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Geschichte einer Süchtigen
Seit einigen Monaten schon lebt eine neue Person in unserer künstlichen Familie C3. Eine adlige, blonde Exgermanistin, die gerade auf Tourismusfachfrau umschult. Tadelloser Lebenslauf - gepaart mit weiblichen Reizen - dazu ein leichter Hang zu Dramatik, Kitsch und notorischer Unordentlichkeit. Eigentlich ganz normal würde der durchschnittlich vorurteilende Mensch jetzt annehmen und auch ich schließe, oder besser, schloss mich dem an. Doch diese Person hat einen geheimen Fetisch, in dessen Genuss ich erst Monate nach dem feierlichen Einzug und fröhlichem Ikeamöbel kauf, zusammenschraub, aufstell und immer wieder (bis zum heutigen Tage) kreativ umstell, gekommen bin.
Meine neue Mitbewohnerin ist schokoladensüchtig. Na na na... sagen jetzt einige von euch. Mein Bruder ist ein notorischer Vieltrinker, Mama rauchte sogar während ihrer Schwangerschaft und Oma Mette aus dem vierten Stock drückt seit über vierzig Jahren Bert. Das ist Sucht! Aber an dieser Stelle warne ich euch. Schokoladensucht ist nicht zu verharmlosen! All diese armen Seelen, deren ganze Lebensfreude sich in einem einzigen ranzigen Stück Kakaobutter manifestiert. Nein, meine Mitbewohnerin ist krank, sie benötigt professionelle Hilfe und zwar schnell. Gibt es denn noch kein südbayrisches Kurhotel, dass sich auf Schokosucht spezialisiert hat? Diese Krankheit der Wohlstandsgesellschaft. So was mit Kneippbädern, Radtouren in den Bergen, Diätwurstsalat und pädagogischem Sitzkreis?
Ich, als zurückhaltender Party-Schokoladenesser, ich sage dies bewusst, da ich darauf hinweisen möchte, dass ich mich in diesem Bezug vollkommen unter Kontrolle habe und nur gelegentlich und nie allein und wenn dann überhaupt nur zum Genuss mal eine Praline koste oder ein Überraschungsei breche oder einen Schokoweihnachtsmann am Stiel lutsche. Ja ich möchte ausschreien: Helft uns! Meine Mitbewohnerin ist bereits so weit, dass es zu suchtbedingten Delikten in unserer Wohnung kommt. Neulich stahl sie mir klammheimlich eine frostig funkelnde lila Milka aus dem Kühlschrank. Sozusagen den absoluten Lamborghini unter den Schokoladenriegeln! Zwar hatte ich sie strategisch günstig unter dem bereits regenbogenfarbenen original Fürstenwalder Maasdammerkäse platziert, doch sie schritt wie im Fieber nachts in die Küche und durchwühlte einem jungen Hund ähnelnd jeden Winkel der wirklich sehr verschachtelten und gesundheitlich anzüglich verwüsteten Küche.
Noch heute stelle ich mir mit einem gewissen Schaudern diese arme Kranke vor, wie sie sich durch die dunklen Gänge unserer weit verzweigten Wohnung schleicht mit dem gerade Erlegten. Wie sie einer Hyäne gleich grunzend zurück in ihr Zimmer kriecht, betäubt vom Duft der schmelzenden Masse. Wie sie sich auf ihr Bett wirft, trunken vom Bedürfnis nach Süßem, leise kichernd, taumelnd. Einem Bett das dem Nest einer Elster gleicht. Erbaut aus zerrissenen Packfolien, Leibniz Schokokeks Hüllen, Softcacke Plastikeinlagen, goldenen Tofifee Schälchen und Harry Potter Büchern. Wie sie mit zerzausten Haaren und irrem Blick die Tafel hält, leise stöhnend das Ersehnte entkleidet. An ihm leckt und knabbert, sich in lustvollen erotischen Posen an dem wehrlosen Ding vergeht. So wird es sich zugetragen haben. Ja, so gottlos und befleckt. Das denke ich mir auf jeden Fall, wenn ich hier so nachts an meinem Computer sitze und überlege und natürlich warte bis die Smarties, die ich sorgfältig auf meiner Heizung aufgereiht habe, schön geschmolzen sind, sodass sie ihre ganze Pracht mit einem Male in meinem Mund entfalten und sich der braune Saft so wunderbar über meinem Gaumen verteilen kann und ich aufschreie vor Glück...