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Gestatten Hunzinger oder die Einsamkeit des Langstreckenläufers
Gestatten Hunzinger
Jetzt hätte er ihn beinahe verpasst, den Bus. Der Busfahrer ist etwas mürrisch und öffnet noch einmal, ein letztes mal wie er betont, die Tür. Herr Hunzinger steigt ein und irgendwie sind ihm die Blicke von den Fahrgästen unangenehm. Schließlich haben sie ihn erst durch ihre Fenster zum Bus rennen sehen, und jetzt steht er mitten unter ihnen. Herr Hunzinger glaubt das es blöd aussieht wenn er rennt. Er bewegt dabei kaum die Arme, sie kleben wie Stöcke am Oberkörper. Als ob er am Morgen nach dem Duschen das Deo mit dem Pritt-Stick verwechselt hätte, hatte seine Schwester mal gesagt als sie noch jung waren. Seine Schritte sind nicht besonders groß und nicht zielstrebig, obwohl Herr Hunzinger sehr lange, dünne Beine hat. Sein Sportlehrer hatte einmal gesagt er hätte die Figur eines Langstreckenläufers, nur ein bisschen zu mickrig. Dagegen hat Herr Hunzinger aber nie etwas unternommen, wie man sieht. Herr Hunzinger ist knapp einssiebenundachtzig lang wiegt um die 70 Kilo und wirkt wie ein schlaksiger, desorientierter Riese. Einige sagen ihm eine Ähnlichkeit mit der Comicfigur Gaston nach. Herr Hunzinger findet in der vorletzten Reihe des Busses einen Sitzplatz. Der Fensterplatz ist von einem jungen, blonden Mädchen besetzt und so setzt sich der Herr Hunzinger an den Außenplatz zum Mittelgang hin. Jetzt interessiert sich keiner der Fahrgäste mehr für ihn, schließlich sitzt er und verhält sich wie jeder andere auch. Auf der Rückseite seines Vordersitzes liest er die Schmierereien: „Murrat I love you“, darunter ist ein Herz gemalt mit einem Pfeil. Überall drum herum Schmierereien, die Herr Hunzinger nicht entziffern kann. Manchmal liest er ein verblasstes „Fuck“ oder „Fotze“, mal mit V mal mit F. Herr Hunzinger wühlt in seiner Tasche stopft sich Kaugummi in den Mund, den braucht er, weil er mit dem Rauchen aufgehört hat und zieht ein Buch heraus. Nicht das er es jetzt lesen wollte, geschweige dem es könnte. Nein, aber irgendwie will er sich verstecken. Aus dem Walkmann des blonden Mädchens neben ihm hämmert ein stupides Bum in kurzen Intervallen. Herr Hunzinger mustert vorsichtig das Mädchen. Sie ist so zwischen 14 und 17, schätzt Herr Hunzinger. Sie trägt eine knallenge Jeans und kann sich das auch leisten. Hin und wieder wirft Herr Hunzinger einen zögerlichen, Sekundenbruchteil kurzen Blick auf die Oberschenkel des Mädchens. Herr Hunzinger beginnt zu Schmunzeln, denn ihm fällt eine seiner Lieblingspassagen aus einem Udo Lindenberg Song ein: „Die Jeans sitzen knapp und jetzt heben wir ab!“. Nur hat sie keine roten Haare wie das Boogie Woogie Mädchen von Udo. Herr Hunzinger hat nun eine Beschäftigung gefunden, die ihn von den Oberschenkeln des jungen Mädchens und den Blicken der anderen Passagieren ablenken soll. Im Kopf geht Herr Hunziger seine absolute Lieblings Udo Prosa durch. Er stellt sich die Musik vor, einer dieser abgedroschenen Rock´n Roll Riffs, der 4/4 Takt und dann singt er, der Herr Udo: „Das fängt doch schon an mit diesen anerzogenen Rollen, das kleine Mädchen nicht im Dreck spielen und sich nicht hauen und Jungs nicht mit Puppen spielen sollen.“ Dann erhebt der Herr Lindenberg die Stimme: „Wir werfen diese Unterschiede einfach über Bord, bis auf den das die Jungs ein U-Boot in der Hose haben und die Ladys einen Fjord!“ Herr Hunzinger kann sich sein debiles Grinsen jetzt nicht mehr verkneifen. Er denkt an Klassiker wie „Emanuell Flippmann und die Randale Söhne“, „Du heisst jetzt Jeremias“ und „Alles klar auf der Andrea Doria“. Herr Hunzinger ist so eine ganze Zeit mit sich beschäftigt bis sich plötzlich das Nachbarmädchen über ihn beugt und auf den Stop-Knopf drückt. Solche Situationen findet Herr Hunzinger sehr unangenehm. Dem Mädchen scheint das gar nichts auszumachen, Herr Hunzinger aber ist nervös. Er weiss das er jetzt bald aufstehen muss um sie rauszulassen. Dann wird sie etwas zu ihm sagen wie: „Tschuldigung, darf ich mal!“ und der Herr Hunzinger wird dann antworten müssen oder er wird einfach schweigend aufstehen, zumindest sollte er sie kurz anblicken, er sollte so weit entfernt weggehen wie möglich, so dass das junge Mädchen gut an ihm vorbeikommt ohne ihn berühren zu müssen. Sie könnte das falsch verstehen. Herr Hunzinger sollte aber auch nicht zu weit weg stehen. Das würde so wirken als hätte er etwas zu verbergen. Wenn sie dann durch den Gang zum Ausgang läuft wird Herr Hunzinger ihr auf den Hintern blicken müssen, das weis er, schließlich saßen die Jeans ja knapp. Was wenn sie das bemerken würde. Atmete er zu laut während er das alles gedacht hatte. Hatte er am Ende zu laut geatmet, so das sie es gehört hatte. Hatte er vielleicht laut gedacht. Warum guckte sie auf einmal so? Hatte er sich vielleicht am Sack gekratzt wie er es oft beim Fernsehen machte völlig automatisch ohne es zu merken? Hatte er einen stehen? Und das Mädchen hält ihn für pervers, verkappt, für einen Spanner. Hatte sie vielleicht Angst. Nein er hatte keinen stehen der Herr Hunzinger, das hatte er inzwischen geklärt, trotzdem stellte er seine Tasche auf seinen Schoß um eine mögliche Erektion zu bedecken. Es wäre ja möglich, es könnte ja. Was soll sie jetzt denken wo seine Tasche so auf seinem Schoß stand, vielleicht dachte sie er würde sich so heimlich einen runterholen. Er musste die Hände so hinlegen das das Mädchen sehen konnte, das er kein Perverser war. Er klappte den Tisch vom Vorderstuhl aus und legte seine Hände darauf, das sah irgendwie komisch aus. So unnatürlich. Nein Herr Hunzinger wollte nicht verkrampft wirken das würde ihn nur verraten, aber er kann den Tisch jetzt auch nicht wieder hochklappen, was muss sie denken, wenn er erst den Tisch runter und dann wieder hoch macht, runter und hoch, runter und hoch. Rauf und runter. Rauf und runter. Rauf und runter. Nein er war keine Sau. Er legte das Buch auf den Tisch und die Arme entspannt hinter seinen Kopf. Dabei berührte er mit seinem Ellbogen fast den Kopf des Mädchens. Herr Hunzinger zuckte und zog schnell die Arme weg. Er durfte das Mädchen auf keinen Fall berühren. Sie könnte das falsch verstehen. Warum guckte sie jetzt schon wieder zu ihm rüber. „Tschuldigung. Darf ich mal!“ sagte sie. Herr Hunzinger erschrack und blickte schnell zu Boden. Ausgerechnet jetzt! Er drehte seinen Kopf mit einer unnatürlich schnellen Bewegung in die Richtung des Mädchens und machte ein heiseres helles „Hum“ was soviel wie „Ja“ bedeuten sollte, drehte den Kopf diesmal viel langsamer, unnatürlich langsam, zurück, schließlich sollte sie nicht denken er hätte Zuckungen, schmiss sein Buch in die Tasche auf seinem Schoß und klappte den Tisch hoch. Das Mädchen stand schon neben ihm als er noch saß. Schließlich stand Herr Hunzinger auf ging durch den langen Mittelgang und stieg aus. Warum war er nur ausgestiegen? Er hätte sie doch einfach an ihm vorbeigehen lassen können. Herr Hunzinger ärgerte sich jetzt über sich selbst. Was sollte jetzt das Mädchen denken. Er musste auf den nächsten Bus warten, doch wie würde das aussehen? Wenn die Leute, die an der Haltestelle herumstanden und das junge, blonde Mädchen sahen wie er aus dem Bus ausstieg und dann einfach den nächsten in selber Richtung nahm. Das war unlogisch. Herr Hunzinger entschloss sich so zu tun als hätte er das Ziel seiner Reise erreicht und würde nun nach Hause gehen. Er ging in die andere Richtung wie das Mädchen, sie sollte ja nicht von ihm denken er würde sie verfolgen, sie gar vergewaltigen wollen. Also ging er die Hauptstraße entlang in die entgegengesetzte Richtung aus der sein Bus gekommen war. Herr Hunzinger würde einfach bis zur nächsten Haltestelle laufen und den nächsten Bus nehmen und dieses mal würde er bis zum Ende sitzen bleiben. Bestimmt. Es war eine lange Strecke, das wusste er, aber schließlich war er Langstreckenläufer dachte er bei sich und begann zu grinsen.