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Gerechte Welt

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12.12.2001
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Gerechte Welt

„Was wäre, wenn der Krieg anders ausgegangen wäre?“ wollte ich wissen. „Was, wenn die Dinge 1945 nicht den bekannten Verlauf genommen hätten? Was denkst du, wäre unsere Welt dann wohl noch die selbe?“
Ich saß mit meinen Großeltern am Eßtisch, wie jeden Sonntag, und unterhielt mich mit ihnen über die Vergangenheit, über Politik. Das war ungewöhnlich, normalerweise reichten unsere Gespräche kaum über das Essen hinaus, doch in mir drängte sich die Frage meines Geschichtslehrers, eines durchweg alternativen Menschen, auf, ob meine, ob unsere Vor- und Einstellungen denn auch richtig und legitim wären. „Natürlich“ war meine Antwort gewesen. Was sonst? Aber irgendwie wurde ich seine Worte nicht mehr los. Was liegt da näher als 80 Jahre Lebenserfahrung zu befragen? Und mein Großvater war ein hervorragender Erzähler und er hatte, da war und bin ich mir sicher, die richtige Einstellung. Das war wichtig. Es war im negativen Sinne äußerst aufregend, sich mit Leuten zu unterhalten, die immer noch nicht eingesehen hatten, daß die Gerechtigkeit gesiegt hatte und ihre starrsinnige Haltung nichts daran ändern würde. Solcher Menschen Meinungen waren teilweise wirklich beunruhigend grausam und kalt. Wie kann ein lehrer solche Menschen schützen wollen? Aber gottlob waren von dieser abstoßenden Art Mensch (wenn man, was bei meinem Großvater nicht der Fall ist, noch von „Mensch“ sprechen will) nicht mehr all zu viele übrig.
Nun, mein Großvater war anders. Er war aufgeklärter; wußte immer, was richtig war und lebte ein tolerantes, menschenfreundliches Leben.
„Ach, Kind! Du würdest nicht in einer welt leben wollen, wie sie wäre, wenn der Krieg ein anderes Ende genommen hätte! Du könntest darin gar nicht leben - so wenig wie ich oder deine Großmutter. Ich vermag es mir kaum vorzustellen. Einen solchen Schrecken. Nein. Sei froh, daß es so ist, wie es ist!“
Damit hatte Großvater sicher Recht, denke ich. Was müßten das für Menschen (und wieder scheitere ich an der Defintion dieses Wortes...) sein, die so leben könnten? Ich könnte es wohl nicht. Auch, wenn Großvater sagt, er könne es nicht, ich versuche mir diesen Schrecken vorzustellen. Unter gewissen Umständen ist das Leben nicht lebenswert. Paradox eigentlich. Aber wahr! Wenn die starrsinnigen Menschen mit den verdrehten Meinungen die Macht, das Sagen hätten, dann wären das eben solche Umstände!
„Ich habe damals meine besten Freunde verloren.“ Beginnt Großvater mit zitternder Stimme. „Oh ja, ich habe Glück gehabt, weißt du? Unglaubliches Glück. Wir waren die besten Freunde, in der Tat, die besten Freunde vor dem Krieg – und niemand hat überlebt. Außer mir. Alle gingen sie in den Schrecken des Krieges unter. Nur kleine Menschen im riesigen Strudel der Geschichte. Unbedeutend für die Welt und ihre Zukunft. Aber, bei Gott, es warne meine Freunde! Das zählt, mein Sohn! Freundschaft! Echte Freundschaft überdauert alle Not, alle Schrecken. Auch den Tod, mein Kind!“
Großvater stand auf, um sich eine Zigarre zu holen. Er rauchte immer, wenn er wehmütig von Vergangenem erzählte. Als Ablenkung, sagte er; um nicht zu weinen. Er wollte nicht weinen.
„Aber dennoch verteufelst du den Krieg nie, Großvater.“, bohrte ich weiter.
Er lächelte. Es sah gequält aus. Also war es ehrlich.
„Man muß alles positiv sehen, mein Junge! Auch das Traurigste hat einen positiven Sinn. Du mußt nur suchen. Meine Freunde...sie standen auf meiner Seite und ließen dafür ihr Leben...und sie würden nicht wollen, daß ich trauere. Nein. Sie starben für ihren Glauben und ihre Überzeugung. So geht es im Leben. Der Mensch steht und fällt mit seinem Denken. Das Denken macht den Menschen. Das Denken läßt ihn kämpfen und am Ende, immer am Ende, sein Leben einsetzen. Wir sind die Sklaven unserer Überzeugung. Deswegen gingen meine Freunde in den Tod. Und ihre Überzeugung muß weiter leben. Die Sklaven sind tot – ihre Herren leben weiter!
Und deshalb verteufle ich den Krieg nicht. Er war grausam. Er war gnadenlos. Aber er war ein Augenöffner! Ein Wachrüttler! Vielleicht ist die Welt ein wenig schlauer geworden durch ihn. Bestimmt aber ist sie wachsamer geworden; wachsamer für den Unterschied zwischen Gut und Böse. Recht und Unrecht. Überzeugung und Verblendung. Nimm unser Land, mein Sohn! Unser Land ist ein aufgeklärtes, ein gerechtes Land. Du kannst hier frei leben, du kannst hier Karriere machen. Du kannst hier Familie haben und mit ihr glücklich sein! Ohne behelligt zu werden. Mag sein, ohne den Krieg wäre das anders. Der Mensch ist nun mal ein aggressives Wesen. Manche weniger, manche mehr, natürlich, aber von Geburt, gottgegeben, hat niemand die richtige Einstellung. Oh nein, außer Überlebenswillen ist anfangs nicht. Und das gilt es im Leben zu ändern, mein Sohn! Beschreibe das leere Blatt deiner Seele! Finde deine Wörter, deine Grammatik, und bilde dir deine Sätze, deine Vorsätze, dein Lebensmotto daraus!
Ja, der Krieg hat bestimmt dazu beigetragen, einen besseren Menschen zu machen, so seltsam es sich anhören mag.“
Ich wußte, was er meinte, und ich verstand es. Ein Augenöffner, hatte er gesagt. Stimmt. Auch, wenn sich einige Augen weigerten, den Öffner zu sehen oder als solchen zu akzeptieren. Solche Menschen gab es wohl immer. Blinde Menschen, meine ich, die selbst durch solch große Ereignisse nicht das Erkennen lernten.
Großvater blies den Zigarrenrauch aus, der sofort in der Luft zerging. Ich mußte schmunzeln.
„Sei froh, daß du in dieser Welt leben darfst!“ sagte Großmutter, die die ganze Zeit geschwiegen hatte. Sie saß immer am Tisch, wenn Großvater erzählte, und nickte nur zustimmend.
„Sei froh, daß es so ist, wie es ist, mein Sohn!“ bekräftigte Großvater noch einmal. „Sei froh über dein Leben in dieser Realität!“

Das Telefon klingelte. Großmutter hob ab.
„Für dich!“ meinte sie und reichte mir den Hörer.
„Ja?“ fragte ich in den Hörer. Das Gespräch dauerte keine zwei Minuten. Ich legte auf.
„Der Gruppenführer.“ Sagte ich zu Großvater.
„Probleme im Lager?“ wollte er wissen.
„Ja, die Zigeuner.“ Antwortete ich. „Die Juden sind wir los geworden, aber es gibt so viele ignorante Unruhestifter, Großvater.“
Ich nahm meinen schwarzen Mantel mit den beiden S-Runen am Kragen – die waren Originale von meinem Großvater – und hob die Hand zum Gruße.
„Heil Hitler!“ verabschiedete mich Großvater.
„Heil Hitler!“ erwiderte ich und trat auf die straße.
Die Hakenkreuzfahnen flatterten stolz im Winde. Erhebend. Großvater hatte recht! So grausam der Krieg auch gewesen sein mag, es war gut, es war gut, daß wir ihn gewonnen hatten. Sonst hätte sich unser gerechtes Denken nie durchgesetzt.
Das Leben war großartig. Ja. Ich war froh, daß „alles so ist, wie es ist.“

 

Interessant... Was-wäre-wenn-Geschichten sind ja immer beliebt, gerade wenn es dabei um Geschichte geht.

Beim Lesen der ersten Sätze wird einem zwar klar, auf welches Ziel du hinaussteuerst, doch das schmälert nicht den Gesamteindruck der Story.

Was ein bißchen stört, ist der allzu moralinsaure Zeigefinger, den du erhebst. Denn wenn der Großvater anfängt, seine Sicht der Dinge darzustellen, ist klar, was du eigentlich ausdrücken wolltest.

Ich denke, bei alternativen Stories, die mit der Vergangenheit spielen, sollte man konsequent genug sein, den eingeschlagenen Weg auch zu Ende zu gehen.

Auf alle Fälle eine Fiktion von dir, die zum Nachdenken anregt... Was wäre wenn? Ja, was wäre dann?

Sodele

Poncher

 

Hm ... Ganz gut geschrieben, ABER: Es gibt ungefähr zwei Millionen Geschichten mit exakt demselben "überraschenden" Ende!
Versteh mich nicht falsch, wieviele Möglichkeiten, eine Story aufzulösen gibt es schon? Nur: Deine Story ist eine "Pointen-Story", die ausschließlich von der Schlusspointe lebt. Und die ist total abgeschmackt, sorry!
Ich hätte es auch besser gefunden, wenn du das Ende kürzer gestaltet hättest, also das SS-Zeichen und die Lager weggelassen hättest, und der Mann einfach gesagt hätte, was weiß ich, er müsse nach Hause, und dann macht er den Hitler-Gruß und sein Großvater ebenfalls und Punkt.

Ehrlich, geschrieben ist sie gut! Aber der Makel, der über der Geschichte liegt, scheint mir einfach zu übermächtig.

 

Hi falk,

eine interessante Geschichte. Im Gegensatz zu Rainer würde ich aber nicht den Schluss, sondern den Hauptteil kürzen, der erscheint mir etwas langatmig.

Demokratische Grüsse,

Batch

 

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