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Geschichtenerzähler
„Ich möchte noch eine Geschichte hören bevor ich einschlafe. Ließt du mir noch eine vor, Papa?...Bitte!“
„Also gut, aber bloß eine, danach ist Schluss. Es ist schon spät und deine Mutter wird sonst sauer, wenn du noch so lange auf bleibst.“
Er nimmt sich das Buch von der Kommode neben der Tür und setzt sich auf den kleinen, gelben Stuhl neben ihrem Bett. Er las ihr gerne Geschichten vor und heute wollte er ihr die von den zwei Kindern und der alten Hexe im Wald erzählen. Sie kannte sie schon; er hatte sie ihr bestimmt schon etliche Male vorgelesen, aber sie konnte nicht genug davon haben.
Er ließt ihr vor und als er an der Stelle ankommt, in der die Hexe das erste Mal prüft wie dick die zwei Kinder geworden sind, schläft sie ein. Er klappt das Buch zu, steht auf, legt es bei Seite, deckt sie zu und küsst ihre Stirn. Wie sehr er sie doch liebte. Seinen kleinen Engel.
Die Türe lässt er einen kleinen Spalt offen als er raus geht und geht die Treppen runter zum Arbeitszimmer. Das Licht der Schreibtischlampe und das des Monitors sind die einzigen Lichtquellen, in diesem Raum. Er schüttet sich ein Glas Whisky ein und trinkt es in einem Zug leer.
Er hat noch genug Arbeit vor sich. Sein Roman muss bis Ende September fertig sein und bis dahin, waren es nur noch vier Monate. Er hatte schon knapp 100 Seiten zusammen, aber seit einer Woche hat er eine Schreibblockade.
Er muss immer wieder an den Jungen denken, den er getroffen hatte und an das, was er ihm gesagt hatte.
Er ging die Brunnenallee entlang, auf dem Weg zu einem Buchladen, der seine Neueröffnung feierte und ihn für satte zwei Stunden eingeladen hatte, um Autogramme zu verteilen. Er war bekannt. Zwar nicht so bekannt wie er es gerne wäre, aber für den Anfang reichte es. Als er kurz vor dem Laden war, er musste nur noch hundert Meter weiter und dann die Straßenseite wechseln, fragte ihn plötzlich jemand nach etwas Kleingeld. Er blieb stehen und drehte sich nach der Stimme um. Es war ein Junge, vielleicht zwanzig Jahre alt, der vor ihm auf dem Boden saß, mit einer Decke über den Beinen und einem Becher vor den Füßen. Der Junge schaute zu ihm auf und fragte ihn nochmal, ob er etwas Kleingeld für ihn habe.
„Nein, tut mir leid junger Freund, ich habe nichts dabei.“ antwortete er. Als er grade wieder gehen wollte, sagte der Junge: „Warten Sie, ich kenne sie doch. Sind sie nicht der berühmte Autor, der `Das Leben der grauen Wege´ geschrieben hat?“
Er bekam keine Antwort. „Ja klar sind Sie das. Sie haben doch heute in Jimmy´s Laden Autogrammstunde oder?“
Der Autor war überrascht, dass dieser Obdachlose Junge ihn kannte und antwortete ihm.
„Ja, der bin ich. Woher kennst du mich?“
„Ich habe zwei Ihrer Bücher und ein paar mehr Ihrer Kurzgeschichten gelesen. Haben mir gut gefallen, aber eine Sache würde ich Ihnen gerne sagen."
„Sicher doch, schieß los!“
„Sie sind ein berühmter Autor und ich möchte nicht sagen, dass ihre Geschichten scheiße sind, immerhin habe ich sie selber gelesen und fand sie ganz gut, aber etwas stört mich daran. Warum schreiben Sie so gewählt? Also warum benutzen Sie all diese seltsamen Wörter, die kein normaler Leser versteht? Wollen Sie damit klug wirken und dem Leser das Gefühl geben, dass das, was sie lesen von intellektuellem Wert ist und sie ein Teil des Ganzen werden, wenn sie Ihre Bücher lesen? Sitzen Sie Abends vor ihrem Computer und überlegen, was Sie schreiben sollen? Also was am besten beim Leser ankommt? Überlegen Sie sich, welches Wort Sie an welche Stelle setzten und wie Sie es am besten hervorheben können? Warum tun Sie das? Ihre Geschichten an sich sind gut, aber warum erzählen Sie sie nicht einfach so, wie sie sich in ihrem Kopf abspielen? Warum erzählen Sie sie nicht so, wie Sie sie sich selber erzählen und in Ihrem Kopf sehen? Oder sehen Sie sie nicht? Nein Wahrscheinlich sitzen Sie dort und denken sich was aus, ärgern sich, wenn Sie der Meinung sind, dass das was ihnen eingefallen ist, Ihren Lesern nicht gefallen könnte, und verwerfen es.
Denken weiter nach, bis Ihnen etwas einfällt, von dem Sie überzeugt sind andere begeistern zu können. Die meisten Leser merken so etwas nicht, aber ich schon. Klar ist das nicht verboten und Sie werden bestimmt nicht alleine damit sein, aber trotzdem mag ich Sie nicht. Was ist mit Ihrem Herzen? Fühlen Sie sich gut dabei? Können sie zufrieden einschlafen? Warum täuschen Sie sich selber? Sie haben vielleicht Literatur studiert, aber weder verstehen Sie sie, noch können Sie sie fühlen. Sie sind langweilig. Das was Sie machen kann jeder. Blender! Ich bin vielleicht Obdachlos und nicht so gebildet wie Sie, aber wen interresiert das? Und nun gehen Sie und geben Ihre Autogramme.
Mit diesen Worten drehte der Junge sich von ihm weg und fragte einen der Vorbeigehenden nach etwas Kleingeld.
Wie in einem Traum gefangen, wandte sich der Autor von ihm ab und ging weiter. Er hatte noch nicht ganz verstanden, was der Junge ihm da grade gesagt hatte, aber er fühlte sich schlecht. Er fühlte sich auch während der Autogrammstunde noch nicht besser.
Das war nun eine Woche her und er war immer noch wie gelähmt. Der Junge hatte Recht, ja, aber was sollte er dagegen tun? Er würde schreiben müssen, sonst hatten sie das nächste halbe Jahr kein Geld mehr. Aber ihm viel nichts ein und auch jetzt nicht, wo er an seinem Schreibtisch sitzt und der Monitor ständig das gleiche Bild anzeigt. Seinen Gedanken freien Lauf lassen, die Regeln mal beiseite legen und einfach schreiben? Das war leichter gesagt, als getan. Dafür gibt es bestimmt kein Geld, denkt er sich.
Er steht auf, geht zum Schrank und füllt sein Glas nach. Ein Schluck und es ist leer.