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Gesang

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09.03.2008
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Gesang

Mein Herz selbst blutet, wenn ich daran denke, arme Ophelia. Ich kenne meine Schuld, wenn sie mich anblickt. Und ich zerschlage die Spiegel, die mich narren, weil sie zu Seen werden. Als ob da etwas zu sehen wäre. Auf alten Plätzen lauern Erinnerungen, in den Winkeln und Gassen. Ich meide sie. Den Boden, auf den du tratest, widert es, mich zu tragen. Ich schwebe darüber. Fünf Zentimeter, nicht höher, damit es nicht auffällt.
Kein Laut zu hören. Ich dachte, ich hörte, aber nichts. Meine Nerven glühen. Stoff reibt auf meiner Haut, jedes Licht zu grell, jedes Geräusch zu laut. Wenn es regnet, kann ich nicht schlafen, kann ich nicht essen. Manchmal stehe ich auf einer Straße und die Sonne scheint und Autos fahren und Fußgänger laufen vorbei und ich stehe und weiß nicht mehr, wohin ich wollte. Und dann gehe ich zurück nach Hause.
Sie sehen mich an. Ich weiß, dass sie es tun. Ich bin ein schwarzes Loch, ziehe alle Blicke auf mich. Sie sehen, aber sie wissen nicht. Ich kontrolliere mein Gesicht, jeden Muskel beherrsche ich zur Perfektion. Das Telefon hat schon lange nicht mehr geklingelt, wie seltsam, manche Dinge vermisst man nicht, wenn sie fehlen. Es hat sehr viel geklingelt, da habe ich es ausgesteckt. Wollte bis unter die Erde schrillen, mit seinem Tote weckenden Geheul, nur ein Beweis, dass sie nichts wissen.
Ich bin auch gar nicht mehr müde. Nur manchmal, da glaubt man zu hören, und niemand sonst hört es, oder vielleicht tun sie nur so, um mich zu prüfen, aber meine Miene entgleist nicht. Beherrschung bis zur Perfektion. Außerdem weiß ich ja, weiß ich, dass da nichts ist. Ich hatte eine Wohnung ganz oben, unter dem Dach. Ich musste sie aufgeben, ich konnte es nicht ertragen. Wie der Regen aufs Dach prasselt, das kann einen doch nervös machen. Jeder Tropfen reißt mir die Zähne mit der Wurzel aus. Ich gehe nicht mehr viel aus. Nur im Winter, wenn es richtig kalt ist. Dann bedeckt alles Schnee und Eis und man kann sich vorstellen, dass es immer so ist.
Ich habe die Wasserrohre zugeschraubt. Lappen in die Öffnungen gestopft. Die Hähne haben getropft. Und hätten sie nicht getropft, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen. Dabei passieren viel schlimmere Dinge auf der Welt. Man ist gespannt wie ein Bogen, die ganze Zeit, darf nicht in seiner Wachsamkeit nachlassen. Es gilt, nicht zu grübeln, gar nicht erst zu beginnen. Wenn ich mich zu fragen beginne, was der Schatten birgt, birgt er bald wirklich etwas. Das ist ganz einfache Psychologie. So was muss man nur zu verstehen wissen. Ich kann ganz ruhig hier sitzen, weil ich weiß, dass ich nichts gehört habe eben.
Mein Kopf ist so schwer. Es gibt Geräusche, die lassen einem das Haar zu Berge stehen. Die berühren die Menschen alle an der selben Stelle im Hirn. Kreide, die über eine Tafel quietscht, ein Zahnarztbohrer, das Kratzen und Schaben von Insektenbeinen, die neben dem Bett an der Wand hochklettern, das leise Platschen, wenn ein nasser Fuß auf den Boden trifft. Kleine Füße, mit einem Schnakenstich am linken Knöchel und einer fast abgeheilten Blase an der Ferse.
Ich habe überall dicke Teppiche ausgelegt. Das macht die Wohnung viel gemütlicher, als das bloße Parkett. Und es dämmt viel besser. Ich betrete das Badezimmer eigentlich gar nicht mehr. Die Abflüsse starren mich an. Und plötzlich sind sie vielleicht viel größer, als man dachte. Ich versuche nicht mehr zu schlafen. Ich träume soviel von Blut. Was komisch ist, weil sie hat doch gar nicht geblutet.

 
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Hallo River,

lese ich deinen Text muss ich zuerst an Rimbaud und expressionistische Wasserleichenposie denken, ferner auch (geschmacksbedingt) an Shakespeare. Du schilderst hier den wahnsinnigen werdenden Hamlet, der sich seiner selbst trauert im Spiegel der Badewannenselbstbewässerung seiner Ophelia. Dabei erkenne ich erfreut viele Anspielungen, die deine in moderne Zeiten versetze Tragödie zum Subtext zieht.

Irgendwie erinnert mich dein vereinsamtes prosaisches Ich an Hesses Steppenwolf, irgendwie in seiner Art sich selbst und die Welt viel zu ernst zu nehmen und das Leben dabei zu vergessen.

Gern gelesen.

Gruß
Woitek

 

Hallo Woitek,

um ehrlich zu sein scheint der Text bei dir mehr Impressionen hervorgerufen zu haben, als ich beim Schreiben tatsächlich Einflüsse im Kopf hatte, aber das ist ja nur positiv. ;-)
Schön, dass er dir gefallen hat, ich selbst bin mir da nämlich ziemlich unschlüssig, was meine endgültige Meinung betrifft.

Gruß
River

 

Hallo River!

Ich muss zugeben, beim ersten Lesen habe ich gar nichts verstanden. Ich dachte, das wäre alles gut geschriebenes blabla, keine Geschichte, nur Gedanken. Aber das starke Ende macht den Text dann doch noch gerade so zur Geschichte, obwohl ein bisschen mehr Handlung sicherlich nicht schaden würde. Ohne Handlung kann ich mir keinen Protagonisten vorstellen und deshalb liest und versteht sich der Text sehr schwierig, mögen die Gedanken auch noch so gut dargestellt sein. Es fehlt einfach ein wenig an Nährboden für die Phantasie. ;) Vielleicht ging es auch nur mir so. Hat mir aber trotzdem gefallen, sauber geschrieben, nur leider der mangelnden Handlung geschuldet keine Bilder und wenig Atmosphäre.

Liebe Grüße,
apfelstrudel

 

Hallo apfelstrudel,

danke für deine Kritik, positiver wie negativer! Die Sache mit der Handlung, jaa, durchaus gerechtfertigt. Aber ich wollte hier halt bewusst etwas machen, bei dem die Handlung, die eigentliche Geschichte, schon geschehen ist und dem Leser nur das vage umschriebene Resultat der Handlung bleibt, um seine Rückschlüsse zu ziehen. Ab und zu überkommen mich solche künstlerischen Anwandlungen ;)
Protagonist, dito. Keine Möglichkeit gefunden, 'durch Schuldgefühle in Wahnsinn getriebener Mann streunt durch seine lange nicht mehr verlassene Wohnung und hält Monolog'-Beschreibung einzubauen, ohne Stimmung und Ästhetik leiden zu lassen. Da hat zur Ausnahme mal Form über die Regeln des Geschichtenerzählens gesiegt.
Vielleicht hab ich mal einen Geistesblitz, wie ich hier beides besser verbinden kann, derzeit leider nicht.

Gruß
River

 

Hallo River,

ich sag jetzt mal was Frevelhaftes: Fuer mich haette es sogar noch weniger Handlung sein duerfen. Die Atmosphaere die Du beschreibst ist so eindringlich, dass mir das voellig genuegt.
Ich finde es schoen, wie Du dieses Daemmen von allen aeusseren Einfluessen und das penetrant-penetrierende bestimmter Geraeusche beschreibst. Erinnert mich an den zeitgenoess. Coocooning-Trend, wobei coocooning natuerlich Quatsch ist, weil ja kein Schmetterling sondern eine Mumie dabei heraus kommt.

Der Text ist insgesamt gut geschrieben und ein paar Saetze haben mir ganz besonders gefallen:

Den Boden, auf den du tratest, widert es, mich zu tragen. Ich schwebe darüber. Fünf Zentimeter, nicht höher, damit es nicht auffällt.

Ich bin ein schwarzes Loch, ziehe alle Blicke auf mich.
Die Metapher mag ich, weil sie sich weiter denken laesst. Ein schwarzes Loch zieht (die Blicke) ja nicht nur an, sondern ist dabei ja auch irgendwie potenzierte Unsichtbarkeit.

Jeder Tropfen reißt mir die Zähne mit der Wurzel aus.

Kleine Füße, mit einem Schnakenstich am linken Knöchel und einer fast abgeheilten Blase an der Ferse.
Besonders schoener Wechsel von Geraeuschen die jeder kennt zu dieser zutiefst spezifischen, individuellen Erinnerung.

Dieser Abschnitt gefaellt mir allerdings nicht:

Eigentlich ist es sinnlos, an die Vergangenheit zu denken, sich den Kopf zu zerbrechen über Dinge, die man nicht ändern kann. Da man ja noch nicht einmal weiß, ob man sie ändern würde, wenn man es könnte, wenn man also gewissermaßen an einen bestimmten, ganz beliebigen Punkt zurückkehren könnte, ob man dann anders handeln würde. Man hatte ja Gründe, damals, so zu handeln, und man war ja auch ein ganz anderer Mensch, man verändert sich ja. So dass man manchmal zurückblickt und sich selbst gar nicht begreift. Aber trotzdem würde man jetzt nicht anders handeln. Nur als Beispiel.
Was bei Dir die Handlung so huebsch ersetzt sind die Bilder bzw. Geraeusche, die die Stimmung des Prot. nachvollziehbar machen. Dieser Abschnitt ist aber rein reflektierend und gar nicht poetisch und auch inhaltlich nicht besonders originell (Schulhofphilosophie). Den wuerde ich an Deiner Stelle ersatzlos streichen.

Ich merke grad, dass ich meine Kommentare immer negativ beende. Ich hoffe, das taeuscht nicht darueber hinweg, dass ich den Text sehr gut finde. Demnaechst nur noch Sandwich-feedback (positiv - negativ - positiv). Versprochen.

lg
feirefiz

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo feirefiz,

so ausführlich und dann auch noch lobend, fühle mich geschmeichelt, danke!

Dieser Abschnitt ist aber rein reflektierend und gar nicht poetisch und auch inhaltlich nicht besonders originell (Schulhofphilosophie). Den wuerde ich an Deiner Stelle ersatzlos streichen.
Überdacht, für zutreffend befunden und ausgeführt.

Demnaechst nur noch Sandwich-feedback (positiv - negativ - positiv). Versprochen.
Hmhmhm, werd ich im Auge behalten... ;)

lg
River

 

Na ja,
wenn man im ersten Satz Ophelia sagt, dann muss man auch irgendwen sich selbst ertränken lassen.
Zwischendrin fand ich die Sprache ganz gut, paar Sätze, der Ton, dieses Geleiere - das passt. Es ist dann aber auch immer leicht "unsauber", es kommt kein echter Drive in die Sprache durch nervige Kleinigkeiten, da enden mal zwei Sätze gleich, da ist ein zu wüster Gedankensprung mitten im Fließtext, da verändert sich der ganze Habitus innerhalb eines Halbsatzes ohne einen Anlass dafür im "Erzählten", dann sind die Bilder leider ein wenig zu exemplarisch (der Gag mit dem Platschen der nassen Füße als störendes Geräusch dann als hingeleitet auf die Pointe ist gut gemacht - sowas öfter, am besten noch ohne einen allzulangen unpersönlichen Vorlauf - Kreide, Zahnarztbohrer, Insekten) und es gewinnt nicht genug Kontur.
Da leidet einer wie schon viele gelitten haben. Gut gemacht, aber: Wo ist das Einzigartige? Was unterscheidet deinen Leider von dem Leider anderer Texte? Was ist in diesem diffusen Nebel einzigartig? Entfremdung, Orientierungslosigkeit, dieses komische Watte-Gefühl - Gut, aber reicht alleine nicht.

So Wortspiele wie Seen - sehen - na ja, ich glaub das ist wie mit Ironie oder Lyrik. Das mag man, wenn man's schreibt, mehr als wenn man's liest.

Gruß
Quinn

 

Trotz der Innenschau und der eindrinlichen Schilderung von Befindlichkeit packt mich die Geschichte nicht. Oder vielleicht deswegen? Im letzten Drittel hätte ich mir anstelle des MAN ein ICH gewünscht, konnte leider keinen Kontakt zum blutarmen Teppichschweber herstellen!
LG,
Jutta

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Quinn und Jutta!

Fasse mich kurz, muss morgen früh raus.

@ Quinn:
Danke für deine eingehende Kritik!
Ophelia war der Stein des Anstoßes, daher musste sie rein. Außerdem wird die Geschichte meiner Meinung nach zu unschlüssig und ziellos ohne diesen frühen Hinweis. Es fällt dadurch natürlich als Pointe weg, ist aber als solche auch nicht wirklich gedacht.
Die Gedankensprünge sind Absicht, der Erzähler kann keinen Gedanken lange verfolgen, reißt den Leser immer wieder aus dem Fluss.

Wo ist das Einzigartige? Was unterscheidet deinen Leider von dem Leider anderer Texte?
Hast nicht Unrecht, aber, ohne eine Grundsatzdiskussion losbrechen zu wollen, nach ungefähr 10000 Jahren des Geschichtenerzählens halte ich es für eigentlich für unmöglich, etwas wahrhaft neues und noch nie dagewesenes zu verfassen. Würde ich mich diesem Anspruch jedesmal stellen, verlöre ich die Lust am Schreiben. Verneige mich da demütig vor Fähigeren und will mir in Zukunft mehr Mühe geben.
Das Wortspiel: ja, ist doof, ich weiß, aber irgendwie mag ich es, bring es nicht übers Herz mich davon zu trennen.

@Jutta:
Jetzt ist schon weniger 'man' drin, hoffe es hilft.

Naja, war doch nix mit kurz.

Liebe Grüße
River

 

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