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Gerinnselmann
Wenn der Gerinnselmann kommt, dann ist alles aus – so war es Gustav schon als Kind von seinen Eltern eingebleut worden. Wenn man ungezogen ist, am Daumen oder am großen Zeh nuckelt, wenn man Nachbars Kater mit der Kneifzange emaskuliert, wenn man Nachts unter der Bettdecke an sich herumspielt, in die Hose macht, flennt, eine Keilerei anfängt oder verliert, wenn man den Eltern oder dem Lehrer oder irgendeinem anderen Erwachsenen Widerworte gibt – dann kommt der Gerinnselmann und man kriegt Blutgerinnsel im Gehirn und stirbt. Und der Gerinnselmann sieht alles. Er überwacht einen vierundzwanzig Stunden am Tag und bemerkt sogar, wenn man Popel unter die Schulbank schmiert oder hinter dem Bett heimlich Ausgaben der „Euter-Illu“ hortet. Schon ab dem ersten Verstoß hat einen der Gerinnselmann auf dem Kieker, und man weiß nie, wann er schließlich auftauchen wird. Und dann ist alles aus. Vielleicht verschließt er einem bloß die Halsschlagader mit einem Blutpfropf, wenn man Glück hat. Manchmal hext er einem Unglücksraben aber auch Leukämie an oder lässt die Bauchspeicheldrüse verdorren. Zumeist sind es aber die berüchtigten Gerinnsel in ihren mannigfaltigen Formen, die der Gerinnselmann an äußerst unangenehmen Stellen wuchern lässt und denen er Namen und Ruf verdankt. Aber es kann auch sein, dass er niemals kommt. „Der Gerinnselmann hält es da wie ein Dachdecker“, sagte der Vater immer. „In seinem Reich herrscht grausame Willkür.“
Jahrelang zitterte Gustav vor der Ankunft des Grausamen G. Dies waren die Namen, die man dem Feind in der Schule gegeben hatte – Grausamer G., Gevatter G., Rinnselmännchen, Obliterator, Didi Darmverschluss, Benno Blutkrebs – halb im Scherz, halb in Ehrfurcht, denn man konnte nie wissen, ob der Gerinnselmann einen nicht vielleicht doch beobachtete, ob er nicht doch im Dunkel lauerte und nur auf den geeigneten Zeitpunkt wartete, seine grausamen Fresszellen loszulassen. Natürlich hatte Gustav – wie die meisten seiner Freunde auch – im Laufe der Jahre sein Schicksal mehrfach herausgefordert, hatte heimlich Zigaretten geraucht oder den Hund getreten oder am eigenen Schalthebel herumgespielt und dabei an die dicke Jana aus der Parallelklasse gedacht – und war dabei völlig gerinnselfrei geblieben. So war es schließlich keine große Überraschung mehr für Gustav, als ihn der Vater am Vorabend seines achtzehnten Geburtstages zu sich rief, um ihn aufzuklären.
„Sohn, ich muss dir nun etwas Wichtiges über den Gerinnselmann erzählen“, so setzte der Vater an, aber Gustav winkte ab. Er wisse doch bereits Bescheid, der Vater könne sich diese Vorstellung sparen. „Sohn, auch wenn du bereits Bescheid zu wissen meinst, höre mich dennoch an“, bat der Vater, doch Gustav war bereits auf dem Weg nach draußen, um sich und dem Vater weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Fortan wurde in ihrem Haus nie mehr ein Wort über den Gerinnselmann verloren. Die Sache schien erledigt. Und dennoch: Restzweifel blieben. Noch zwanzig Jahre später plagte Gustav ein unerklärliches schlechtes Gewissen, wenn er sich in seinem Stahlrahmen festschnallen und mit der Neunschwänzigen züchtigen ließ.
Mit siebzig starb der Vater an einem Herzinfarkt. Nichts Besonderes, dachte Gustav. Traurig, aber normal. Passierte doch jeden Tag. Eine der häufigsten Todesursache im Lande. Der Vater war ja auch schon alt. Da ist so etwas nicht weiter verwunderlich. Ist es doch nicht, oder? Ist doch normal, nicht war?
Die Beerdigung fand auf dem evangelischen Friedhof Rahnsbüttel statt. Der Pastor hielt eine ergreifende Grabrede über die vielen schönen Campingurlaube im nahegelegenen Pöttgerswalde, die denkwürdigen Ausflüge mit dem Kegelclub, die Aufopferung für seine Familie, all das, wofür der Vater gestanden hatte. Gott hab ihn selig, erklärte der Pastor und Gustav grübelte darüber nach, ob sein Erzeuger von nun an im Jenseits auch wöchentlich zum Kegeln gehen würde und spät in der Nacht betrunken zurückkäme. Die Mutter sagte die ganze Zeit über nichts, saß bloß betreten da mit ihrem schwarzen Schleier im Gesicht. Die gesamte Mannschaft des Kegelclubs „Fast Alle Neune“ belegte die hinteren Reihen. Doch da war auch noch jemand anders, ein kleiner Mann, der so unauffällig war, dass ihn weder Gustav noch die anderen Anwesenden bemerkten, und der später ebenso stillschweigend verschwand, wie er aufgetaucht war – dieser Mann war nicht weiter erwähnenswert.
Als der Vater in die Grube hinuntergelassen wurde, trat einer der Kegelbrüder hinter Gustav und murmelte: „Dein Vater warn ganz übles Schwein. Hat immer aufn Kegelausflug mitte Nutten rumgemacht. Hat meine Olle gefickt un dann als es ihm zu langweilig wurde hatter meine Tochter gefickt un dann hatterse verlassen un dann hatter mich noch um Geld beschissen, die Drecksau un dann hatter mich eines abends verprügelt, als ich meine Schulden eintreiben wollte un dann hatter in meinen Vorgarten gekotzt und als ich die Sache mit meiner Frau rausgefun habe, un ihn zur Rede stellen wollte, hatter mich nochma verprügelt un gelacht“.
Gustav schluckte. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Unfassbar, was hier geschah, und das auch noch auf einer feierlichen Beerdigung. Hoffentlich hatte niemand von dieser Sache etwas mitbekommen.
Aber der Kegelbruder hinter Gustav war noch nicht fertig: „Geschiehtm ganz recht, dasser den Arsch zugekniffen hat, dein Alter. Endlich, habichmer gesagt, endlich krichter Gerinnsel überall inseim Körper und geht ganz langsam un qualvoll zu Grunde un leidet un stirp an seine Gerinnsel.“
Zwei- dreimal atmete Gustav tief durch, dann drehte er sich, um den nach Mariacron stinkenden Kerl zu verdreschen, Beerdigung hin oder her. Doch da war nur die gesamte Kegelmannschaft in geschlossener Formation, einige Meter hinter ihm.
Weitere fünfzehn Jahre gingen ins Land, und es verging kein Tag, an dem Gustav nicht an die Worte jenes geheimnisvollen Kegelbruders zurückdenken musste. Eigene Nachforschungen hatten ergeben, dass Blutgerinnsel tatsächlich eine gewisse Rolle gespielt hatten beim Herzinfarkt seines Vaters, aber das war bei Herzinfarkten nun mal so üblich. Kein Grund zur Beunruhigung. Es war doch wirklich kein Grund zur Beunruhigung, oder? Wirklich nicht. Oder?
Dann starb die Mutter an Kehlkopfkrebs. Weit verbreitete Todesursache. Kriegt doch jeder mal, so `nen Krebs. Ist doch so.
Der Name der Mutter wurde an den dafür vorgesehen Platz auf dem Grabstein gemeißelt, rechts neben dem des Vaters. Der Pastor verlor einige tröstende Worte über die Hingabe, mit der sich die Mutter ihr Leben lang dem Haushalt und der Erziehung der Kinder gewidmet hatte, auch das regelmäßige Kaffeetrinken mit den Damen vom Klöppelkurs der Volkshochschule fand besondere Erwähnung. Gustav hielt Ausschau nach verdächtigen Gestalten, aber bis auf die gebrechlichen Frauen des Klöppelclubs kannte er alle Anwesenden persönlich. Gustav atmete schon auf, als plötzlich die leise Stimme einer alten Frau an seinem Ohr erklang. Er hielt den Atem an: „Deine Mutter. Gute Frau, deine Mutter, gute Frau. Hat sich immer gut um alle gekümmert. Gute, großzügige Frau, deine Mutter. Bis auf... dieses eine Mal. Dieses eine Mal. Da waren wir noch jung, deine Mutter, deine Mutter und ich. Und da hat sie mich, deine Mutter, hat sie mich mit dem Kopf in den Kaktus, hat sie mich, deine Mutter. Mit dem Kopf in den Kaktus, deine Mutter, die Hure, deine Mutter, Hure, deine Mutter, gut das sie tot is, gut dass sie tot is, deine Mutter, diese Hure, habbich ihr nie verziehn un nun hattse Krepps un geht tot, habbich gesacht, nu isse tot.“
Wie gelähmt stand Gustav da und dachte an all die Leute, die er selbst in seiner Jugend mit dem Kopf in einen Kaktus gedrückt hatte. So etwas machte doch jeder mal, oder? Oder etwa nicht?
Hinter Gustavs Rücken standen die Damen vom Klöppelkurs, die Köpfe gesenkt, und erwiesen der Mutter die letzte Ehre, als der Sarg nach unten rasselte.
Beim Tod seiner Mutter, so hatte Gustav sich versichern lassen, hatten Gerinnsel absolut keine Rolle gespielt. Trotzdem vermochte ihn diese Tatsache nicht zu beruhigen. Wöchentlich, immer zwischen der Arbeit und dem Besuch im Club LaBamba, ließ er sich beim Arzt durchchecken. Offiziell sollte nur seine Hypochondrie behandelt werden, doch unter diesem Vorwand ließ er seinen Körper wieder und wieder nach Gerinnseln absuchen.
„Machen sie sich doch weniger Sorgen“, mahnte der Arzt an. „Das macht sie sonst noch ganz krank.“
Der hat gut Reden, dachte sich Gustav, während er sich für den Club umzog. Irgendwo lauern die Gerinnsel. In meinem Inneren rotten sie sich zusammen, ganz heimlich, und erzeugen zuerst Bluthochdruck und dann Schwindelgefühle und dann Unwohlsein und Völlegefühl und Kopfschmerzen und dann Heiserkeit und eine belegte Zunge und Nierensteine und Schwierigkeiten beim Wasserlassen, oder Schlafstörungen und Schwermut, und dann senden sie ihre freien Radikalen, ihre Viren und Fresszellen durch den Körper, und alle Zellen werden entkernt und alle Zellwände eingerissen und dann zerfällt man schließlich, oder die inneren Organe platzen auf. Der hat gut Reden, der Arzt. Wenn der wüsste.
Dann streifte Gustav seinen nietenbesetzten Lederslip über, zog die Hosen wieder an und machte sich auf den Weg.
In der Folgezeit zerfurchten tiefe Sorgenfalten Gustavs Stirn. Er aß weniger, er schlief nur noch vier Stunden am Tag. Immer öfter kam die Impotenz zu Besuch. Es dauerte nicht lange, da bekam er ein Magengeschwür.
„Sehen Sie“, sagte er zu seinem Arzt. „Da haben wir’s!“
„Ein Geschwür ist noch kein Gerinnsel“, mahnte der Arzt.
„Das ist doch alles dasselbe!“, empörte sich Gustav. „Bald treten die Ekzeme auf, und die Hämatome, dann kommen die Eiterbeulen und die Krätze, Blutvergiftungen, Hautkrebs, dann fallen die Arme ab.“
„Das ist doch Unsinn.“
„Das habe ich auch gedacht!“, rief Gustav. „Aber inzwischen weiß ich es besser. Und keiner hilft einem! Die Sklerose frisst einen schleichend von innen auf, und keine Sau hilft einem!“
„Jetzt regen Sie sich doch nicht so auf. Das ist nicht gut für ihr Herz.“
„Schwachsinn! Die ganze pervertierte RNA, die in meinem Inneren Amok läuft, die ist nicht gut für mein Herz.“
„Okay, na gut, Sie haben mich überzeugt. Ich gebe ihnen ihre Spritze. Machen Sie sich mal bitte frei.“
Doch die Spritzen halfen nicht. Und auch die Pillen halfen nicht. Gustavs Beschwerden nahmen immer mehr zu. Herzrasen, zittrige Hände, Schweißausbrüche, Panikattacken. Er fühlte sich verfolgt, hinter jeder Ecke lauerten die Gerinnsel und enorme Tumore rollten nachts durch die Straßen, wenn keiner hinsah. Überall spürte er die Blicke jener Menschen, die er als Jugendlicher mit dem Gesicht in Kakteen oder Hundescheiße gedrückt hatte. Gustav rannte heulend durch die Flure. Auch die Elektroschocks halfen nicht.
Dann schließlich der Infarkt.
„Die Gerinnsel!“, schrie Gustav, als er wieder erwachte. „Die Gerinnsel, die Gerinnsel, Habbichseuchnichgesagt!“. Immer wieder schrie er die Worte, während ihn die Ärzte am Bett fixierten.
„Alles wird gut, beruhigen Sie sich“, sagte der Arzt, der die Spritze mit dem Beruhigungsmittel aufzog.
„Nichts wird gut!,“ kreischte Gustav, „Nichts wird gut, gehen Sie mit der Spritze da weg, im Schlaf holt mich der Gerinnselmann mit seinen Abszessen und seinen verödeten Adern! Ich will nicht! Nein!“
Vergebens zerrte Gustav an den Gurten, mit denen er ans Bett gefesselt war. „Ich will nicht! Sie wissen ja gar nicht, was Sie tun! Der Gerinnselmann kommt und hat schwärende Wunden mitgebracht, und Geschwulste! Ich will keine Spritze! Nein! Im Schlaf holt mich der Gerinnselmann!“
Doch der Doktor ließ sich nicht erweichen und injizierte dem zuckenden Gustav die gesamte Ladung des Beruhigungsmittels.
„Nein! Nein! Im Schlaf holt mich der Gerinnselmann, im Schlaf holt mich der Gerinnselmann“, Gustavs Stimme wurde bei jeder Wiederholung leiser und leiser. „Im Schlaf holt mich der Gerinnselmann, Im Schlaf holt mich der Gerinnselmann, der Gerinnselmann, der Gerinnselmann...“
Und dann war alles aus.