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Geradeaus
Der Golem bestand aus Masse, Wasser, und aus Zufälligkeit; denn er trug keine Liebe in sich, und so zerschmetterte er die Gegner derer, die er nicht liebte.
Auf dem jüdischen Friedhof herrschte Grabesstille.
"This is for you", sagte die alte Frau und reichte mir eine aus weißem Stoff gefertigte Kipa.
Ich nickte, setzte mir die Kopfbedeckung auf und drückte sie fest, damit sie im dichten Schneetreiben nicht weggeweht werden konnte.
"Thank you. I have a question."
Sie lächelte bis hoch zu den Gläsern, die in das schwere Brillengestell eingefasst waren. Mir schien es zumindest so.
Dann nahm sie eine Hand aus der Manteltasche und vollführte eine Bewegung, deren Sinn mir verschlossen blieb.
"The Kafka stone", flüsterte sie mit verschwörerischer, gleichzeitig belustigter Stimme.
"I am not the first one?"
Sie lachte.
"Surely not, but you are kindly. No American. German, I guess?"
Wieder nickte ich.
"Wir können ruhig in Deutsch zusammen sprechen. Englisch ist so abwesend. Wie ist der Name?"
"Markus", erwiderte ich, noch bevor die Antwort zuende gedacht war.
Die Frau griff nach dem Spaten, den sie vorhin zur Seite gelegt hatte, und schaufelte Schnee vom Gehweg auf.
"Es ist bei dem Grabviereck 21. Da ist der Stein. Die Amerikaner schicke ich immer zum Abschnitt 30, wo die Reichen begraben sind. Wissen Sie, da gibt es auch einen Kafka, aber das ist ein anderer."
Sie kicherte.
"Danke", sagte ich lapidar. Dann machte ich mich auf den Weg.
"Große Taten ziehen zwangsläufig nicht große Kathedralen hinter sich", rief mir die Frau nach.
Der schneebedeckte Weg verlief neben der hohen Außenmauer.
Einige Besucher hatten Steinhäufchen auf die herausragende Fassade gelegt. Mir war der Sinn dieses Brauchs entfallen, und ich ärgerte mich darüber.
Eine zeitlang genoss ich das Geräusch gedämpften Schnees, der unter den Sohlen versank. Kleine Schilder zogen vorüber, durchnummeriert, und hinter ihnen ein weites Feld toter Grabsteine verborgen, die schief und krumm standen, gemeißelt mit hybräischer Schrift, wartend auf den, der ihre Botschaft liest.
Mächtige Baumstämme und unendlich lange Wege, verschlungene Pfade von vergessenen Existenzen, eingebettet auf einem Friedhof, der in diesem Wetter eine Atmosphäre verbreitete, die keiner je wieder missen will.
Einige Totengräber lachten über einen Scherz, der auf tschechisch erzählt wurde.
Dann war ich wieder allein mit den Verstorbenen. Nur das winterliche Weiß, gedrückt durch meine Füße, ließ die Ohren noch hören.
Ein kleiner Stein.
Ein Familiengrab.
Drei Namen, über- und untereinander für die Zeit hinterlassen.
Ob er es gewusst hat?
Ob er es weiß?
***
Ich vergesse zu photographieren.
Da liegt sein Skelett, wenige Meter weit entfernt
Voller Scham sehe ich mich um. Wieso?
Es kann frei gesagt werden.
"Hast du dein Schloss erreicht?"
Keine Antwort.
Mich schüttelt es, nicht wegen der Kälte.
"Eigentlich kenne ich dich gar nicht. Ich habe von dir gelesen, aber kennen tue ich dich nicht, bis vielleicht auf ... ich gehe jetzt und schließe es; dieses Kapitel. Wie viel Macht kann ein einzelner Satz doch bewirken, dass ich jetzt hier stehe."
Ich entscheide, dennoch ein Photo zu machen, damit ich Wirklichkeit von Fiktion unterscheiden kann; denn wer betritt schon schneebedeckte Friedhöfe, ohne etwas davon mitzunehmen, damit er hinterher sicher sein kann, nichts verpasst zu haben?
Da ist kein Stück von ihm in mir, sondern ein Stück von mir in ihm.
Deshalb bin ich hier.
Ein hochgewachsener Kerl in Designerjacke kommt aus einem der Seitenwege auf mich zugelaufen.
"Sorry", schreit er. - "Kafka?"
Ich nicke.
"It´s at the quarter 30. A huge Cathedral, you can´t miss it!"
Er hält den Daumen hoch.
"Thanks ... Jimmy! Come on! Get your cam ready! I know, where it´s at!"
Als ich diese stille Welt verlassen, das Tor abhaken will, steht sie plötzlich neben mir.
"Haben Sie Kafka, oder seinen Stein gefunden?"
Ich schüttel den Kopf und bemühe mich um ein Nicken.
"Beides vielleicht."
Ich will ihr die Kipa zurückgeben, doch sie wehrt ab.
"Behalten Sie das. Wohin werden Sie gehen, jetzt?"
"Ich bin mir nicht sicher. Zum Schloss vielleicht."
Sie legt mir ihre knorrige Hand auf die Schulter.
"Das werden Sie nicht erreichen."
"Ich könnte es versuchen."
Sie schüttelt den Kopf.
"Keiner erreicht das Schloss. Gehen Sie in Ihr Hotel, denken Sie, und lassen Sie die Toten ruhen. Denn die bringen keine neuen Ideen mehr hervor."
Ich überlege mir etwas.
Manchmal hat man einen Punkt lange erreicht, ohne davon zu wissen.
Vielleicht ein Hilferuf.
In meinen Gedanken verlasse ich das Schloss.
Und plötzlich sehe ich die Stadt. Wunderschön ist sie, wenn man sich einmal umgedreht hat.