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Gespräch im Morgengrauen
Gespräch im Morgengrauen
Emil Lizio hat noch eine halbe Stunde Streifendienst. Es ist fünf Uhr früh. An den Berghängen ziehen Nebelschwaden, verfangen sich in Schluchten, wabern hoch und lösen sich in feinen Schleiern auf. Im Park hängt vage Dämmerung. Sie lässt den Morgen ahnen, gewährt ihm aber noch Zeit, sich aus der Nacht zu lösen.
Emil Lizio sieht flüchtig zum See und zu den Bänken, die das Gartenbauamt erst vor wenigen Tagen aufgestellt hat. Er rechnet kaum damit, einen dieser armseligen Bankschläfer anzutreffen, deren Papiere er ordnungshalber zu kontrollieren hat. Aber da sitzt doch einer! Lizio brummt:
„Geht das schon los. So früh, noch nich mal April. Is ja noch viel zu kalt“, und seufzt: „Kannst deinen Feierabend wieder mal vergessen, Emil!“
Er geht zu dem Mann, stellt sich neben ihn und fragt:
„Haste nich kalt?“
„Es macht mir nichts“, antwortet der Mann und blickt freundlich zu ihm auf.
'Der macht keine Schwierigkeiten', denkt Lizio erleichtert und fragt weiter:
„Was machst ’n hier?“
„Ich warte.“
„Auf was?“
„Dass die Menschen aufwachen.“
„Oha“, stösst Lizio aus, „gibt’s da nichts Besseres zu tun?“
„Was könnte es Besseres geben?“
„Arbeitslos?“
„Nein“, lächelt der Mann, „ich habe genug zu tun.“
„Na, was tuste dann, erzähl mir das mal, das interessiert mich nämlich.“
„Ich“, der Mann hebt die rechte Hand und zeigt zu den Häusern im Ort, „ich bin bei den Menschen, höre ihnen zu, spreche mit ihnen und ...“
Lizio unterbricht ihn ungeduldig:
„Und wartest, dass sie aufwachen, was? Red mal vernünftig! Oder ...“, er zögert misstrauisch, zieht die linke Augenbraue hoch und fragt lauernd: “Haste Krawall im Sinn, Schlägerei, Lärm oder so?“
„Das nützt nichts!“
„Was!“
„Schlagen, Lärmen! Sie müssen allein aufwachen, jeder für sich, sonst merken sie’s ja nicht.“
„Was, Mensch!“
„Dass sie geschlafen haben, all die Zeit.“
Es wird allmählich heller. Lizio erkennt ein paar Narben im Gesicht des Mannes. Ein eigenartiges Mitleid steigt in ihm auf. Er hat ein weiches Herz und noch viele Fragen. Aber seine langjährige Erfahrung mahnt ihn zu Vorsicht und Pflichterfüllung.
„Zeig mal deine Papiere!“
„Ich habe keine.“
„Dein Name?“
Der Mann sagt ihn so leise, dass Lizio ihn kaum recht versteht. Trotzdem erschrickt er, besinnt sich einen Moment und spricht dann sehr hastig, als müsse er sich rechtfertigen:
„Ich hab mal einen erwischt, der hiess auch so, war Spanier, glaub ich, oder Portugiese, eingeschleust jedenfalls. Bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze. Arbeitete in der Maschinenfabrik, illegal! Bist du so einer?“
Der Mann schüttelt den Kopf und schweigt. So unbegreiflich, so fürchterlich und rätselhaft ist dieses Schweigen, dass Lizio spürt, wie sein Herz klopft und sich kalte Schweissperlen auf seiner Stirn bilden. Sein Uniformkragen klebt am Hals, Angst breitet sich in ihm aus, wie die Stille im Park: Die ersten Vögel sind wieder verstummt und auch die kleinen Wellen schwatzen nicht mehr am Seeufer.
„Mensch“, stammelt er, „fass dich kurz. Ich bin noch im Dienst. Hab die ganze Nacht Streife gehabt. Bin durch die Strassen gelaufen. Nix war los, rein gar nix. Jetzt will ich meinen Feierabend, der steht mir zu!“
Er steht einen Moment hilflos wie ein Kind vor dem Mann. Dann richtet er sich auf, räuspert sich und sagt streng:
„Ich muss dich zur Wache bringen, verstehst du? Ich muss meinen Dienst ausführen, meine Pflicht erfüllen! Dafür werd ich bezahlt. Du hast keine Papiere. Ich muss gradestehen, wenn was passiert, muss mich verantworten! Tut mir leid, aber ...“, er zuckt mit den Schultern. Der Mann nickt.
„Also, gehen wir.“
Sie gehen durch den heller werdenden Park. Plötzlich bleibt Emil Lizio stehen und lauscht:
„Haste das gehört?“
„Nur unsere Schritte, was sonst?“
„Da hat doch ’n Hahn gekräht. Hast du nicht gehört? Da! Grad nochmal! Wo gibt’s denn hier Hähne, is doch gar nicht möglich hier in der Stadt. Ich kenn doch die Gegend. Da gibt’s schon lange keine Hähne mehr.“
„Aber wenn du ihn doch hörst?“
„Da, schon wieder!“ Lizio greift sich an den Kopf, stammelt:
„Das darf doch nich wahr sein sowas!“ Und dann fragt er mit heiser gepresster Stimme:
„Warum läufste nich weg, Mensch!“
„Ich will dir keine Schwierigkeiten machen.“
„Wirst aber selber welche kriegen, das sag ich dir! Ohne Papiere glaubt dir keiner was, nich ein Wort!“
Der Mann lächelt und legt ihm die Hand auf die Schulter: „Glaubst du mir denn?“
Lizio schweigt betroffen. Dann stösst er die Hand weg und keucht:
„Hau ab, Mensch! Schlag dich in die Büsche, ich will mit all dem nix zu tun haben!“
Der frühe Morgen hat die Dämmerung verdrängt und Emil Lizio steht wieder allein bei den leeren Bänken im Park.
„Je …“, murmelt er, schüttelt den Kopf und blickt sich vorsichtig um, „da könnte ja jeder kommen.“
Nachdenklich, fast ein wenig traurig bleibt er eine Weile stehen. Dann schiebt er den Ärmel seiner Uniformjacke zurück und sieht auf die Uhr an seinem Handgelenk.
„Nix gewesen, Emil, halb sechs, Feierabend, kannst nach Hause gehn.“