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Georgs Geburtstag
Hatte er an alles gedacht? Der Seesack war bis oben hin voll. Immer wieder war er unschlüssig, zögernd. Er mußte sich zusammenreißen, stopfte noch einen Pullover hinein und verschloß ihn mühsam. Ölzeug und Schlafsack hatte er schon eingepackt, dazu Wäsche für einige Wochen. Einen Kurzwellenempfänger. Bücher. Ein Adressbuch mit Telefonnummern. Das Takelmesser. Es war schon nach Mitternacht; er spürte, daß er schlafen gehen sollte.
Dies war der letzte Abend vor der Reise – einem Segeltörn, der Georg für einige Wochen in die Ostsee führen sollte. Aus der engen Wohnung in Hannovers Univiertel, in die sich nur selten ein Sonnenstrahl verirrte, in die Weite, wo nur Himmel und Wasser auf die Sinne wirkten, wo das gleichmäßige Rauschen des Bootes in den Wellen ihn umfing, bis er eins wurde – mit den Wellen, dem Himmel, der Welt.
Bis dahin waren es noch eine Nacht und ein halber Tag Anreise, mit dem Bus zum Bahnhof, dann mit dem ICE nach Hamburg und weiter mit dem Regionalexpress nach Kiel. Dort lag, unweit des „Millionenbeckens“, wie die Kieler diesen Hafen nannten, wo vor dem feinsten Yachtclub die Reichen und die Schönen ihre Rennyachten ausstellten, sein Folkeboot. Es war ein kleines unauffälliges Segelboot aus Holz, wie sie zu hunderten im Ostseeraum gesegelt werden.
Georg rechnete: Eine Stunde für das Aufstehen und Frühstücken, eine Stunde für den Weg zum Bahnhof, eine Viertelstunde zur Sicherheit, falls er den Bus verpasste. Machte zweieinviertel Stunden. Der ICE fuhr um zehn Uhr sechsunddreißig. Georg stellte den Wecker auf viertel nach acht und ging in das Bad.
Georg dachte an seinen Segeltörn. Er zog es vor, es langsam angehen zu lassen. Die Schlei oder Fehmarn als erstes Ziel anzulaufen würde bedeuten, dass er gleich am ersten Tag in die Nacht segeln musste. Er hatte sich bei seinem Freund in Möltenort angekündigt und wurde zum Nachmittagskaffee erwartet. Möltenort lag ebenfalls in der Kieler Förde, eine Segelstunde in Richtung Ostsee. Bei gutem Wind könnte er gegen vier Uhr dort eintreffen. Dort übermorgen früh aufzubrechen, bedeutete bessere Startbedingungen: Er konnte es bei gutem Wind bis Dänemark schaffen. Während er die Zähne putzte, sendete der Deutschlandfunk den Seewetterbericht. Er versprach leichten, nachmittags auffrischenden Wind aus Südwest – ideal, um Kiel in Richtung Ostsee zu verlassen.
In der Nacht wachte Georg auf. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass etwas falsch war. Aber was? Hatte er etwas vergessen? Auch zweifelte er plötzlich an der Windvorhersage des Seewetterberichtes. Was wäre, wenn der Wind schwach bliebe und er erst abends in Möltenort ankäme? Den Nachmittagskaffee mit seinem Freund und dessen Familie wollte er sich nicht entgehen lassen. Er griff nach dem Wecker und stellte ihn eine Stunde vor. Es hatte etwas erlösendes; nun konnte er wieder schlafen.
Am nächsten Morgen trug Georg sein Gepäck, den schweren Seesack und eine Reisetasche, zur Bushaltestelle. Er schaffte es, wie nachts geplant den früheren Zug zu erreichen. Da er nicht mit dem gesamten Gepäck durch den Gang gehen konnte, ging er mit der Reisetasche vor, wählte einen Sitzplatz nahe dem Ausgang und holte den Seesack nach. Geschafft!
Im Zug hatte er ein anregendes Gespräch mit einem Passagier, der ihn wegen des Seesacks angesprochen hatte. Sie sprachen über das Segeln, diese intensive, völlig andere Art zu leben, zu sein.
Der Zug ratterte laut bei zweihundert Stundenkilometern. Unruhig zappelte er im Gleisbett; dabei war es noch lange nicht die Höchstgeschwindigkeit. Weite Landschaft zog vorbei, dann ein Ort, eine weiße Halle, eine Brücke, Siedlungshäuser, mit einem lauten Windstoß kam ein ICE entgegen – es war zehn Uhr, in einer Stunde käme der nächste ICE hier vorbei, würde ebenfalls genau hier dem entgegenkommenden Zug aus Hamburg begegnen. Ohne Georg, die Bewohner würden wieder den selben Lärm erleben, wie alle Stunde jahraus, jahrein.
In Hamburg stieg Georg in den Vorortszug um. Die schmutzigen Waggons mit dem Graffiti, den verdreckten Toiletten und dem lauten Gerappel ließ sich leicht hinnehmen, wenn er ihn zu einem Urlaub auf dem Meer führte. Die Fahrt in Deutschlands nördlichste Landeshauptstadt erinnerte auch heute noch an die Worte des Kaisers, der vor über einhundert Jahren hierher gereist war und zur Begrüßung nur gesagt hatte: „Lange nich in der Provinz jewesen.“ Genau dort wollte Georg nun hin, dann zum Boot, Gepäck verstauen, aufklaren, lossegeln…
Jürgen hatte sich früh vom Schreibtisch losgerissen, war die Uferstraße entlang gefahren und hatte während der Fahrt mit einem Blick in den Jachthafen gesehen, daß Georg schon unterwegs war; sein Boot lag nicht mehr an seinem Platz. Nun fuhr er, ausnahmsweise vor dem Feierabendverkehr, nach Hause. Dafür mußte er einmal um die Kieler Förde fahren, wo Georg gerade zu ihm segelte. Er dachte zurück an das letzte Segelabenteuer mit ihm: sie waren bei Windstärke neun aufgebrochen, ein bißchen in die Ostsee zu schnuppern – eigentlich Sturm, einige wenige Boote liefen ein, während sie beide mit Sturmfock und Trisegel hinausfuhren. Draußen erwartete sie eine See von zwei bis drei Metern; sie stampften gegenan, das Boot fiel geradezu in die Wellentäler, um dann von den Wellen wieder empor geworfen zu werden. Gewaltig wirkte das, schwer – aber auch ruhig und sicher. Sie fuhren reibungslos die Wendemanöver, das Boot nahm Gischt über, aber noch keine schwere See; es war alles im Griff. Erleben pur, sie strahlten sich an. Die „Germania VI“ lief ein, das hellgrüne Flaggschiff des Krupp-Konzerns, ebenfalls unter knapper Sturmbesegelung. Eine große moderne Yacht kam ihnen entgegen, sie surfte auf den Wellen und sprang fast in die Luft, wenn sie auf einem Wellenkamm stieg. Dabei wurde sie jedesmal in eine weiße Wolke aus Gischt eingehüllt. Jürgen schoß ein paar Fotos. So etwas gab es nur mit Georg zu erleben.
Im Autoradio hörte Jürgen von einem schweren Bahnunglück, aber man wußte noch nichts Genaues. Die Reporter kündigten an, sich wieder zu melden, wenn Einzelheiten bekannt werden. Zu Hause angekommen setzte Jürgen Teewasser auf und sah aus dem Küchenfenster nach Süden. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, der Himmel leuchtete in zartem Hellblau. Friedlicher, verheißungsvoller Frühsommer. Ein Boot fiel ihm auf, das mit achterlichem Wind geradenwegs auf den Möltenorter Hafen zu hielt: das könnte er sein. Ein Griff zum Fernglas, das bei ihm immer im Fenster steht: ja, er ist es. Höchste Zeit, die Sahne zu schlagen.
Wenig später stand Georg in der Tür, in weißen Turnschuhen und Hemd, in Urlaubslaune. Sie begrüßten sich herzlich; Jürgen entschuldigte sich: „Normalerweise mache ich nicht den Fernseher an, wenn Gäste im Haus sind. Aber da ist ein Bahnunglück passiert; ich möchte nur kurz reinschauen, was da los ist, dann können wir draußen auf der Terrasse Kuchen essen.“ „Okay, natürlich … macht mir nichts aus.“ Sie setzten sich, das Geflimmer verdichtete sich zu einem Bild, lange, weiß-rot gestreifte Streichhölzer lagen da wild kreuz und quer neben- und übereinander in der Landschaft, der Reporter saß offensichtlich in einem Hubschrauber, von dort konnte er anscheinend nur die Bilder kommentieren, erfuhr jedoch nichts von den Ermittlungen, von vielen Toten war die Rede, man sah eine eingestürzte Brücke, die mehrere Waggons unter sich begraben hatte. Schließlich zurück ins Studio: der Moderator berichtete, daß der ICE auf der Strecke von München nach Hamburg gewesen sei, daß er zehn Uhr sechsunddreißig Hannover verlassen hätte und um elf Uhr bei Eschede entgleist sei.
Georgs Gesicht wurde starr, fassungslos sah Georg Jürgen an: „Das ist mein Zug! Den hatte ich nehmen wollen! Ich habe mich erst nachts entschieden, doch einen Zug früher zu nehmen.“
„Na dann … herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Georg!“
Epilog: Beim Unglück in Eschede am 3. Juni 1998 starben 101 Menschen, 88 wurden schwer verletzt. Der entgegenkommende Zug aus Norden war zwei Minuten verspätet, sonst wäre er genau im Augenblick des Unglücks mit dem entgleisten Zug kollidiert. Georg starb 2008 beim Waldlauf an einem Herzinfarkt.