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Gib mir die Kugel
Nach Sonnenaufgang
Die mit nur wenigen Worten beschriebenen Blätter lagen wild und unsortiert auf dem hohen Schreibtisch, dessen Beine in einem noch wilderen Papiermeer schwammen.
„Eigentlich eine Schande,“ flüsterte Herr Ruprecht zu sich selbst, „so wenig Tinte für so viel Papier.“
Ein schwarzer Drehstuhl ächzte unter Herr Ruprechts Gewicht, doch erfüllte er nach nun bald fünfzehn Jahren noch immer seine Pflicht. Ohne, dass auch nur eine einzige Schraube je herausgefallen wäre. Im Hintergrund spielte ein Radio gerade „Simon & Garfunkel“.
„Wirklich eine Schande.“ Der Drucker ratterte und ein weiteres Blatt entfloh dem warmen, eckigen Papierspeicher, hinaus in die ebenso warme, aber stickige Welt, in der drei klobige Finger nach ihm griffen, es kurz durch die Luft wedelten, lochten, unterschrieben, stempelten und schließlich in eine Kiste warfen.
„Was dafür Steuergelder verschwendet werden! Für all dieses Papier...“
Eine Kopie des ersten Schreibens legte Herr Ruprecht auf den grauen Ordner mit der Aufschrift „2006 – Liberia“, der zwanzig Zentimeter über der Tischoberfläche ruhte, lochte es, und heftete es ab. Als er den Ordner schließlich wieder auf den Boden stellte (er musste sich wirklich tief bücken), sagte er: „Wieder eins geschafft. Der Berg wird schon.“
Ihm gegenüber hing das Portrait seines Vorgängers. Es war ein hölzerner Bilderrahmen, und der war fein und säuberlich in die Wand genagelt. Herr Ruprecht wünschte sich oft, dass das Portrait reden könnte, aber das geschah einfach nicht. Es blieb immer still hier, wenn man von dem Radio absah, dessen einziger nicht rauschender Sender täglich nur Lieder aus den 60ern spielte.
„Weißt du,“ sprach Herr Ruprecht das Portrait an, „es ist schon merkwürdig. Überall Papier. Und hier eins, auf dem etwas sehr komisches steht. Soll ich’s dir mal vorlesen?“ Herr Ruprecht hatte eine sonore Stimme; er hätte als Erzähler in Kinderhörspielen anheuern können. „Jetzt sind sie aber wirklich übergeschnappt. Also, hier steht...“
Herr Ruprecht räusperte sich einmal, und las vor, was auf dem Brief stand, den er soeben entfaltet hatte.
„Hausmitteilung. Wie uns im Schreiben vom vierundzwanzigsten Juni erklärt wurde, existiert ein schwerwiegendes Problem in der Nachrüstung durch einen für unsere Waffenhersteller existenziell einschneidenden Umstand: Bleimangel. Aufgrund des weiteren Umstands einer nicht funktionierenden Bleinotversorgung sind wir gehalten, im Interesse einer weiterhin aufrecht zu erhaltenden stabilen Front, folgende Anweisung auszugeben.“
Herr Ruprecht holte tief Luft und schaute das Portrait an. Sodann fuhr er fort: „Der sich im Einsatz befindliche Teil der Truppe wird aufgefordert verschossene Projektile nach erfolgreichem Kampfeinsatz wieder einzusammeln, einer zentralen Sammelstelle zuzuführen und in die von unseren Waffenlieferanten eingerichteten Sammelcontainer der internationalen und gesicherten Flughäfen zu transportieren.“
Erneut war Herr Ruprecht ans Ende seiner Lungenkapazitäten gelangt. Glücklicherweise war der letzte Satz der Mitteilung kurz gehalten: „Die Befolgung der Dienstanweisung ist durch die zuständigen Abteilungen zu überwachen.“
Herr Ruprecht war so eine Abteilung.
Er sah den alten Mann auf dem Bild vor ihm noch einmal an, zuckte die Schultern, und stempelte die Hausmitteilung mit einem „weitergeleitet“ ab. Dann setzte er seine Unterschrift auf den Stempel (das erste R war riesig, doch die letzten fünf Buchstaben wurden immer kleiner), und das Papier flog in die Kiste der auswärtigen Post.
In der Mittagshitze
„Ein Glück, dass der Wald hier gerodet ist.“
„Warum das?“
„Na wegen der Hitze. Die Tropen hier sind schlimmer als der Iran. Da wars wenigstens trocken.“
„Und wir sind leichtere Ziele.“
„Das sind die auch. Und wir finden diese dämlichen Kugeln leichter.“
„Ich verstehe das nicht. Die Dinger fliegen mit dreitausend Kilometern in der Stunde. Das ist doch wie ein Messer durch warme Butter.“
„Und?“
„Na wenn wir hier Liberier abschießen, finden wir die Kugeln ein paar Kilometer weiter wieder.“
„Ich schieße sie nicht ab.“
„So lauten aber unsere Befehle.“
„Ich weiß.“
„Und ich höre doch dein Gewehr.“
„Und hörst du auch die treffenden Kugeln?“
„Natürlich nicht, wer kann das schon hören...“
„Es ist keine Schande nicht zu treffen.“
„Gut, dass wir alleine sind hier.“
„Zielst du etwa genau?“
„Genauso daneben.“
„Aber Projektile gehen wir suchen? Scheint, als suchen wir uns unsere Befehle aus.“
„Vielleicht nicht. Vielleicht sind wir nur die einzigen, die wissen können, welche Befehle richtig sind.“
„Gut, dass wir nie Projektile finden.“
„Hoffentlich ist das richtig.“
„Was ist schon richtig? Wenn wir nicht schießen, schießen sie. Auf uns.“
„Sagt wer?“
Vor der Abenddämmerung
„Wir haben kein Blei mehr.“
Die hämmernden Geräusche der Fabrik wurden in dem kleinen Büro erfolgreich abgeschirmt. In der Tat war es hier ruhig, nur ein Radio lief, das nur einen einzigen Sender hatte.
Die hagere Gestalt in dem bequemen Sessel musterte den Besucher. Es war ein einfacher Arbeiter, nicht älter als fünfzehn. Seine Finger schimmerten silbergrau von der harten Arbeit mit dem Blei. Offensichtlich war der Junge einer der Vorarbeiter. Er sah erfahren aus.
„Wieso habt ihr kein Blei mehr?“
Der Junge wusste freilich keine Antwort. Woher auch.
„Wir haben kein Blei mehr.“
Und die Antwort kümmerte ihn auch nicht.
„Wenn ihr kein Blei habt, müsst ihr euch welches besorgen.“ Der Herr im Sessel wusste hingegen sehr gut, dass ein Blei-Engpass Probleme bedeutete. Unsagbar große Probleme sogar. Und er wusste auch, dass er für die Produktion verantwortlich war.
„Woher Blei nehmen?“
Der Junge war intelligent. Doch die höchste Intelligenz scheitert, wenn kein Wissen da ist um es zu verarbeiten. Was er hingegen sehr gut kombinieren konnte, war: Kein Blei – keine Arbeit. Keine Arbeit – kein Brot. Kein Brot – Tod.
So einfach war das.
„Ist das Lager leer?“
Der Junge zögerte kurz, offensichtlich versuchte er, die Frage richtig zu verstehen. „Da ist kein Blei mehr. Was machen wir jetzt?“
„Ich werde telefonieren. Warte draußen.“
Der fähigste der Vorarbeiter verließ das Büro und ließ den Produktions-Chef in seiner Welt zurück.
„Deutsche Botschaft. Ja, schnell bitte.“ Der Chef hörte das Klicken der chinesischen Verbindungsleitungen, welche auch hier in Laos verbaut worden waren. „Die Abteilung für Konfliktkommunikation bitte.“
Eine rauchige Stimme meldete sich am anderen Ende. Sie klang, als hätte sie Tage nicht geschlafen, und auch in etwa so gelaunt. „Was möchten Sie?“
„Wir haben hier einen unvorhergesehenen Blei-Engpass. Die Nachschublieferungen blieben aus.“
„Wie konnte das passieren?“
„Ich nehme an, es ist alles verschossen.“
Die Ohrmuschel blieb für einige Sekunden still. Offensichtlich war das eine Antwort, die der Konfliktkommunikationskoordinator nicht erwartet hatte.
„Verschossen?“
„Dafür machen wir die Kugeln, ja.“
„Und sollten die Soldaten die Kugeln nicht wieder einsammeln?“
„Was weiß ich...“
„Ich werde rückfragen, bleiben Sie bitte in der Leitung.“
Wieder klickte es, und der Produktions-Chef wurde in die Warteschleife geschoben. Wenigstens das war in jeder Nation gleich. Es dauerte eine volle Minute, und zwei Fingernägel waren wieder einen Milimeter kürzer.
„Hören Sie?“
Der Produktions-Chef hatte wieder die rauchige Stimme erwartet, und wurde enttäuscht. Diese Stimme hier war jung und frisch und klang nicht älter als fünfundzwanzig.
„Ja, ich höre. Haben Sie eine Lösung?“
„Ja, es ist etwas waghalsig, aber das schaffen wir.“
„Und was machen wir? Die Arbeiter hier rennen mir sonst morgen die Türe ein.“
„Das sind doch nur Kinder!“
„Die ihre Familien ernähren müssen. Würden Sie da nicht auch rennen?“
„Ich hab gute Kontakte zur chinesischen Zentralregierung. Ein kürzlich in der Produktion gebrochener Reaktormantel wäre eine Möglichkeit.“
„Blei von einem Kernkraftwerk?“
„Warum nicht? Blei ist Blei. Sie könnten ja auch Uran-Projektile herstellen, nur dann wäre der Verbrauch von Arbeitseinheiten zu hoch.“
„Ich mache nur meinen Job hier. Ihr bringt das Blei, ich die Projektile.“
„Mehr will auch keiner. Geben Sie den Arbeitern einen Wochenlohn zur Beruhigung. Und dann haben Sie eine Woche Urlaub, bis das Blei eintrifft.“
„Sehr gut.“
Der Produktions-Chef legte den Hörer auf das altmodische Telefon und zog seinen Stuhl wieder näher an den Schreibtisch. Er schloss die rechte obere Schublade auf, und zog sie heraus. Zuerst entnahm er ihr eins der sorgfältig abgezählten Dollar-Bündel. Die Tage waren lang, und das Zählen beruhigte.
Dann nahm er die vollautomatische Beretta, welche wie immer geladen war. Der rechte Daumen stellte den Sicherheitshebel von S wie „sicher“ auf F wie „Feuerstoß“ (oder „Frieden“, wie es im Soldatenjargon wohl hieß), und schließlich auf E wie „Einzelfeuer“.
Eine Kugel würde notfalls reichen, dachte er.
Er verstaute die Beretta sichtbar in seiner Gürteltasche und ging zur Türe. Als er sie öffnete kam ihm ein Stoß des Fabrikgeruchs entgegen. Die Sicherheitsgeländer waren alle grau.
„Haben wir Blei?“ fragte der Vorarbeiter, der geduldig vor dem Büro gewartet hatte.
„Bald.“ Und er gab dem Jungen die Dollarnoten. „In einer Woche. Verteil das.“
Der Vorarbeiter verstand. Er beugte sich über das Geländer und schrie seinen Kollegen und Kolleginnen etwas auf Lao zu. Der Produktions-Chef hatte keine Ahnung, was dort geschrien wurde, weshalb er auch immer eine geladene Beretta mit sich trug.
Doch heute verhielten sich die Kinder friedlich. Sie hatten eine Woche frei und bekamen Geld dafür. Das war gut so.
Der Produktions-Chef hatte sich schon oft gefragt, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn man durch eine Kugel stirbt, die man selbst fabriziert hat. Und dann gesellte sich ein Gedanke zu der Frage; klein, wie die Spitze eines Eisbergs.
Hoffentlich finde ich es nicht heraus.