mehr zu umgehen.
Lust und Zeit für großartige Vorbereitungsmaßnahmen hatte Florence nicht, aber was sollte schon schief gehen bei einem kurzen Aufenthalt im bekannten Deutschland.
Eine Unterkunft in einem vorübergehend leerstehenden Zimmer einer Wohngemeinschaft irgendwo im näheren oder weiteren Umkreis der Schule, deren Adresse sie noch nicht bekommen hatte, war bald gefunden und nun widmete sich weiter ihren Semesterferien und ließ alles andere auf sich zukommen.
Vor wenigen Wochen hatte Florence die Fahrprüfung bestanden, besaß auch schon seit einiger Zeit einen kleinen gebrauchten Renault Clio und war nun endlich stolze Eigentümerin des lange ersehnten roten A auf weißem Grund, das am Heck des blauen Kleinwagens prangte, um alle anderen Verkehrsteilnehmerin vor der Fahranfängerin zu warnen. Völlig unnötig, wie sie fand, aber dennoch symbolisierte das rote A ihren Aufstieg in die Gesellschaft des fahrenden Volkes und deshalb war sie sehr stolz darauf.
Die Semesterferien gingen zuende, das Praktikum im nahen Deutschland rückte näher und je näher es rückte, desto ferner erschien ihr Deutschland. Sie schob die Vorbereitungen endlos vor sich her und so schaffte sie es schließlich, am späten Sonntagnachmittag loszufahren. Montag morgens um halb acht Uhr sollte sie in der deutschen Schule sein.
Autobahnen sind eine Horrorvorstellung für die meisten Fahranfänger und Fahranfängerinnen und so entschied sich Florence, doch lieber die Landstraße zu nehmen. Und nun begann das große Abenteuer. Die so einfache Landstraße zog sich dahin, eine Kurve folgte der nächsten, musste doch zunächst einmal jenseits der französisch-deutschen Grenze der Schwarzwald durchquert werden. Nicht lange und sie konnte an der Autobahn nichts wirklich erschreckendes mehr finden. Aber nun war es zu spät. Kurve um Kurve fuhr sie durch eine an sich sehr schöne Landschaft, von der sie außer dem Asphalt vor sich so gut wie nichts wahr nahm. Es dämmerte langsam und bald schon wurde es in den engen Tälern dunkel. Täuschte sie sich, oder kamen ihr manche Kurven wirklich bekannt vor? Hatte sie die vorbeifliegenden Kirchtürme schon einmal gesehen? War sie nicht am Gasthof zum Wilden Hirsch schon dreimal vorbeigefahren? Nun, wahrscheinlich hießen die deutschen Gasthöfe alle gleich und die Kirchen waren alle im selben Stil erbaut. Aber standen da nicht immer wieder Menschen am Straßenrand, die sich erstaunt nach ihr umsahen? Hatte sie diese nicht auch bereits zwei- oder dreimal gesehen?
Um neun Uhr abends hatte sie ankommen wollen, spät genug, um sich noch um die Adresse der Schule und den Anfahrtsweg dorthin am anderen Morgen zu kümmern, das fiel ihr nun plötzlich auf. Und nun war es bereits nach zehn und die Kurven nahmen kein Ende und schon wieder war sie an einem Gasthof zum Wilden Hirsch vorbei gefahren und die kleine Frau im grauen Kostüm und dem auffallenden Hut, die auf einer Bank an der Bushaltestelle saß und ihr zuwinkte, hatte sie mit Sicherheit nun schon zum dritten Mal gesehen. Sie musste es sich eingestehen, sie hatte sich hoffnungslos verfahren. Sie würde es nicht mehr schaffen, bei Dunkelheit diese wilde Gegend zu durchqueren und wer wusste schon, was ihr im Lauf der Nacht dort noch alles begegnen würde. Und einen Schlüssel für ihre Unterkunft besaß sie auch nicht, am Ende würde sie dann mitten in der Nacht vor verschlossenen Türen stehen und müsste die Nacht im Freien oder im Auto verbringen. Nein, dann doch lieber zurück in heimatliche Gefilde. Frankreich fand ihr kleiner Clio sicher fast von selbst.
Und wirklich, nur noch einmal fuhr sie am Gasthof zum Wilden Hirsch und an der kleinen grauen Frau im großen Hut vorbei und bald schon überquerte sie die Grenze, diesmal in anderer Richtung.
Jetzt wollte sie nur noch in ihr Bett. Wie sie erklären sollte, dass sie am nächsten Morgen den abgemachten Ankunftstermin in der deutschen Schule nicht einhielt, das würde sie sich überlegen, wenn sie dann dort war. Falls sie überhaupt noch einmal in ihr Auto steigen würde, um die Reise ins ferne Deutschland erneut zu versuchen.
Im Traum fuhr sie Kurve, um Kurve, endlose Wälder mit wilden Hirschen und grauen Frauen erstreckten sich vor ihr. Kirchtürme, einer genau wie der andere, nur an einem von ihnen war ein großer Hut hängen geblieben, säumten die Straße und am schwarzen Himmel über dem Wald prangte ein großes rotes A auf weißem Grund.