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Gesichtsverlust
„Du bist doch nur neidisch, dass ich wieder einen hätte haben können, und du nicht!“, lachte Valerie fröhlich und leicht angeheitert. Sie hatte den Abend mit ihrer Freundin genossen und wartete, während Barbara die Haustür des Hauses in Köln-Lindenthal aufschloss. Irgendwie beneidete Valerie ihre Freundin um dieses Haus, das Barbara geerbt hatte, nachdem ihre Eltern so früh gestorben waren.
„Das stimmt nicht! Ich bin überhaupt nicht neidisch!“, war der schwache Versuch Barbaras, sich zu verteidigen, aber Valerie spürte, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Ihre Freundin war neidisch. Valerie schloss die Tür hinter sich und folgte ihr durch den Flur ins Wohnzimmer des frei stehenden Einfamilienhauses. Glücklich sagte sie „Ist wie in den alten Zeiten, was?“
„In welchen alten Zeiten?“, fragte Barbara argwöhnisch und drehte sich um, um ihrer Freundin ins Gesicht zu sehen.
„Wir haben schöne Zeiten erlebt, auch wenn Du …“ begann Valerie und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie brach unwillkürlich ab, als ihr der furcht erregende Ausdruck in Barbaras Gesicht bewusst wurde.
„ … immer so fett warst?“, fauchte Barbara.
„Das wollte ich überhaupt nicht …“ begann Valerie erschrocken und wurde mitten im Satz unterbrochen.
„Du hast dieses Wort noch nie benutzt, Valerie, und ich dachte, du würdest es auch nie benutzen.“
„Ich hab doch schon gesagt, dass ich überhaupt nicht …“, und wieder wurde die neunundzwanzigjährige Frau unterbrochen.
„Du weißt doch, dass genau dieses eine Wort der Grund für meine moralischen Anfälle ist, dass ich deswegen Depressionen habe und mich am liebsten umbringen würde. Aber ich werde mich nicht umbringen.“ Valerie bemerkte die unterschwellige Hysterie in Barbaras Stimme.
„Jetzt komm schon. Entspann dich. Wir trinken beide noch was“, lächelte Valerie mit einem um Vergebung bittenden Blick. Sie wusste zwar nicht, was sie Falsches gesagt hatte, aber sie versuchte trotzdem, die Sache wieder ins Lot zu bringen.
„Du hast mir nie einen abgetreten!“
„Was? Wie abgetreten?“, fragte Valerie perplex, weil sie Barbaras Gedanken nicht folgen konnte.
„Immer hab ich nur den dicken Freund von deinen Stechern abbekommen. Und nie hast du gesagt: ‚Hey, das ist Barbara, meine Freundin. Sie ist solo, ich bin es nicht!’“ Während dieser Worte sah sie Tränen in Barbaras Augen.
„Es hätte keinen Sinn gehabt, Barbara. Das weißt Du so gut wie ich! Kein Kerl springt auf so was an“, versuchte Valerie ihre Freundin zu beruhigen und überdachte Barbaras verrückte Forderung.
„Ja, wie in der guten alten Zeit, was? Du warst immer die Schönste in der Klasse, sexy angezogen, schlank und keinem Flirt abgeneigt. Und auf der Uni war es genau das Gleiche.“
„Mensch, komm, Barbara, jetzt mach den schönen Abend nicht kaputt! Lass uns noch eine Weile fernsehen!“
„Ja, vielleicht bringen sie eine Show mit einer richtig Dicken!“ keifte Barbara und schwieg, starrte Valerie an, der langsam unbehaglich wurde. Mit Barbaras Blick stimmte wieder etwas nicht.
„Du hast es immer schon gedacht, oder?“, fragte Barbara dann mit zitternder und jetzt offen hysterischer Stimme.
„Jetzt spinn nicht! Dazu hab ich keine Lust!“, sagte Valerie und in ihrer Stimme bemerkte sie ihren langsam aufkeimenden Zorn.
„Also stimmt es!“, und der beherrschte Hass in Barbaras Stimme war unüberhörbar.
„Mädchen, jetzt lass es endlich gut sein!“, schrie Valerie, die vor Abscheu über Barbaras Verlangen nach Demütigung nicht mehr anders konnte.
„Sag es! Alle anderen waren wenigstens ehrlich zu mir. Sie haben mir wehgetan und haben mich jahrelang ‚Masse’ genannt“, schnaubte Barbara erbittert. Dann ging sie fauchend zum Angriff über. „Aber du zerfetzt mich jetzt mit der Einsicht, dass du mich seit der fünften Klasse belogen hast. Die ganze Zeit hast du eine Maske getragen und nicht einmal, als wir studiert haben, hast du sie abgenommen! Du warst meine Freundin, aber jetzt erkenne ich, dass du noch fieser und gemeiner bist als alle anderen, die mir wenigstens gesagt haben, dass ich fett bin!“ Weinend, mit zornroten Augen stand Barbara zwischen Valerie und dem Fernseher.
Valerie begann, sich auf eine der Tröstungsstunden vorzubereiten. Sie waren immer dann fällig, wenn Barbara ihren ‚moralischen’ hatte,
Und wurde von den nächsten Worten ihrer Freundin voll erwischt.
„Du eitle, blöde Schlampe! Du kannst ja nicht einmal ungeschminkt mitten in der Nacht auf die Toilette gehen! Und außerdem gehst du mit jedem ins Bett!“
Valerie prallte bei der Beleidigung zurück, wusste nicht, was sie sagen sollte, und schwieg die wenigen Momente, bis der Zorn in ihr kochte und sie etwas sagen musste.
„Du willst es wissen? Du willst es wirklich wissen?“, fragte Valerie jetzt giftig und stand auf, strich sich dabei die Haare aus dem Gesicht. „Dann werde ich dir sagen, was du hören willst. Und genau aus diesem Grund. Weil du es in deinem masochistischen Verlangen nach noch mehr Qual hören willst. Auch wenn es nicht stimmt!“
Valerie holte Luft und spuckte die nächsten Worte förmlich aus.
„Ja, ich habe seit der fünften Klasse gedacht, dass du eine fette Qualle bist und in einem Sportdress wie eine Bratwurst aussiehst!“ Sie ging langsam mit in die Hüften gestemmten Händen auf ihre Freundin zu. „Ich habe mir dich als Freundin rausgesucht und die ganzen zwanzig Jahre behalten, weil du so fett bist. Nur deswegen. Und ja, ich war die Klassenschönheit und neben dir pickligem Schweinchen sah ich noch besser aus. Noch viel besser.“ Valerie lachte gepresst und fuhr dann fort. „Weißt du nicht, dass sich schöne Frauen hässliche Freundinnen suchen, damit sie noch schöner aussehen?“
Barbara war in die Ecke neben dem Fernseher zurückgewichen und schluchzte, während Valerie zum vernichtenden Schlag ausholte. Vielleicht würde sich Barbara dann endlich besser fühlen und sie konnten vernünftig reden.
Oder sie würde wenigstens mit diesem Quatsch aufhören. Nie hatte es für Valerie eine Rolle gespielt, wie viele Kilos ihre Freundin auf die Waage brachte.
„Du brauchst dich aber eigentlich nicht zu beschweren. Du hast häufig auch einen abgekriegt. Den dicken Freund des Schönen. Männer machen das nämlich genauso. Also kann deine Scheißlaune heute nicht am fehlenden Sex liegen, oder?“, lachte sie gehässig und stand jetzt direkt vor Barbara, die sich mit den Beinen fest in die Ecke stemmte. „Mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke, wie das aussehen muss, wenn sich zwei solche Fleischberge begatten! Sag mir, wie fühlt sich so was an?“, höhnte Valerie und sah in die Augen ihrer zutiefst getroffenen Freundin. Ihr drehte es vor Mitleid beinahe den Magen um, aber es musste sein. Nach zwanzig Jahren Freundschaft, in der Barbara alle paar Wochen einen moralischen Anfall hatte und tagelang getröstet werden musste, sollte Barbara doch eigentlich gemerkt haben, dass sie ihre Freundin war. Durch dick und dünn, ohne dass ihre Körperfülle eine Rolle dabei spielte.
Valerie trat ein paar Schritte zurück und Barbara fing sich. Fing sich so schnell, dass Grimm ihr Gesicht verzerrte, als sie Valerie die Antwort entgegenschleuderte. „Also war wirklich alles nur Verstellung, alles nur Maskerade. Wie ich es mir gedacht habe. Du hast die letzten zwanzig Jahre eine Maske getragen. Und heute ist sie endlich gefallen!“, lachte Barbara ihr dreckig ins Gesicht.
„Ach, leck mich doch!“, sagte Valerie, drehte sich um und ging zum Sofa zurück.
Sie hatte den hundert Kilo, die sie von hinten ansprangen und umrissen, nichts entgegenzusetzen.
Valerie strampelte, trotzdem sie keine Chance hatte und versuchte, um sich zu schlagen, während Barbara auf ihr lag und ihr das Knie in den Bauch drückte. Die Schmerzen waren fürchterlich und sie schrie.
„Jetzt schreist du vor Schmerzen! Warte nur, bis ich mit dir fertig bin, du Schlampe!“, keuchte Barbara auf ihr und setzte sich auf ihre Brust, drückte ihr die Knie auf die Oberarme. Dann verlagerte sie das Gewicht auf die Knie.
Valerie war bewegungsunfähig. Sie konnte zwar noch strampeln, aber das tat nichts zu Sache, half ihr überhaupt nicht. Entsetzt schrie sie auf, als sie in Barbaras verzerrte Fratze sah und gleichzeitig zwei Hände an ihrem Hals spürte. Ihr Schrei kam über ein leises Anfangsstadium nicht hinaus.
„Ja, schau mich nur mit weit aufgerissenen Augen an! Du hast mich zwanzig Jahre betrogen und benutzt, und das zahle ich dir jetzt heim“, fauchte Barbara. Sie beugte sich nieder, so dass ihrer beider Gesichter nur eine Handbreit voneinander entfernt waren. „Ich genieße die schreckliche Angst in deinen Augen. Das ist die gerechte Strafe, du Schlampe!“, lachte Barbara gehässig und richtete sich wieder auf.
„Pfeif, wenn du keine Luft mehr kriegst!“, waren die letzten Worte, die Valerie noch erreichten, bevor sie, halb wahnsinnig vor panischer Angst, das Bewusstsein verlor.
Das Gefühl, erwürgt zu werden, war das erste, das sich in Valeries langsam auftauchendem Bewusstsein meldete. Sie hustete automatisch und sog dann Luft in ihre Lungen. Pures Glück breitete sich in ihr aus, als nichts der unverbrauchten Luft den Weg versperrte. Glücklich blieb sie liegen, bis sich weitere Eindrücke in ihrem Kopf meldeten. Muskelschmerzen in den Oberarmen, ein unangenehmer, leichter Druck an den Hand- und Fußgelenken.
Valerie riss die Augen auf.
Sie starrte an die Decke des Gästezimmers in Barbaras Haus. Ihr nächster Blick ging durch das Fenster. Draußen stieg die Sonne auf und tauchte das Zimmer direkt in strahlendes Morgenlicht.
Erleichtert atmete sie aus und wollte sich die langen schwarzen Haare aus der Stirn streichen. Lediglich die dünne Nylonschnur, die ihr um beide Handgelenke gebunden waren, verhinderte diesen beinahe schon automatischen Vorgang. Ihre Arme hingen rechts und links über das Bett und wenn sie einen Arm heben wollte, spürte sie am anderen den Zug der Schnur.
Sie erschrak nicht. Sie war entsetzt.
Barbara musste sie in ihrer Wut gefesselt haben.
Valerie wollte die Beine heben, aber diese Bewegung wurde ebenfalls schmerzhaft gestoppt. Ihre Beine waren gespreizt, hingen rechts und links über die Bettkante und waren ebenfalls unter dem Bett mit einer Schnur verbunden.
Angst ließ ihre Innereien verkrampfen und sie spürte ihr Herz im Hals klopfen.
Sie riss den Kopf hoch und schrie, so laut sie konnte, nach ihrer Freundin, ließ ihn wieder fallen.
Nach dieser Bewegung spürte sie die Luft ihr ganz fein über Dekollete und Busen streichen. Sie erschauderte.
Valerie starrte eine ganze Weile an die Decke und flüsterte furchtsam: „Lass das nicht wahr sein! Das nicht! Das darf sie nicht getan haben!“
Aber sie spürte es überall. Sie war nackt.
Und als sie das realisierte, rief Valerie weinend nach ihrer Freundin. Sie verfluchte sich dafür, dass sie diesen Streit nicht sofort abgebrochen hatte. Nein, sie hatte ja im Gegenteil noch dafür gesorgt, dass er eskalierte!
Sie zog versuchsweise an ihren Fesseln. Direkt schnitten die dünnen Schnüre in ihre Haut und sie heulte auf, brach den Versuch sofort ab.
Sie wusste nicht, wie lange sie reglos an die Decke gestarrt hatte, bevor sie im Randbereich ihres Blickfeldes eine Bewegung sah. Sie drehte den Kopf während sich die Schlafzimmertür einen Spalt öffnete. Aber es kam niemand herein. Vielleicht war Barbara gar nicht da. War die Tür zu gewesen oder nur angelehnt?
Trotzdem rief sie: „Barbara, lass den Scheiß! Bitte, du hast mich genug gequält! Ich sag niemandem etwas davon! Das bleibt unser Geheimnis!“
Dann schwieg sie und wartete auf eine Antwort.
Sie wollte schon wieder nach Barbara rufen, als die Antwort von hinter der Tür kam.
„Sag mir, wie fühlt sich so was an?“
Die dumpfen Worte explodierten in Valeries Kopf und die entstehenden Bilder ließen sie hysterisch kreischen, während sie ungewollt ihren Kopf hin und her warf.
„Tu das nicht! Barbara, tu es nicht!“
Sie hörte noch die Vordertür des Hauses ins Schloss fallen und dann war sie allein mit ihrer Angst.
Sie versuchte, sich zu befreien, aber Barbara hatte sie mit einer festen Nylonschnur gefesselt, die sich bei jedem Zug sofort tiefer in ihre Haut grub. Nachdem das erste Blut träge und klebrig an ihren Händen entlang kroch, gab sie es auf. Sie konnte dieses Gefühl nicht ertragen.
Sie weinte eine Weile, dann rief sie um Hilfe, obwohl sie wusste, dass niemand sie hören würde. Stolz hatten ihr Barbaras Eltern vor Jahren einmal erklärt, dass die Fenster dreifach verglast waren und weder Wärme noch Geräusche durchdringen ließen. Sie hatten die Fenster gleich nach dem Kauf einbauen lassen, genauso, wie die doppelte Wärmeisolation an der Fassade angebracht wurde. Deshalb würde über die Wände auch kein Geräusch nach draußen dringen können.
Sie war verängstigt, hatte Schmerzen an den Handgelenken und musste auf die Toilette. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Sie schrie immer wieder, abwechselnd vor Angst und Zorn. Sie rief um Hilfe und bettelte dann wieder nach Barbara. Dann kanalisierte sie ihre Angst, verdrängte sie und schaute zu, wie sich die Blätter der Bäume, die sie durch die Fenster sehen konnte, im Wind bewegten, folgte den Vögeln mit ihren Augen. Sie tat alles, um nicht an die aufkommenden Gefährten Hunger und Durst denken zu müssen, während sie gleichzeitig versuchte, die Schmerzen der drückenden Blase zu ignorieren. Aber am wichtigsten war, dass sie sich nicht der Angst hingab, die in eine Ecke gedrängt in ihrem Geist wühlte. Wenn sie ihre Angst nicht im Griff behielt, wäre sie in ein paar Stunden nur noch ein wimmernder Haufen Mensch.
Also konzentrierte sie sich auf die Bäume, die Vögel und die Sonne, die den Zenit des Tages überschritt und sich wieder senkte. Das lichtdurchflutete Zimmer wurde dunkler, als die Schatten länger wurden, und die später beginnende Finsternis öffnete ihrer Angst den Weg aus dem abgeschotteten Bereich ihres Bewusstseins, der jetzt schon total zerwühlt war. Sie hatte ihre Angst die ganze Zeit einigermaßen im Griff behalten, aber jetzt drängte sie sich zurück in ihr Bewusstsein, stärker und mächtiger als zuvor.
Sie schrie wieder um Hilfe, verzweifelt an ihren Fesseln zerrend, gab auf, als ihre Handgelenke Bänder aus Blut und Schmerzen trugen.
Die Angst wühlte weiter und Valerie begann zu wimmern.
Valerie schrak aus ihrem verängstigten Halbdämmern, als sie ein Geräusch an der Tür flüstern hörte. Sie drehte den Kopf und starrte in die Dunkelheit, zerrte kreischend an ihren Fesseln, während sich die Tür ganz langsam öffnete. Die Schmerzen waren egal, denn ihrem Instinkt kam es einzig darauf an, die Angst hinauszuschreien und mit sinnlosen Bewegungen abzureagieren, um nicht verrückt zu werden.
Ihre Schreie wurden zu einem fast glücklichen Schluchzen, als sie erkannte, dass hinter Barbaras Schatten in der Dunkelheit keiner der fetten jungen Männer folgte, um ihr zu zeigen, wie sich so etwas anfühlte.
„Was hast du vor?“, schluchzte Valerie erschöpft. „Bitte, lass mich gehen. Du hast den Spaß weit genug getrieben. Ich hab dir doch nichts getan! Und ich habe auch nichts gesagt!“
„Genau, du hast mir nichts getan und nichts gesagt. Ich wünsche mir, du hättest mich auch ausgelacht wie die anderen. Dann wäre es mir erspart geblieben, zu erfahren, dass du mich zwanzig Jahre nur benutzt hast, alles hinter der Maske der Freundschaft“, antwortete Barbara traurig und sah ihr dabei ins Gesicht.
Valerie erkannte, dass Barbara tatsächlich traurig war und fragte sich, ob ihre Freundin auf einem inneren Trip war, der den Blick auf die Wirklichkeit verwehrte. Hatte sich Barbara in ihre eigene Welt zurückgezogen? War in ihr ein Schalter endgültig gefallen? Eine Sicherung irreparabel durchgebrannt?
Valerie schluckte trocken, während ihr Tränen in die Augen traten, als sie an die Folgen dachte.
Würde sie sie weiter quälen? Würde sie ihr vielleicht sogar wehtun? War sie vielleicht in Lebensgefahr?
Die latent vorhandene Angst steigerte sich wieder und ihr Herzschlag beschleunigte. Panisch wurde Valerie aber erst, als Barbara die Spritze in ihr Blickfeld hob.
Angsterfüllt probierte sie, irgendwie von der Spritze weg zu kommen und versuchte, sich mit den Beinen zum Kopfende des Bettes zu schieben. Weg, nur weg von der Spritze. Dabei musste sie einfach fragen, nur um das dringendste Problem zu klären.
„Was ist das? Was ist da drin? Oh Gott, bitte hör auf!“
„Komm schon, ganz locker, dann tut’s nicht weh! Es ist ein lang anhaltendes Narkotikum“, säuselte Barbara bekümmert und setzte die Spritze an Valeries ausgestrecktem rechten Arm an. „Ich habe nie gewusst, dass du solche Angst vor Spritzen hast“, lachte sie trüb.
„Ich habe Angst vor dir, nicht vor der Spritze! Lass mich gehen!“, kreischte Valerie hilflos und versuchte weiter, ihren Kopf mit den Beinen durch die massive Wand hinter sich zu drücken.
Barbara sah sie mitleidig an, dann stach sie zu, während Valerie weiter schrie.
„Was hast du mit mir vor? Barbara! Bitte!“
Barbara gab keine Antwort, leerte die Spritze professionell in ihre Vene und legte sie weg. Das nächste, das Valerie sah, war ein Skalpell, das ihr Barbara ganz nahe ans Auge hielt. Die Spitze der Schneide zeigte genau ins Zentrum ihres linken Auges.
Es dauerte, bis Valerie bemerkte, dass der spitze, in den Ohren schmerzende Ton ihr Schrei war. Sie war kaum noch bei Sinnen, zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Bevor sie ganz überschnappte, wirkte das Betäubungsmittel und nahm ihren kümmerlichen Rest Verstand mit auf einen Trip. Das Letzte, das sie bewusst wahrnahm, war das feuchte Bett unter ihrem Hintern und der langsam nachlassende Druck in ihrer Blase.
Valerie erwachte beim letzten Licht des Tages und ihr erstes und für lange Zeit einziges Gefühl war das Brennen in ihrem Gesicht. Sie wimmerte nur, hatte keine Kraft zu schreien und fragte sich, was Barbara mit ihrem Gesicht gemacht hatte. Sie ertrug die Frage kaum, musste aber doch und fürchtete sich gleichzeitig vor der Antwort.
Die Schmerzen packten sie wieder und ihr Körper ließ sich in einen unruhigen Schlaf fallen, um sich zu schützen.
Valerie war ihrem Körper so dankbar.
„Valerie! Valerie!“ flötete Barbaras Stimme.
Valerie antwortete nicht gleich. Erst als sie die Schmerzen in ihrem Gesicht mit voller Wucht spürte, raunte sie mit rauer Stimme den einzigen Gedanken, der in ihrem Kopf zu finden war. „Was hast du mir angetan?“
„Ich habe dafür gesorgt, dass du weiterhin eine Maske tragen musst, meine kleine Freundin. Ich habe in deinem Gesicht Schnitt an Schnitt gesetzt, nicht zu tief, nur tief genug, dass sich hässliches Narbengewebe bilden wird. Du wirst nie wieder unter die Leute gehen. Ich kenn dich, du bist ja in der WG morgens nicht einmal ungeschminkt und ungestylt in die Küche gekommen.“ Barbara kicherte, während Valeries Verstand sich strikt weigerte, zu realisieren, was ihre Worte bedeuteten.
„Du, es tut mir leid, ich muss zur Arbeit. Heute Abend werde ich dir vielleicht schon eine Maske mitbringen. Eine ganz Frische. Wenn wir sie gut pflegen, hält sie vielleicht ein paar Tage. Bis später, Kleines.“
Die Haustür fiel hinter Barbara in dem Moment ins Schloss, als Valeries Verstand seine Weigerung zu realisieren aufgab. Plötzliches Entsetzen und unsägliche Qual entluden sich gleichzeitig in einem tierischen Schrei.