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Geschnappt!!
So, die überarbeitete Version:
Der Wind pfiff um die Häuserecken und peitschte mit aller Kraft durch die Äste der Bäume. Die Sträucher bogen sich unter den Böen und überall knarrte und krachte es.
Die Bauten, die sich die Besitzer der Schrebergärten in mühevoller Arbeit zusammengesetzt hatten, drohten zusammenzubrechen. Die meisten Gartenhäuser schienen nicht sehr stabil zu sein.
Ich kämpfte mich über den matschigen, durchwässerten Hauptweg, der durch die Schrebergartenlandschaft führte. Hier waren die Gärten aneinandergereiht, nur mit einem wackeligen grünen, gelben oder braunen Zaun voneinander getrennt.
Als der Hauptweg endete, bog ich rechts ab. Hier gab es nur noch einen verwilderten alten Spielplatz, der kaum noch besucht wurde, nicht mal von den Stadtangestellten, und eher einem Schlachtfeld glich. Hier trafen sie sich alle paar Tage:
Kike, Santos, Ben, Conny und Maggy. Ich war nur manchmal dabei. Wenn ich Lust auf einen hatte. Und Zeit. Aber davon blieb einem im Berufsleben nicht mehr gerade viel.
Der Spielplatz war leer und still. Nur die Schaukeln quietschten im starken Wind. Das alte Holzklettergerüst war von Moos überwuchert und völlig morsch.
Trotzdem setzte ich mich auf die schräg angebaute Kletterwand. Das abgewetzte Seil, mit dessen Hilfe man sich auf der Kletterwand hinaufhangeln konnte, flatterte im Wind. Da fielen auch schon die ersten Wassertropfen vom stahlgrauen Himmel. Mist, wo blieben die anderen? Wir waren doch verabredet. Sie waren doch sonst immer pünktlich, vor allem meine Conny.
Aus den anfänglichen paar Tropfen wurde allmählich ein Platzregen, der auf mich runter prasselte und mich durchnässte. Ich sprang auf und suchte einen Unterstand.
Doch keiner war in Sicht und, da ich eh schon bis auf die Haut nass war, setzte ich mich auf meinen alten Platz zurück. Irgendwann mussten sie ja mal auftauchen!
Der Regen wollte und wollte nicht aufhören, geschweige denn schwächer werden. Die Tropfen schlugen mich mit einer unangenehmen Heftigkeit, doch ich harrte aus.
Nach einer, wie mir schien, unendlich langen Zeit, wurde der Himmel endlich ein wenig heller. Langsam klarte es auf. Übrig blieben nur noch ein zart gräulicher Himmel, ein leichter Wind, eine durchnässte Landschaft und ich.
Ungefähr eine halbe Stunde blieb ich noch an Ort und Stelle sitzen, dann wurde mir die Warterei zu blöd. Ich stand auf, schüttelte die Wassertropfen aus meinen Haaren und machte mich auf den Rückweg.
Die Straße, in der ich wohnte, beherbergte einen Blumenladen, ein Lebensmittelgeschäft, mehrere Dreifamilienhäuser und ein Hochhaus, in dem ich lebte.
Mit klammen Fingern holte ich den Haustürschlüssel aus meiner Jackentasche und schloss auf. Im Flur begegnete ich Frau Klein, einer alten Dame um die siebzig.
Sie wohnte neben uns und hielt mehrere Tiere, die größtenteils von ihren Enkel versorgt wurden. Ich grüßte sie. Mit einem zahnlosen Lächeln streifte sie mich. Sobald sie aus der Türe war, würde sie die Begegnung mit mir sowieso schon wieder vergessen haben.
Der Aufzug war immer noch kaputt, weshalb ich das Treppenhaus benutzen musste. Schon im vierten Stock ging mir langsam aber sicher die Puste aus.
Verdammte Raucherei!
Endlich, im sechsten angekommen. Ich verschnaufte kurz und schloss dann die Wohnungstüre auf. Der Geruch von Kartoffelbrei und Gemüse stieg mir in die Nase.
Hm, Mittagessen. Das Kantinenessen im Büro hing mir schon lange zum Halse raus.
Ich nahm es so spärlich wie es eben ging zu mir. Rasch hängte ich meine Jacke auf und betrat die Küche. Am Herd stand meine Mutter, mit dem Rücken zu mir.
Ihre langen rotbraunen Haare hatte sie zu einem festen Knoten gesteckt. Sie trug ihre übliche Hausfraugarderobe: Knielanger Rock, Bluse und Schürze. Ihre Füße steckten in einem paar schwarzen, flachen Lederschuhen. Ihre braune Strumpfhose hatte schon ein paar Laufmaschen. „Hallo Mama“, begrüßte ich sie und setzte mich, nass wie ich war, auf die Eckbank an den Tisch. Sie drehte sich mit einer heftigen Umdrehung um. So wirklich sah man ihr ihre 48 Jahre nicht an. Falten hatte sie kaum und nicht eine einzige graue Strähne durchzog ihr dichtes Haar. „Wo bist du denn gewesen?“, fragte sie erschrocken, als sie mein nasses Haar bemerkte.
„Draußen vielleicht?“ Typisch Mama! Besorgt um alles und jeden und gluckenhaft bis zum geht nicht mehr. Dabei sollte man doch meinen, dass sich so was nach fünf Kindern legt. Aber nein, bei ihr wurde es mit jedem Kind schlimmer. Kein Wunder, dass sich mein Vater aus dem Staub gemacht hatte. So sehr ich meine Mutter auch liebe, aber in dieser Sache kann ich sie wirklich nicht verstehen.
„Du solltest dir wenigstens die Haare föhnen“, sagte sie da in meine Gedanken hinein.
„Nein Mama, das geht schon so.“ Seufzend stellte sie Töpfe und Pfanne auf den Tisch. Mit knurrendem Magen schaufelte ich mir Erbsen, Möhren und Kartoffelbrei auf den Teller. Das Fleisch ließ ich in der Pfanne. Seit fünfeinhalb Jahren war ich strikter Vegetarier und trotzdem briet Mama mir immer noch ein Stück mit. Man konnte ja nie wissen ...
„Wo sind denn die anderen?“, fragte ich sie kauend. „Karin ist noch arbeiten, Erik und Max sind in der Schule und frage mich bloß nicht wo Elisa schon wieder ist.“
Ihre Augen bekamen einen traurigen Ausdruck. Elisa war meine älteste Schwester.
Sie trieb meine Mutter mindestens einmal am Tag zur Weißglut. Elisa war eine ganz launische, die nie wusste, was sie wollte und von einer Sekunde auf die andere von superlieb zu megaekelig wechseln konnte. Doch trotzdem, oder vielleicht auch gerade deswegen, kam ich gut mit ihr aus. Sobald sie eine Wohnung gefunden hatte, würde ich mit ihr ausziehen. Das war schon beschlossene Sache!
Ich aß recht schnell und verzog mich dann in mein Zimmer. Auf das Gejammer meiner Mutter über Elisas Unzuverlässigkeit hatte ich wirklich keine Lust. Außerdem wollte ich versuchen, Conny oder Santos auf dem Handy zu erreichen.
Ich verstand einfach nicht, wieso die Clique mich im Stich gelassen hatte. Das war einfach nicht ihr Ding. Nun gut, ich kannte Santos nur aus der Grundschulzeit und Maggy war mit Elisa recht gut befreundet, sonst hatte ich sie alle nur zufällig kennen gelernt. Ich war auch kein Mitglied der Gruppe, aber ein gern gesehener Gast, der ab und zu mal auftauchte und fröhlich einen mitrauchte. Mehr nicht. Okay, ich mochte Conny ganz gerne. Na gut, mehr als gerne, wenn ich es zugeben soll. Aber das soll noch keiner wissen. Wir treffen uns nur heimlich und leider eher selten.
Dass sie nicht aufgetaucht waren, das wurmte mich jetzt natürlich schon. Ich wählte Santos Nummer. Ließ es drei-, viermal klingeln. Niemand meldete sich. Dasselbe bei Conny. Mensch, was war bloß los? Unruhig ging ich im Zimmer auf und ab. Da stimmte etwas nicht. Irgendetwas war faul. Jetzt konnte nur noch einer wissen, was mit den Fünf los war. Schnell holte ich wieder meine Jacke. „Du willst doch wohl nicht schon wieder raus?“, rief meine Mutter aus der Küche, „zieh dich doch wenigstens eben um...“
Wolken zogen über den Himmel, ließen ein kleines Stückchen blau erscheinen, verschlossen es aber sofort wieder. Ich rannte durch die Innenstadt, ohne Augen für die Welt um mich herum zu haben. Ich musste ihn einfach finden. Musste! Nur er konnte wissen, was mit ihnen war und wo sie sich gerade aufhielten. Kike hatte mir einmal seinen Laden gezeigt.
Ich schlug Haken und rannte, als ob es um mein persönliches Leben ginge. Lange würde das meine Lunge nicht mehr durchhalten. Keuchend und nach Luft ringend blieb ich schließlich vor einem Kiosk stehen. Hier war er! Der Kiosk des Türken Murat Özcan, einem Bekannten der Fünf. Ich ging hinein. Ein kleines Glöckchen klingelte leise, als ich die Tür öffnete. Es war dunkel und es roch ein wenig nach Petroleum und ein kleines bisschen nach Tabak und Alkohol. Nur eine einzige Lampe brannte. Sie stand neben der Kasse auf einem kleinen Tischchen. Hier konnte man einiges mitgehen lassen ohne groß Übung darin zu haben.
Murat kam aus einem Hinterzimmer, das durch einen Vorhang vom Verkaufsraum abgegrenzt war. Seine schwarzen Haare hingen ihm wirr im Gesicht und er war unrasiert. Obwohl ich ihn erst zweimal kurz getroffen hatte, erinnerte er sich an mich und begrüßte mich mit Namen. Ich fragte umgehend nach Kappe. Kappe war der Dealer der Clique und überhaupt der Dealer in der Stadt. Jeder, der auch nur einen Ansatz in diese Szene rein kam, kannte Kappe schon nach kurzer Zeit. Er besorgte den Stoff für die Fünf. Hauptsächlich Koks und Gras. Ich kannte ihn nicht sonderlich gut. Doch Murat zuckte bedauernd die Schultern: „Tut misch sehr Leid Mike, aber isch ha-be ihn auch schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.“ Seltsam, wirklich seltsam!
„Danke, Murat“, sagte ich und verließ niedergeschlagen den Kiosk.
Mir blieb keine andere Wahl, als nach Hause zu gehen und abzuwarten, dass sich jemand meldete oder ich Santos oder Conny ans Handy bekam.
Langsam trottete ich den ganzen Weg zurück. Ratlos und nichtwissend, was ich jetzt machen sollte. Als ich am Marktplatz vorbeikam, stockte ich. Hier, direkt neben dem Rathaus, war das Polizeipräsidium. Doch es war anders als sonst. Normalerweise war hier alles ruhig. Der Parkplatz der Polizei, wo sonst immer Unmengen von Polizeiwagen gestanden hatten, war, bis auf zwei Autos, vollkommen leer. Am Eingang des Gebäudes standen zwei Grünlinge und beobachteten das Geschehen auf dem Platz. Alles anders als sonst. Aber wieso? Neugierig ging ich auf die beiden zu.
Misstrauisch sah mir der eine Polizist entgegen. Er war bestimmt schon Ende vierzig, hatte lichtes schwarzes Haar und einen Schnurrbart, der schon an den Spitzen ergraute. Sein Kollege beachtete mich nicht einen Deut und sah an mir vorbei. „Was möchtest du?“, fragte der Schwarzhaarige bestimmt und auch ein wenig ärgerlich. „Entschuldigung, ich hätte nur gerne eine Auskunft“, erklärte ich. Er zog die Augenbrauen hoch und wirkte nicht einen Punkt freundlicher. „Ja, dann frag mal“, drängte er mich. Doch bevor ich fragen konnte, hielt ein Polizeiwagen hinter mir auf der Straße. Erschrocken drehte ich mich um. Zwei Grüne sprangen aus dem Fahrzeug und öffneten die Hintertüren.
Der eine zog Kappe auf der einen Seite raus. Auf der anderen Seite stiegen Santos und Conny aus.
Ich erschrak zutiefst und verschluckte mich fast beim Luftholen. Santos blickte nun auf und sah mir in die Augen. Auch Kappe bemerkte mich, als er den Blick vom Boden abwandte. Conny blickte starr aber sah mir direkt in die Augen. Sie waren feucht und glitzerten. Sie erinnerten mich an den Himmel von heute Nachmittag. Alle drei sahen fürchterlich aus. Graue Gesichter, traurige Augen.
Mit hartem Griff packten die Polizisten meine Freunde und führten sie an mir vorbei ins Gebäude. Ich schaute ihnen nach, bis die große Tür hinter ihnen zufiel. Ein letztes Mal sah ich Connys Blick.
Ohne noch ein weiteres Wort an die Polizisten zu verlieren, drehte ich mich um und ging nach Hause.