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Gesang
Mein Herz selbst blutet, wenn ich daran denke, arme Ophelia. Ich kenne meine Schuld, wenn sie mich anblickt. Und ich zerschlage die Spiegel, die mich narren, weil sie zu Seen werden. Als ob da etwas zu sehen wäre. Auf alten Plätzen lauern Erinnerungen, in den Winkeln und Gassen. Ich meide sie. Den Boden, auf den du tratest, widert es, mich zu tragen. Ich schwebe darüber. Fünf Zentimeter, nicht höher, damit es nicht auffällt.
Kein Laut zu hören. Ich dachte, ich hörte, aber nichts. Meine Nerven glühen. Stoff reibt auf meiner Haut, jedes Licht zu grell, jedes Geräusch zu laut. Wenn es regnet, kann ich nicht schlafen, kann ich nicht essen. Manchmal stehe ich auf einer Straße und die Sonne scheint und Autos fahren und Fußgänger laufen vorbei und ich stehe und weiß nicht mehr, wohin ich wollte. Und dann gehe ich zurück nach Hause.
Sie sehen mich an. Ich weiß, dass sie es tun. Ich bin ein schwarzes Loch, ziehe alle Blicke auf mich. Sie sehen, aber sie wissen nicht. Ich kontrolliere mein Gesicht, jeden Muskel beherrsche ich zur Perfektion. Das Telefon hat schon lange nicht mehr geklingelt, wie seltsam, manche Dinge vermisst man nicht, wenn sie fehlen. Es hat sehr viel geklingelt, da habe ich es ausgesteckt. Wollte bis unter die Erde schrillen, mit seinem Tote weckenden Geheul, nur ein Beweis, dass sie nichts wissen.
Ich bin auch gar nicht mehr müde. Nur manchmal, da glaubt man zu hören, und niemand sonst hört es, oder vielleicht tun sie nur so, um mich zu prüfen, aber meine Miene entgleist nicht. Beherrschung bis zur Perfektion. Außerdem weiß ich ja, weiß ich, dass da nichts ist. Ich hatte eine Wohnung ganz oben, unter dem Dach. Ich musste sie aufgeben, ich konnte es nicht ertragen. Wie der Regen aufs Dach prasselt, das kann einen doch nervös machen. Jeder Tropfen reißt mir die Zähne mit der Wurzel aus. Ich gehe nicht mehr viel aus. Nur im Winter, wenn es richtig kalt ist. Dann bedeckt alles Schnee und Eis und man kann sich vorstellen, dass es immer so ist.
Ich habe die Wasserrohre zugeschraubt. Lappen in die Öffnungen gestopft. Die Hähne haben getropft. Und hätten sie nicht getropft, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen. Dabei passieren viel schlimmere Dinge auf der Welt. Man ist gespannt wie ein Bogen, die ganze Zeit, darf nicht in seiner Wachsamkeit nachlassen. Es gilt, nicht zu grübeln, gar nicht erst zu beginnen. Wenn ich mich zu fragen beginne, was der Schatten birgt, birgt er bald wirklich etwas. Das ist ganz einfache Psychologie. So was muss man nur zu verstehen wissen. Ich kann ganz ruhig hier sitzen, weil ich weiß, dass ich nichts gehört habe eben.
Mein Kopf ist so schwer. Es gibt Geräusche, die lassen einem das Haar zu Berge stehen. Die berühren die Menschen alle an der selben Stelle im Hirn. Kreide, die über eine Tafel quietscht, ein Zahnarztbohrer, das Kratzen und Schaben von Insektenbeinen, die neben dem Bett an der Wand hochklettern, das leise Platschen, wenn ein nasser Fuß auf den Boden trifft. Kleine Füße, mit einem Schnakenstich am linken Knöchel und einer fast abgeheilten Blase an der Ferse.
Ich habe überall dicke Teppiche ausgelegt. Das macht die Wohnung viel gemütlicher, als das bloße Parkett. Und es dämmt viel besser. Ich betrete das Badezimmer eigentlich gar nicht mehr. Die Abflüsse starren mich an. Und plötzlich sind sie vielleicht viel größer, als man dachte. Ich versuche nicht mehr zu schlafen. Ich träume soviel von Blut. Was komisch ist, weil sie hat doch gar nicht geblutet.