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"Gibt es hier Bier?"
"Gibt es hier Bier?"
Viele Kleinigkeiten sind gefährlicher als eine große Sache, weil sie unübersichtlich werden, und diese Unübersichtlichkeit erzeugt Panik im Menschen, der nicht gelernt hat, seine Gedanken zu ordnen. Ich bin ein solcher Mensch, immer schon gewesen. Mir fehlt das Gespür für Logik, sobald sich hier und da ein Problemchen bildet. Der Verstand verdunkelt sich, bis die Emotionalität freiliegt und ihr Gift ausschüttet. Dieses Gift gibt allen Empfindungen eine unerträgliche Schärfe. Am schlimmsten ist, wenn sich viele Kleinigkeiten mit großen Sachen vermischen. Das bringt das stabilste Gerüst aus Gedanken zum Einstürzen. Nun ist mein Gerüst ohnehin schon kein stabiles. So kommt es, dass ich erlebe, wie ich mit den Nerven ans Ende stoße. Es macht Klonk, und ich bin imstande, ganz nüchtern festzustellen: Das war’s, Grenze erreicht, nix geht mehr. Bleibt nur noch, die weiße Flagge zu schwenken, indem ich in einer Klinik vorstellig werde. Dort erfahre ich in erster Linie, wie sich Zeit anfühlt, die dickflüssig wird.
Das Folgende trägt sich zu. Die Namen sind geändert.
*
Ein großer Pfleger, der sich als Bill vorstellt, weist mir nach der Aufnahmeprozedur mein Zimmer zu. Es liegt am Ende des Ganges, worüber ich froh bin, denn mir gefällt die Abgeschiedenheit. Bill ist eine hagere Gestalt, wie in die Länge gestreckt, sein Gesicht ein Busch aus Barthaaren. Wenn Bill redet, dann klingt das so, als hielte er sich ein Kissen vor den Mund. Bill sagt, er müsse meine Tasche durchsuchen. Er nimmt sich das Handy und Medikamente. Dann fragt Bill, ob ich ein Schlafmittel wolle, immerhin sei es meine erste Nacht. „Ja“, sag ich, und strecke die Hand aus. Auf der landet die Tablette. Ich drehe mich um, als er sagt: „Halt, bitte hier einnehmen, wir wollen immer sehen, wie die Tabletten verschwinden.“
Mein Zimmer ist ein Quader aus zwei Betten, zwei Schränken, zwei Nachtkästchen, einem Tisch, drei Stühlen, einem Waschbecken. Die Toilette fehlt. Die Fenster lassen sich nur kippen; ein Schloss verhindert, dass man sie ganz öffnet. Wand und Tür zum Flur sind aus Glas: Ich kann hinaussehen, die Pfleger und Schwestern hinein. Draußen brennt schwach das Licht, ein bisschen von seinem gelblichen Schein schwappt zu mir herüber. Ich drehe mich auf die andere Seite und schließe die Augen. Dann wirkt die Schlaftablette. Traumbilder vor den Lidern, einfach das Bewusstsein loslassen, versinken.
Eine Stimme sagt: „Guten Morgen.“ Schritte entfernen sich.
Ich habe mir angewöhnt, diese wenigen Sekunden zu genießen, die das Gehirn nach dem Aufwachen braucht, um Angst und Sorge zuzuschalten. Sie erscheinen mir diesmal kürzer als sonst.
*
Der erste Wortwechsel, den ich mitbekomme, findet zwischen Bill und einem Patienten statt. Jener Patient, er geht mit hochgezogenen Schultern und vorgestrecktem Kopf. Seine Bewegungen sind langsam, wie bei großer Kälte ausgeführt. Er heißt Baumann.
Er sagt: „Pfleger Bill, ich müsste mal telefonieren.“ Wie er „Pfleger Bill“ ausspricht, zeugt von Geringschätzigkeit.
Bill sagt: „Aha, wen wollen Sie denn anrufen?“
„Das geht Sie gar nichts an. Ich muss telefonieren.“
„Ihren Vater?“
„Das ist meine Sache.“
„Damit Sie ihn wieder anpöbeln können?“
„So gehst du mit mir nicht um. Ich habe ein Recht aufs Telefonieren. So nicht.“ Dann sagt Baumann, wobei er jedes Wort in die Länge zieht, was er ohnehin schon tut, nur diesmal noch stärker: „Nicht mit dieser Frisur.“
Bill schweigt, nimmt ein Telefon und fragt nach der Nummer. Er sagt: „Ich verbinde.“
„Na also, geht doch“, sagt Baumann und läuft zum Telefon im Flur, die Schultern angezogen, den Kopf nach vorne gereckt.
Dort spricht er laut in den Hörer, er sagt Dinge wie: „Mensch, ich hätte jetzt auch gern ein Bier, das kannst du mir glauben.“
*
Frühstück gibt es um 7:40 Uhr, Mittagessen um 12:00 Uhr, Abendessen um 17:40 Uhr. Keine Minute früher. Manchmal sehe ich Pfleger, die vor dem Essenswagen stehen und die Sekunden zählen. Punktgenau öffnen sie seine Klappen. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ich habe gelesen, dass psychisch Labile von einem geordneten Tagesablauf profitieren. Das gebe ihnen Halt, nehme ihnen Entscheidungen ab. Entscheidungen seien es, die einen Menschen in den Wahn treiben können.
Die Nahrungsaufnahme: Alle müssen wir an einem langen Tisch auf Stühlen sitzen, die quietschen, wenn man sie über den Boden zieht. Niemand macht sich die Mühe, die Stühle anzuheben. Ist jenes Quietschen verklungen, beginnt das Klappern von Geschirr, Messer und Gabel schlagen auf Porzellan. Niemand spricht, alle schmatzen und schnaufen, als bekämen sie keine Luft. Die Patienten löffeln mechanisch ihre Suppen, führen den Löffel wie automatisch zum Mund, schlürfen, schlucken, schnauben.
„Sie heißen Weiß?“ Es ist Baumann, der mich das fragt.
„Weiß wie Schwarz“, gebe ich zur Antwort.
Baumann zieht einen Mundwinkel hoch. „Ist das Ihr Spruch?“
„Nein“, sage ich, „nur eine Antwort.“
„Aha“, sagt Baumann. Ich habe Mühe, die Abfälligkeit in seinem Ton zu ignorieren. „Und was machen Sie beruflich?“
Ich habe den Mund voll und bin außerstande, etwas zu erwidern, also hakt er nach: „Sie sind Student?“
„Nein.“
„Arbeitslos?“
„Nein. Ich bin Angestellter.“
„Aha“, sagt er wieder. „Und wo?“
„Bei einem Verlag.“
„Aha.“
Dieses Gespräch ist mir zuwider, Baumann auch. Beim Abendessen nehme ich das Tablett und mache auf dem Absatz kehrt, um in mein Zimmer zu gehen und weitere Dialoge zu vermeiden. Ein Pfleger fängt mich ab, sagt: „Entschuldigung, Sie müssen hier essen.“
„Okay“, sage ich und nehme widerwillig Platz an jenem langen Tisch. Der Stuhl quietscht, obwohl ich ihn beim Zurückrücken anzuheben versuche. Schon klappert das Geschirr. Schlürfen, schlucken, schnauben.
*
Baumann sagt: „So ein Saftladen, das habe ich nicht bestellt.“ Er deutet auf sein Essen, Spätzle in Käsesoße, dazu Spinat. Er ist, wie immer, der einzige, der spricht. Alle anderen schmatzen.
„Was ist denn jetzt wieder los?“ Es ist Schwester Nina, die das fragt, eine kleine, untersetzte Frau mit kurzem Haarschnitt, gänzlich ohne Weiblichkeit. Sie hat eine feste, allzeit genervte Stimme, auch bei guter Laune.
„Hier, das ist los“, sagt Baumann, wobei er auf sein Essen zeigt. „Das habe ich nicht bestellt.“
„Aber freilich haben Sie das bestellt“, sagt Schwester Nina. „Ich erinnere mich.“
„Ich weiß, was ich bestellt habe, und das war es nicht.“
„Langsam habe ich die Faxen dicke, ich bin mir sicher, dass Sie Spätzle in Käsesoße angekreuzt haben. Hören Sie auf zu jammern.“
„Ich werde mich beschweren, so kann es hier nicht weitergehen. Ich will das Essen, das ich bestellt habe.“ Baumann sagt das und rammt die Gabel in den Spinat, soweit man von Rammen sprechen kann bei Bewegungen, die wie in Zeitlupe ablaufen. Er isst mit Appetit, kratzt am Ende die letzten Reste Käsesoße vom Teller.
Er sagt: „Mensch, ich könnte derzeit fressen wie ein Ochse. Will jemand Pizza bestellen?“
Keiner antwortet.
*
Pfleger Bill sagt durch sein Kissen: „Herr Weiß, gehen Sie dann mit runter zum Frühsport?“ Es ist keine Frage, sondern eine Aufforderung.
„Ungern“, sage ich. „Mir ist nicht nach Sport.“
„Gehen Sie halt mit.“
„Wenn es sein muss.“
„Die Turnhalle ist unten, wissen Sie, wo Sie sie finden?“
„Nein.“
„Gehen Sie einfach Herrn Baumann hinterher.“
Ich denke: Oh Mann.
Pfleger Bill sagt: „Okay? Ich lasse Sie raus.“
Ich nicke. Vorne wartet Baumann schon darauf, dass die Tür aufgeschlossen wird. Selbst in seinem Warten liegt etwas Provozierendes. Ich folge ihm, als er sich in Bewegung setzt, halte etwa zwei Meter Abstand, während er einen Fuß vor den nächsten nimmt, langsam, behäbig, die Schultern auf Höhe der Ohren. Auf dem Weg trifft er Frau Doktor Anger, die Stationsärztin.
„Frau Doktor Anger“, sagt Baumann, „ich bin heute ganz mieser Laune.“
„Ach“, sagt Frau Doktor Anger.
„Ja, ich weiß auch nicht, aber wenn ich schon dran denke, dass ich gleich Frau Bengel sehen werde mit ihren goldenen Locken, ihrem Grinsen und ihrer aufgesetzten Freundlichkeit.“
„Versuchen Sie sich zu beherrschen“, sagt Frau Doktor Anger.
„Na gut, Ihnen zu Liebe, Frau Doktor Anger.“
„Schön, also bis später.“
„Bis später, Frau Doktor Anger.“
Der Pfad führt durch eine Umkleidekabine, Gummigeruch liegt in der Luft, hinein in eine Turnhalle, die Erinnerungen in mir aufkommen lässt an den Sportunterricht der Schulzeit.
Ich bin allein mit Baumann, nichts geschieht, stumm stehen wir da. Da sage ich etwas, das mir in dem Augenblick, in dem ich es sage, schon unendlich falsch vorkommt, aber die Worte dringen aus meinem Mund wie ferngesteuert: „Sie sind auch hier zum Sport?“
Er sagt: „Ja, wonach sieht es denn sonst aus?“ Zum ersten Mal schaue ich Baumann intensiv ins Gesicht und bemerke, dass seine Lider halb über den Augen liegen. Es ist das Gesicht eines Besoffenen. Während er redet, verzerren sich seine Lippen, die die einer Frau sind, volle und fein geschwungene Lippen, zu seltsamen Formen.
„Ich weiß nicht, ich bin zum ersten Mal hier.“
„Wonach sieht es denn aus?“ Baumann beharrt. Ich schweige. „Nach einem Verlagsbruch?“
„Was“, frage ich, „ist denn ein Verlagsbruch?“
Er starrt mich an wie jemand, der auskostet, dass er mehr weiß als sein Gegenüber, und sagt dann: „Wenn sich ein Verlag auflöst.“ Ich habe diesen Begriff nie gehört, räume aber innerlich ein, dass er existieren könnte.
„Ah ja“, sage ich. Da öffnet sich die Tür zum Gang, herein kommt eine Frau, goldene Locken, hinter ihr tapsen weitere Patienten, alle tragen sie kurze Hosen oder Trainingsanzüge.
„Guten Morgen“, sagt diese vielleicht vierzigjährige Frau mit einer Stimme, die sprudelt vor guter Laune, während sie lächelt, eine Reihe sorgfältig angeordneter Zähne, nicht zu weiß, aber auch nicht gelb. Mir ist klar, dass ich gerade Frau Bengel erlebe.
„Na, worauf haben wir heute Lust“, fragt sie im Plural. „Fußball? Handball? Volleyball?“
In mir zieht sich alles zusammen, ich hasse Mannschaftssportarten.
Bevor die Teilnehmer antworten können, meldet sich Baumann: „Frau Bengel, ich hätte eine Frage.“
„Ja?“
„Ich habe hier Schmerzen (er fasst sich mit der rechten Hand auf die linke Schulter), wäre es möglich, Massagen zu bekommen?“
„Aber Herr Baumann, Sie wissen doch, dass das nicht möglich ist.“
„Ich habe Schmerzen, was soll ich machen? Wo kann ich Massagen kriegen?“
„Wir haben doch schon das letzte Mal darüber gesprochen. Das müssen Sie mit Ihrem Arzt ausmachen.“
„Warum? Ich dachte, Sie sind der Fachmann – oh, Entschuldigung, ich meine: die Fachfrau für solche Angelegenheiten.“ Er sagt Fachfrau und es klingt wie: Vollidiot.
So, wie mir vorhin die Frage an Baumann entwichen ist, geschieht es auch, dass ich laut und deutlich sage: „Ich gehe wieder, mir ist die Stimmung zu schlecht.“
Ich nehme aus dem Augenwinkel wahr, wie mir die Blicke der anderen folgen.
Es ist mir egal.
*
Schwester Elisabeth öffnet mir die Tür zur Station, sie ist eine schöne, blonde Frau, vielleicht Mitte zwanzig, mit Gesichtszügen, die wie gemalt erscheinen. Dass sie hinkt, macht sie zu etwas Besonderem, ihr Gang ist umständlich, nicht im geringsten anmutig, Schuhe mit hohen Absätzen könnte sie nicht tragen, wahrscheinlich wurde sie in der Schule gehänselt, sofern sie dieses körperliche Gebrechen seinerzeit schon hatte. Sie redet mit einem Dialekt, den ich schwer einordnen kann; nie war ich gut im Bestimmen von Herkünften, es ist schwäbisch, ostdeutsch vielleicht. „Nanu“, sagt sie, „schon zurück?“
„Ich ertrage diese unangenehme Person nicht, er provoziert, sucht den Streit, ich will nicht in seiner Nähe sein.“ Schwester Elisabeth weiß, dass ich von Baumann spreche, ohne dass ich seinen Namen erwähne.
„Da sind Sie nicht alleine. Wir leiden derzeit alle. Machen Sie doch wenigstens bei der Hockergymnastik mit. Die findet gleich statt.“
„Gut“, sage ich, obwohl ich keine Lust habe, an etwas teilzunehmen, das diesen Namen trägt. Ohnehin habe ich nicht die geringste Lust auf irgendetwas, außer darauf vielleicht, dass mir jemand das Gedächtnis auslöscht. Alles noch mal lernen müssen, diesmal keine Fehler machen in der Auffassung, der Bewertung von Dingen. Das wäre gut.
Ich warte. Die Tür öffnet sich. Herein kommt jemand im schwungvollen Gang, fast wippend.
„Ja hallo“, sagt diese Person zu mir, „ich bin der Andi.“
„Thomas“, sage ich.
„Nachname wie?“
„Weiß.“
„Hallo Herr Weiß! Sind Sie dabei? Wir machen jetzt gleich ein bisschen Fitness.“
„Ja, ich bin dabei.“
„Hervorragend! Je mehr, desto besser!“
Schon fängt Andi an, Stühle zu verrücken, auf denen die Patienten sonst zum Essen sitzen. Er macht das ohne Quietschen, und in diesem Moment habe ich den unbändigen Drang, ihm zu helfen, dabei genauso lautlos zu sein. So kommt es, dass wir beide wortlos Stühle schleppen, wobei er mir jedes Mal, wenn sich unsere Körper nähern, freundlich zunickt, ein Blitzen in den Pupillen.
Als wir fertig sind, sehe ich, dass weitere Patienten zur Hockergymnastik eingetroffen sind, mit hängenden Armen stehen sie da und mustern den Kreis, darauf wartend, dass es losgehen kann. Viele sind es nicht, vier Leute, die die fünfzig schon überschritten haben oder zumindest aussehen, als hätten sie es. Ihr körperlicher Zustand ist bemitleidenswert, alle haben sie Bäuche, die über den Hosenbund hängen, einer steht krumm wie ein Haken. Ihre Gesichter erzählen eine traurige Geschichte, rot die Nasen, hängend die Tränensäcke, Augen matt wie verblasste Farbe. Wir nehmen Platz auf den Stühlen, die Andi und ich im Kreis angeordnet haben.
Andi teilt Stäbe aus, sagt: „So, wir fangen mit einer Auflockerungsübung an, nehmen den Stab in beide Hände, strecken diese über den Kopf und lassen sie langsam absinken. Dabei atmen wir aus.“
Er führt die Bewegung vor, wir machen sie nach.
Andi: „Der Atem muss hörbar sein, da muss ein Ahhh kommen, so ungefähr: Ahhh.“
Wir strecken die Hände, führen den Stab nach unten, hauchen ein gemeinschaftliches Ahhh. Doch es klingt nicht entspannend, loslassend, sondern wie ein Seufzer, in dem alles steckt, was das Leben an Grausamkeiten bereithält. Ich spüre, wie mein Herz erkaltet, ich bin von Toten umgeben.
*
In meinem Zimmer wird die Zeit sichtbar. Man kann sie sehen, riechen, schmecken, und sie schmeckt fahl. Wand und Decke sind hell, wenn man die Augen zukneift, schwimmen graue Schlieren über die Oberfläche. Kein Punkt, keine Stelle, die sich fokussieren lässt, alles nur ein endloses Weiß, über das der Blick haltlos gleitet. Draußen, hinter dem Fenster, wackelt ein Baum, angestupst vom Wind, er wackelt, wackelt und wackelt. Wenn man wegschaut, wackelt er weiter, schaut man wieder hin, wackelt er immer noch. Dieser Baum wackelte vermutlich schon, als ich noch nicht geboren war, und wenn ich gestorben bin, wird er aller Voraussicht nach noch immer wackeln.
Die Sekunden verstreichen. Zeit zwingt uns allen ihren Rhythmus auf, Widerstand zwecklos. Eins, zwei drei. Ich zähle bis hundert, bis tausend, bis eintausendfünfhundert, nur um Abstand zu gewinnen von meinen Gedanken, die sich aufdrängeln, die sich in widerlicher Hartnäckigkeit im zentralen Nervensystem einnisten, dort Radau machen, die Ausschüttung von Adrenalin bewirken. Ich bin bei zweitausend, schaue auf die Uhr: Die Stellung des Zeigers hat sich verändert, unverändert dagegen mein Zustand. Ich presse meine Hände gegen die Schläfen. Blinzle der Decke entgegen. Lausche dem Zischen in meinem Kopf. Denke an Sanny, die jetzt, just in diesem Moment, existiert und lebt und denkt, obwohl sie nicht hier ist, und dieser Moment, dieser Augenblick, diese Gegenwart, wo ich mich in meinem Quader befinde, der sich Zimmer nennt – diese Gegenwart wird für immer verloren sein, weil die Rückspultaste fehlt, das Leben ist kein Video.
„Sind Sie Ihres Lebens manchmal überdrüssig?“, hat man mich gefragt.
Und ich habe geantwortet: „Nein, ich hänge sehr am Leben, sonst wäre ich gelassener, was meinen körperlichen Zustand anbelangt.“
„Haben Sie Selbstmordgedanken? Ich muss Sie das fragen.“
„Nein.“
Ich nehme die Hände von den Schläfen, fahre die Linien meiner rechten Hand mit dem linken Zeigefinger nach. Eine davon: die Lebenslinie. Sie ist brüchig, endet in der Mitte des Handballens. Ich habe gelesen, dass sie nicht die Dauer eines Lebens anzeigt, sondern die Stärke einer Person, es zu meistern.
Es klopft an der Glastür, Ärzte erscheinen, an der Front Frau Doktor Anger. Sie treten ein, kommen mir entgegen, stellen sich ums Bett, auf dem ich liege und betrachten mich – ich weiß, dass das ein Klischee ist – wie ein Insekt.
„Wie geht es Ihnen?“, will Frau Doktor Anger wissen, ohne es wissen zu wollen.
„Nicht so gut“, antworte ich.
„Sie wissen, dass wir Ihnen Tavor geben können?“
„Ja.“
„Es ist kein Verbrechen, Tavor zu nehmen.“
„Tavor löst nicht meine Probleme“, gebe ich zu bedenken.
„Sie können eine halbe Tablette nehmen.“
„Ich nehme eine ganze.“
*
Die anxiolytische Wirkung von Lorazepam ist, ironischerweise, beängstigend. Zwanzig Minuten nach Einnahme fühle ich, wie die Anspannung schmilzt. Ich lasse meinen Kopf ins Kissen fallen, atme ruhig und gleichmäßig, stelle mir Wärme und Schwere der Glieder vor, die Muskeln entkrampfen sich, die Welt verschwimmt, ich muss eingeschlafen sein, weil ich ein Heulen vernehme, ein gespenstisches Heulen, langsam anschwellend und langsam abflauend, Pause dazwischen, erneutes Heulen. Ich habe noch nie ein solches Geräusch gehört, kann es nirgendwo einordnen, das ist kein Hund, kein Sanitäter, keine Polizei, es klingt so unmenschlich, so eigenartig verzerrt und quälend, dass mich eine Gänsehaut überkommt, ein Alptraum hat mir jetzt noch gefehlt. Dann schlage ich die Augen auf, das Heulen ist schrill und gellend. Ich bin hellwach plötzlich, setze beide Beine auf den Boden und lausche. Das Heulen verstummt und beginnt von neuem. Ich gehe nach draußen, es schrillt in meinem Kopf, alle Zeichen stehen auf Gefahr, und dort, im Flur, sehe ich die Ursache des Heulens.
Ein Patient schlendert, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als unternehme er eine Vergnügungstour, durch den Gang, das Gesicht eine Grimasse, zusammengekniffen die Augen, der Mund ein gezackter Schlitz, aus dem jenes Geräusch erklingt. Der Patient trägt keine Schuhe, sondern Socken, die schon schwarz sind vom vielen Umhergehen, ich erfahre, als ein Pfleger spricht, seinen Namen.
„Herr Wiesner, wollen wir etwas aufs Zimmer gehen?“
Wiesner antwortet nicht, sondern stapft nur weiter, stößt sein sirenenartiges Heulen aus, das alle Geräusche, die es sonst noch gibt auf dieser Station, verdrängt. Ich reiße den Blick ab, zwinge mich zum Wegsehen, tue so, als hätte ich ein Ziel, indem ich zur Toilette gehe. Dort ist es stickig, es riecht nach Scheiße, die zu lange im Klo gelegen ist, die Belüftung scheint nicht zu funktionieren, doch der Geruch kümmert mich nicht, ich habe nur Ohren für jenes Heulen, das noch immer da ist, durchschneidend, die Sinne verzehrend. Das ist, das kann kein Mensch sein, denke ich, niemand ist fähig, derlei Töne zu erzeugen, hier liegt offenbar ein Irrtum vor, jemand benutzt einen Scherzartikel, erstanden auf irgendeiner Kirmes, wie dieses kleine Stück Plastik, dass man sich unter den Gaumen klemmt, um zu zwitschern wie ein Vogel. Durch die Tür kommen gedämpft die Worte des Pflegers.
„Herr Wiesner, hören Sie mich? Herr Wiesner?“
Heulen.
Ich drehe den Wasserhahn bis zum Anschlag auf. Das Wasser schießt in einem spritzenden Strahl ins Becken. Der Boden, mein T-Shirt, der Spiegel: nass. Dafür rauscht und zischt es, das Heulen dringt immer noch zu mir durch, bleibt aber im Hintergrund. So stehe ich eine halbe Stunde, mindestens.
Als ich die Toilette verlasse, liegt der Gang leer da; keine Anzeichen von dem, was hier eben noch stattgefunden hat. Ich gehe durch den Flur, werfe unauffällig Blicke in die Zimmer, was kein Problem ist, weil Glas durchsichtig ist, auch in der Psychiatrie, wo andere Gesetze zu herrschen scheinen. Wiesners Zimmer befindet sich gegenüber von meinem, ich sehe, dass er im Bett liegt, Rückenlage, Hände und Füße mit einem Gurt fixiert. Am Handgelenk hat man ihm eine Nadel gelegt, verbunden mit einem Infusionsschlauch, durch den Flüssigkeit tröpfelt, wahrscheinlich ein Benzodiazepin, das, die entsprechende Menge vorausgesetzt, eine hypnotische Wirkung entfaltet, denn Wiesner sieht schläfrig aus, er gleicht einem müden Baby, dem jeden Augenblick die Augen zufallen. Er ist nackt, bis auf eine weiße Hose, von der ich nicht sicher bin, ob sie ihm gehört oder der Klinik, sie wirkt wie eine Windel. Es dauert etwas, bis die Erkenntnis zur Gewissheit wird, doch irgendwann muss ich feststellen, dass Wiesner, der zu solch geisterhaftem Heulen fähig ist, einem Heulen, so schauderhaft vorgetragen wie die Verzweiflungsschreie eines Sterbenden – dass dieser Mensch also, den man gefesselt hat, weil er sich nicht beruhigen wollte, dass dieser Mensch außergewöhnlich hübsch ist. Sein Bartwuchs ist dicht und gleichmäßig, seine Augen sind von großer Sanftheit, umrandet von langen Wimpern, Wimpern, wie sie Frauen nach dem Schminken bekommen, dazu eine Nase, die sein längliches Gesicht betont. Es ist das Gesicht eines Künstlers, eines Intellektuellen, dessen Gehirnwindungen so verschlungene Bahnen nehmen, dass früher oder später etwas durchbrennen musste.
Abends bekomme ich mit, wie ein Pfleger, Tavor-Ampullen in den Händen, zu Wiesner geht, die Kanüle an seinem Arm anzuzapfen versucht, während Wiesner den Kopf schüttelt, panisch verneinende Laute ausstößt, als hätte er den Mund voll: „M-m! M-m! M-m!“
Der Pfleger sagt: „So reden Sie doch mit mir. Sprechen Sie mit mir, sagen Sie etwas. Das tut doch nicht weh. Sie können doch mit mir reden.“
„M-m! M-m! M-m!“
*
In meinem Zimmer wird die Zeit sichtbar. Sie pulsiert, macht die Luft quallig, verstärkt die Konturen von Gegenständen, scharf die Kanten des Tisches, der Stühle, der Betten. Wo man hinschaut: Materie, die vorhanden ist, so penetrant vorhanden, dass sie sich ins Blickfeld einbrennt, man muss nur lange genug die Augen auf etwas richten und dann wegsehen, um es immer noch zu sehen.
Einmal stehe ich auf, öffne die Schranktüren, betrachte sie aufmerksam, schließe sie wieder. Spiele am Wasserhahn herum. Lasse mein Bett surren, hoch und nieder, alles geht automatisch. Stemme die Füße gegen die Wand, bis die Muskeln schmerzen. Putze die Zähne, wasche die Hände, putze noch mal die Zähne. Stütze meinen Körper mit der Stirn am Fenster ab, betrachte anschließend den kleinen Fettfleck, den meine Haut hinterlassen hat. Denke an die Putzfrau, die irgendwann kommen und diesen Fleck bemerken wird und ihn vielleicht wegwischen wird oder vielleicht nicht, vielleicht ist es ihr egal, mir ist es egal. Draußen wackelt der Baum im Wind.
Ich ziehe den Vorhang zu.
Später ist es dunkel, gelbes Kunstlicht im Raum, als ich Stimmen vernehme, die lauter werden, ein wirres Geplapper, gefolgt von Pflegern, die beschwichtigend „Jaja“ sagen. Die Tür zu meinem Zimmer öffnet sich.
„So, Herr Funke, das ist Ihr Zimmer“, sagt ein Pfleger.
Funke ist ein kleiner Mann, bestimmt schon 70 Jahre alt, zögernd steht er da und fragt: „Gibt es hier Bier?“
„Nein, Bier gibt es hier nicht, ich bringe Ihnen gleich etwas Wasser.“
Funke redet weiter, doch ich höre keine Worte, nur Silben, wahllos aneinandergereiht. Ein großes Pflaster klebt an seinem Hals.
Ein Pfleger sagt: „Herr Funke, Sie sind operiert worden und offensichtlich war die Narkose etwas zu stark. Wissen Sie, dass Sie operiert wurden?“
Funke murmelt etwas.
„Wissen Sie noch, wie Sie sich verletzt haben?“
Unverständliches Gemurmel.
Ein Pfleger schaut mich an, sagt: „Herr Weiß, packen Sie alles, was Sie haben, auf Ihr Bett. Sie ziehen um, sonst wird die Nacht die Hölle für Sie.“ Ich beeile mich, dieser Aufforderung nachzukommen, und gelange in ein Zimmer, wo ein dicklicher, dunkler Mann am Bettrand sitzt, das Namensschild neben der Tür weist ihn als Herrn Buchner aus.
„Hallo“, sage ich, bemüht um Freundlichkeit.
„Hallo“, sagt Buchner in einer Stimme, die so schwach und kindlich klingt, als stamme sie von einem Zehnjährigen. Sie passt nicht zu seinem wuchtigen Körper, zu seinem schwarzen, wild wucherndem Bart, der großen Brille, den großen Händen, dem schwarzen Haar. Mir schwant, man hat mich von der Pest zur Cholera geschickt. Nebenan höre ich einen Arzt, der mittlerweile eingetroffen ist: „Herr Funke, wissen Sie, wo Sie sich befinden?“
Unverständliches Gemurmel.
„Herr Funke, können Sie sagen, welcher Tag heute ist?“
„Tag“, sagt Herr Funke, „puh, was für ein Tag.“
*
Buchner sagt den ganzen Abend nichts. Er liegt nur da und schnauft hörbar, den Blick auf ein Poster geheftet, das an der Wand hängt. Es zeigt zwei Pferde, ein großes und ein Pony, beide stehen sie im Wald zwischen Bäumen, scheinen keine Sorgen zu haben; das Poster verträgt sich schlecht mit dem traurigen Ort, an dem wir uns befinden, es wirkt fast so, als verspotte das Motiv jene, die es betrachten.
Ich halte ein Sudoku-Heft, kritzle gelegentlich eine Zahl hinein. Regelmäßig driftet meine Konzentration ab, bewegt sich auf Buchner zu, dessen Präsenz ich deutlich wahrnehme, es ist, als verfüge er über eine Aura. Ich überlege, was wohl in seinem Kopf vorgeht. Vielleicht denkt er an seine Frau, an seine Tochter, deren Fotos auf Buchners Nachtkästchen stehen: Glückliche Menschen, die in die Kamera lachen, Buchner hat darauf keinen Bart und einen gepflegten Haarschnitt. Diese Fotos müssen ihm unwirklich vorkommen, wahrscheinlich glaubt er, die Vergangenheit sei bloß ein Traum gewesen, könne nicht Wirklichkeit gewesen sein, weil die Wirklichkeit, wie er sie erlebt, ein großes, graues Nichts ist.
Manchmal, selten, hat Buchner ein Buch zwischen den Fingern, einen mächtigen Wälzer, ich kann den Titel nicht lesen, aber es hat etwas mit Physik zu tun. Vielleicht ist Buchner Physiker, er sieht jedenfalls aus wie ein Physiker mit seiner Brille und den ungepflegten Haaren, Physiker stecken die Zeit, die andere mit Körperpflege zubringen, ins Denken.
Es ist spät, kurz vor zehn, die Medikamentenausgabe hat bereits stattgefunden, da frage ich Buchner, der das Licht über seinem Bett löscht, ob es ihn störe, dass ich meines noch etwas brennen lasse. Er antwortet: „Das stört mich nicht.“
Ich bin froh über diesen Dialog, kein Wort, von der Begrüßung abgesehen, haben wir sonst miteinander gewechselt. Buchner dreht sich auf die Seite, eine Minute später ist er eingeschlafen, ich erkenne es an seinem Atem, der, obwohl ursprünglich schon laut, nun noch lauter geworden ist. Das Geräusch geht in ein Schnarchen über, in ein Sägen, das mich dazu verleitet, Pfleger Bill um eine Schlaftablette zu bitten.
„Null Problemo“, sagt Bill, das Kissen vor dem Mund.
*
Am nächsten Tag werde ich Zeuge eines Vorfalls, der mich zutiefst verstört, wobei ich mir den Grund nicht erklären kann. Wir, die Patienten, hocken gemeinsam am Frühstückstisch, und es ist nicht Wiesner, der mich irritiert, indem er ankommt, als sei nie etwas gewesen, als sei er nie ans Bett gefesselt worden, und fragt: „Ist hier noch frei?“ Ich sage „Ja“, vielleicht etwas zu hastig, und schiebe mein Tablett zur Seite, damit Wiesner Platz findet. Es lässt mich auch kalt, wie Wiesner uns allen einen guten Appetit wünscht, schließlich den Kopf über die Wurst beugt und schnüffelt, als befürchte er, das Essen könne vergiftet sein.
Es ist Buchner, der etwas tut, was mich bestürzt zurücklässt, ich wünschte, ich wüsste wieso. Buchner hat gerade sein Frühstück beendet, als er eine Butter, die noch verpackt ist, in die Hand nimmt und das Wort an Baumann richtet, der am anderen Ende des Tisches sitzt. Er sagt in dieser fürchterlich kindlichen, kraftlosen Stimme: „Noch Butter?“
Baumann, der Angesprochene, hantiert mit seinem Besteck, ohne die Frage zu beantworten, möglicherweise schweigt er absichtlich, aber wahrscheinlich hat er einfach nicht zugehört.
Buchner, der sicher bemerkt, dass ihn Baumann keines Blickes würdigt, fragt nicht noch einmal, sondern hält weiterhin die Butter in der Hand und wartet auf eine Antwort, er wartet zehn Sekunden, zwanzig, dreißig, es läuft mir heiß und kalt den Rücken hinunter, schließlich legt er die Butter wortlos und sorgfältig auf dem Tisch ab. Dort liegt die Butter für alle griffbereit, die noch welche brauchen, doch niemand interessiert sich für sie, sie liegt lange da, erst kurz vor elf Uhr verschwindet sie im Müllsack einer Putzfrau.
*
Es kostet mich Überwindung, das Zimmer zu betreten, in dem Buchner und ich untergebracht sind. Wenn ich mich von draußen nähere, sehe ich zuerst seine Füße, unbewegliche, dicke Füße, die normal wirken, als gehörten sie einem Menschen, der lacht und redet und lebt. Buchner tut nichts dergleichen, er stiert bloß, den seelenlosen Blick an die Wand gerichtet, wo das Poster mit den Pferden hängt.
Ich habe mich mit den Pflegern über Buchner unterhalten, habe sein Schnarchen erwähnt, zwei Mal musste ich Ximovan nehmen, anders hätte ich nicht einschlafen können. Vielleicht hat Buchner diese Gespräche mitbekommen, die Station ist sehr hellhörig, vielleicht weiß er, dass er mich belästigt. Erfahren werde ich nicht, was Buchner denkt, denn er schweigt ohne Unterlass; was, um Gottes Willen, tut sich hinter diesen abgestorbenen Augen? Schreit er innerlich? Oder ist ihm alles gleich, sind seine Gefühle längst vertrocknet? Ich sehe seine Füße und drehe mich um, niemals kann ich in dieses Zimmer gehen, die Anwesenheit Buchners nimmt mir den Atem.
Buchner. Ein Mensch. Mit einem Leben. Wie begreifen, was Gedanken sind? Wie das Ausmaß erfassen, das Gedanken annehmen? Nicht einmal mich selber kann ich verstehen; meine Gefühle, ein Kosmos aus Bedeutsamkeiten, alle verknüpft, irgendwie, irgendwo. Ich versuche, mir das auszumalen, bin mir meines körperlichen Umfangs bewusst, unterdurchschnittlich groß, durchschnittlich breit, dabei müsste ich in dieser Welt Trilliarden von Kilometern ausfüllen, gemessen an meinen Gefühlen, die das Gehirn produziert, sie erscheinen mir endlos, sie schwirren umher in ihrer Eigendynamik, gerne würde ich ein Halt! donnern, gebrüllt wie von einem Sergeant, damit alles zum Stillstand kommt. Und würde dann, große, feste Schritte machend, durch meine Gedanken schreiten und alles, was dort dunkel wabert, am Schlafittchen packen und hinauswerfen.
Wenn meine Gedanken in dieser Unendlichkeit toben, die ich nicht ansatzweise zu erklären imstande bin – wie, um Himmels Willen, soll mir dann gelingen, auch nur eine Ahnung zu bekommen von der Größe, die zwei solche Gedanken sind, Buchner und meine? Das Wort Einzelschicksal, lächerlich.
Buchner hievt seinen Körper über den Flur, verschwindet in einem Raum, an dessen Tür ein Schild angebracht ist: Ergotherapie. Dann erklingt ein Feilen, ratsch, ratsch, ratsch, das Feilen ist gleichmäßig, eine Band könnte danach spielen. Ich frage mich, an welchem Stück er arbeitet, schleiche immer wieder unauffällig an jenem Bereich vorbei, aber nie ist mehr zu sehen als Buchners Gestalt, die vornüber gebeugt am Tisch sitzt und alles überdeckt, wippend im Takt der Bewegungen.
Eines Abends bin ich gerade im Raucherzimmer zugegen, als die Nachrichten laufen. Es kommt die Meldung über den Tod von Joachim Fest. Meine Lippen öffnen sich, ich will etwas sagen, irgendwas, doch dann bemerke ich die Gesichter der Patienten, vom bleichen Licht des Fernsehers beschienen, graue Masken im Zwielicht, der Raum erscheint mir wie ein Sarg. Plötzlich bin ich von dem Bedürfnis übermannt, die Flucht zu ergreifen, ich will weg, raus hier. Es hat eine Zeit gegeben, früher, in der ich glücklich war. Das wusste ich damals noch nicht, denn glücklich sein kann man offenbar nur in der Erinnerung. Vielleicht müssen drei, vier Jahre vergehen, bis mir einleuchtet, dass das, was ich gerade erlebe, auch eine Form von Glück ist: Ich in der Psychiatrie, meine Gedanken ein Minenfeld. Oft vermag die Zeit Erlebtes zu verwandeln, Negatives wird zum Positiven, Positives zum puren Glück. Es hilft nichts. Ich bin im Hier und Jetzt. Gefangen in einer großen, unheimlichen Verdichtung des Augenblicks. Hoffen und verzweifeln ist der Kreislauf allen Lebens.
Ich stehe auf und gehe hinaus, hart fühle ich den Boden unter meinen Füßen. Er trägt mich, muss mich tragen, das Gebäude wurde gebaut, um Menschen auszuhalten, es greifen simple Regeln der Physik. Warum fühlt es sich an, als stürze alles um mich herum ein, wenn nichts einstürzt? Nichts bewegt sich, alles ist fest, das Regal dort vorne mit den Gesellschaftsspielen drin, der Tisch, an dem wir essen, die Stühle, auf denen wir sitzen. Ich möchte eine Granate zünden. Die Lampen spucken ihr künstliches Gelb aus, unnatürlich legt sich dieser Schein auf Oberflächen, es ist zum Schreien. Die Dinge gehen ihren Weg, unbeeindruckt, unaufhaltbar. Wir Menschen nehmen uns zu wichtig.
In meinem Zimmer finde ich Buchner vor, wie er sich die Augen mit Fäusten reibt, leise schnieft. Seine Wangen sind feucht.
„Alles in Ordnung?“ Was für eine Frage.
„Passt schon“, sagt Buchner in der Stimme eines Sechsjährigen.
Heute warte ich die Arzneivergabe nicht ab, sondern bitte Pfleger Bill um eine vorgezogene Ausgabe der Medikamente, ich sei schlechter Laune, wolle schlafen, dem Tag ein Ende bereiten, am besten eine Ximovan dazu, Buchner schnarche. „Logisch“, sagt Pfleger Bill. Daraufhin verbringe ich eine halbe Stunde im Bett, spüre schon die Wirkung der Tablette, als ich die Augen nach kurzem Blinzeln aufschlage: Draußen, im Halbdunkel, steht Baumann, deutlich sind die angezogenen Schultern auszumachen, dazwischen der nach vorn gestreckte Kopf, ich sehe das das alles durch die Glaswand, die uns voneinander trennt, sein Gesicht ist mir zugewandt.
Ich räuspere mich, wohl aus Verlegenheit oder Angst, vermutlich beides, und steige aus dem Bett, wobei ich mir Mühe gebe, unerschrocken zu wirken, doch die Chemie hat bereits ihre Arbeit verrichtet, mein Gang ist unsicher, die Beine befolgen nicht ihren Befehlen, torkelnd gehe ich durchs Zimmer auf die Tür zu, öffne selbige und nicke Baumann zu, dessen Ausdruck nun etwas anderes, ganz und gar nicht mehr Beobachtendes hat, es scheint, als verliere er sich in Gedanken. Ungeheuerlich, diese Vorstellung, dass auch Baumann beiträgt zur Gedankenmasse, nun wären wir schon zu dritt, er, Buchner und ich.
„Weiß wie Schwarz, haben Sie Lust, etwas Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen?“
Ich glaube nicht, was ich da höre, und antworte mit gleicher Selbstverständlichkeit: „Morgen vielleicht, ich bin müde.“
„Alles klar“, sagt Baumann und verschwindet.
Diese Nacht schlafe ich schlecht, trotz Ximovan.
*
Bevor man die Station verlassen kann, muss man sich in eine Liste eintragen. Name, Ort, geschätzte Zeit der Rückkehr, bitte leserlich. Ich habe inzwischen drei Stunden Ausgang, mehr traut man mir nicht zu aus Gründen, die wohl juristischer Natur sind, denn suizidal bin ich nicht, das, wenn schon sonst nichts, müssen auch die Assistenzärzte bemerken, die zwei Mal die Woche zur Visite erscheinen und ihre gelernten Fragen herunterrasseln. Was immer die Antwort ist, keiner macht sich die Mühe, sie seelisch zu bewerten. Die Heilung soll chemisch erfolgen. Antriebsschwäche? Citalopram. Soziale Phobie? Venlafaxin. Unruhe? Risperdal. Einschlafschwierigkeiten? Mirtazapin. Panik? Lorazepam. Und so weiter.
Schwester Nina, die ewig Schlechtgelaunte, schließt mir die Tür auf, sie sagt: „Machen Sie nicht zu lang.“ Ich weiß nicht, ob sie das scherzhaft meint, ihre Stimme klingt gereizt, aber nie habe ich etwas getan, um mir ihren Ärger einzuhandeln. Draußen steige ich die Stufen hinauf zur psychosomatischen Tagesklinik. Ich lese Schilder, auf denen Namen von Diplom-Psychologen stehen. Gern würde ich mit einem Psychologen sprechen, doch ihre Zimmer bleiben verschlossen, es bedarf wohl Termine zur Audienz. Eine Tür steht offen, sie führt in einen Raum mit etwa fünfzehn Stühlen, kreisförmig angeordnet. An der Wand sind Tafeln angebracht, darauf Begriffe wie Angst, Bewertung, Reaktion. Es gehen Pfeile weg, die auf eine kleinere Schrift deuten. Ich will sie lesen, als ich die Präsenz eines Menschen neben mir spüre.
„Na, möchtest du bei uns mitmachen?“ Die Frage klingt nach einer Einladung.
„Ich schaue mich nur etwas um.“ Während ich das sage, richtet sich mein Blick auf eine mittelgroße Person, Wollpullover, Cordhose, konservativer Haarschnitt, Brille mit dicken Rändern, aber nicht altmodisch, dahinter elegante Augen, in denen, scheint mir, Feingeistigkeit glitzert, es ist ein intelligentes, vielleicht vierzig Jahre altes Gesicht, das dazu einlädt, es zu betrachten. Offensichtlich habe ich einen Psychologen vor mir, anders ist mir seine Ausstrahlung nicht zu erklären, jedenfalls nicht im Moment. Nur dass er mich duzt, scheint unüblich.
„Überleg’s dir. Wie du schon bemerkt hast (er nickt gen Flur), stehen unsere Türen offen. Wir machen hier eine gute Sache“, sagt der geträumte Psychologe.
Ich nehme ihm das ab, bin augenblicklich davon überzeugt, dass diese Sache nicht nur gut, sondern fantastisch ist; plötzlich überfällt mich das Gefühl, ich könnte hier und jetzt mein Leben retten, wenn ich ihm nur sagte: Ich möchte mitmachen, egal wobei, einfach mitmachen, wo muss ich unterschreiben? Komisch: Ein Mensch und ein Satz genügen, um mir neuen Willen zu geben. Nichts, hatte man mir einmal mit Ernst gesagt und pausiert, um der folgenden Aussage ihr nötiges Gewicht zu verleihen, nichts gebe mehr Halt als der Kontakt zu netten Menschen. Man hatte mich angesehen, die Augenbrauen hochgezogen und auf meine Reaktion gewartet, man tut derlei gern, ein Zucken der Mundwinkel, ein Zittern der Lider würde verraten, ob ich etwas nicht nur gehört, sondern auch verstanden habe. Manchmal dauert es eine Weile, bis Erkenntnisse ankommen, bis sie in die Gehirnwindungen einsinken, sich dort verankern und das Denken beeinflussen.
„Ich bin ein Stockwerk tiefer in Behandlung“, sage ich, doch es kommt mir sehr falsch vor, dieses „in Behandlung“, so ein mordsmäßiger Quatsch. Niemand behandelt mich, außer man versteht die Gabe von Psychopharmaka als Behandlung.
„Geht es dir schon besser?“
Wird das eine Anamnese, vielleicht eine Aufnahmeprüfung? Er hat sich mir nicht vorgestellt als Psychologe, trotzdem spricht er wie einer, er stellt Fragen in dieser besonderen Tonlage, die nur rhetorisch Geübte beherrschen. Statt die Stimme beim letzten Wort zu heben, wie das viele machen, die etwas wissen möchten, ohne es wissen zu wollen, lässt er die Silben langsam und tief ausklingen. Ich bin kurz davor zu sagen, ja, jetzt gehe es mir besser, danke der Nachfrage, ich sage: „Ein bisschen. Aber ich kenne mich gut genug um zu wissen, dass der nächste Rückfall nicht weit ist.“
„Noch so jung und schon so pessimistisch.“
Ich will mich bedanken, weiß aber nicht, wofür, deshalb stehe ich bloß da und schweige. Da erscheint eine weitere Person, klein, bebrillt, hektisch, sie sagt, die Augen auf den geträumten Psychologen gerichtet: „Lorenzo, darf ich dich etwas fragen?“
„Aber natürlich“, sagt er geträumte Psychologe lachend, als sei die Frage typisch für den, der sie gestellt hat.
„Darf ich mir eine Kippe von dir schnorren?“
Der geträumte Psychologe lacht wieder. „Komm, lass uns auf den Balkon gehen und eine rauchen.“ Und dann, zu mir: „Also, viel Glück.“
„Danke“, sage ich, „danke.“ Ich schäme mich, soviel Dankbarkeit auszusprechen, denn ich weiß noch immer nicht, was Lorenzo, der geträumte Psychologe, mit mir gemacht hat, dass ich mich besser fühle. Womöglich gar nichts, womöglich flackert nur dieses Quäntchen Euphorie auf, das jeder, dessen Gedanken zu Extremen neigen, dann und wann verspürt.
Wie auch immer.
Pünktlich zum Mittagessen bin ich zurück auf der Station. Die anderen hocken schon am Tisch, in sich versunken, über die Teller gebeugt. Ich mache mit, sehe mein Gesicht in der Suppe, sehe die dunklen Augen, die zu große Nase. Ich stoße den Löffel hinein und das Bild zerbirst.
Neben mir hat sich der Russe niedergelassen. Ich weiß, dass er Russe ist, weil er immer wieder versucht hat, in seiner Sprache mit den Pflegern und Schwestern zu kommunizieren, doch ihm schien unbegreiflich, dass nichts von dem, was er sagt, ankommt. Er trägt einen Gips um den linken Arm, von dem ein Schlauch in eine Art Behälter führt. In dem schwappt weißrote Flüssigkeit, all das vermutlich, was die Wundheilung an Blut, Eiter und sonstigem Schnodder ausspuckt. Es müsste mir übel werden, doch ich empfinde nichts. Um mich herum: schlürfen, schlucken, schnauben. Ich wünschte, die Patienten wären still. Dann, als wäre die Situation nicht schon schwierig genug, höre ich Baumann sprechen, er ist, wie immer, der einzige, der etwas sagt: „Schwester Nina, ich müsste noch mal raus, ich habe etwas vergessen.“
Schwester Nina stampft mit den Füßen auf den Boden. „Zum hundertsten Mal, Sie haben keinen Ausgang mehr. Geht das nicht in Ihren Kopf?“
„Ich brauche Kippen, verdammt noch mal, es dauert bloß fünf Minuten.“
„Dann schicken Sie einen Patienten, ich kann Sie nicht rauslassen, wie oft soll ich das noch sagen?“
„Sie sind eine grausame Frau in den Wechseljahren, wissen Sie das, Wärterin Nina?“
„Langsam habe ich die Faxen dicke. Und nennen Sie mich nicht noch einmal Wärterin.“
„Ich nenne Sie Wärterin, wann ich will.“
„Ich verbitte mir diesen Ton, und wenn Sie jetzt nicht aufhören, rufe ich Frau Doktor Anger.“
„Meine Güte, darf man hier gar nichts mehr sagen, ohne gleich bedroht zu werden? Ich brauche Kippen, mehr nicht.“
Ich frage mich, ob Lorenzo Baumann geholfen hätte.
*
Zeit ist reichlich vorhanden. Im Gegensatz zu den Dingen, die man mit ihr anfangen kann. Es gibt nur einen funktionierenden Fernseher auf der Station, und der steht in der Raucherküche (der andere, der kaputte, im Nichtraucherzimmer). Niemand beschwert sich darüber, weil fast alle Patienten starke Raucher sind. Nikotin ist die einzige Droge, die man ihnen noch lässt. Es wurde verboten, was die Persönlichkeit verändert: Alkohol, Kokain, Heroin. Ich halte es als Nichtraucher kaum länger als zehn Minuten in der Küche aus, dann bleibt mir die Luft weg. Fernsehgucken fällt damit flach. Dann gibt es da noch ein Regal mit Büchern drin, doch ein ausgeprägtes Symptom meiner Angststörung ist Konzentrationsmangel, was schlicht heißt, dass mir die Gedanken entgleiten, sobald ich zu lesen beginne. Ohnehin würde mich keines der Bücher reizen, es sind Romane ohne Schmerz, Aneinanderreihungen von Wörtern, die eine heile Welt ergeben. Bei den Pflegern ließe sich eine Liste mit Büchern anfordern, die einer Beantragung bedürfen, damit sie ausgehändigt werden (es hat offenbar Zwischenfälle gegeben, in denen sich Patienten für Bölls Ansichten eines Clowns interessierten und daraufhin völlig den Verstand verloren). Aber für derlei bürokratischen Wahnsinn fehlt mir die Ausdauer, zumal ich ohnehin nicht die nötige Aufmerksamkeit aufbrächte, um Geschriebenes gedanklich zu erfassen. Jedenfalls beschließe ich, den Tag mit Trinken zuzubringen, denn Wasser gibt es umsonst. Ich schaffe bis zum Abend etwa acht Liter, das ist mehr als ich sonst in einer halben Woche runter bringe. Eine solche Flüssigkeitszufuhr zieht den häufigen Gang zur Toilette nach sich, doch mich stört das nicht, im Gegenteil, dadurch vergeht die Zeit schneller. Ich habe mich längst in den Rhythmus des Trinkens und Pissens vertieft, als ich die Türklinke zum Klo nach unten drücke und feststelle: Es ist abgesperrt. Das wäre kein Problem, bliebe die Tür nicht auch die folgenden fünf, zehn, fünfzehn Minuten abgesperrt. Meine Blase fühlt sich inzwischen an, als enthielte sie zerbrochenes Glas statt Urin. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnet sich die Tür, und heraus kommt ein Patient, dessen Name mir im Gedächtnis geblieben ist, weil er normalerweise für Kater gebräuchlich ist: Kasimir. Jener Patient weist zwei Merkmale auf, die eine Erwähnung verdienen. Kasimir ist, erstens, ein Mensch, der dir nicht in die Augen schaut, wenn er mit dir redet. Ich spreche nicht davon, dass er ab und an den Blick abwendet, wie das viele machen, denen ein aufmerksames Gesicht Angst einjagt. Ich spreche davon, dass er den Kopf um neunzig Grad dreht, bevor er auch nur den Mund öffnet. Kasimir ist, zweitens, außergewöhnlich dick. Um zu verstehen, wie dick, muss ich ausholen: Sein Frühstück, sein Mittagessen und sein Abendessen sind durchgehend mit dem Vermerk „1,2 kcal“ gekennzeichnet, will heißen, er nimmt pro Mahlzeit etwa 1.200 Kalorien zu sich, eine Menge, die sich Durchschnittsmenschen über den Tag verteilt zuführen. Kasimir braucht dafür bloß eine Mahlzeit. Das ist insofern bemerkenswert als er abzunehmen versucht, genauer: Die Ärzte haben ihm eingeschärft, dass er Gewicht verlieren muss, wenn er gedenkt, die nächsten fünf Jahre zu überleben. Um mit 3.600 Kalorien abzunehmen, muss man wirklich, wirklich dick sein. Und Kasimir ist wirklich, wirklich dick. Nun scheint sich der Körperumfang einer Person analog zum Gestank seiner, ich möchte mich für dieses Wort entschuldigen, Kackwürste zu verhalten. Anders lässt sich der Schwall an Fäulnis nicht erklären, der mir nach dem Öffnen der Tür entgegenwabert. Es ist, als wäre die Luft breiig geworden. Ich muss zurücktaumeln, wobei ich jeden Schritt als Stich in meiner Blase wahrnehme. Der Schmerz ist ein Segen im Vergleich zu diesem unmenschlichen Mief.
In meinen Kopf blinken drei Wörter: Nichts wie weg. Ich fasse den Entschluss, die Psychiatrie zu verlassen.
*
„Entschuldigung“, sage ich zu einem Pfleger, dessen Namen ich nicht kenne.
„Ja?“
„Ist ein Arzt zu sprechen?“
„Was brauchen Sie denn?“
„Ich würde gerne mit einem Arzt über meinen Aufenthalt sprechen.“
„Sie sind der Herr…?“
„Weiß.“
„Herr Weiß, ich sag der Stationsärztin Bescheid.“
„Danke.“
Zwei Stunden verstreichen.
„Entschuldigung“, sage ich zu dem Pfleger, dessen Name ich noch immer nicht kenne.
„Ja?“
„Haben Sie Frau Doktor Anger erreichen können?“
„Sie weiß Bescheid und meldet sich bei Ihnen.“
„Danke.“
Zwei Stunden verstreichen.
„Entschuldigung“, sage ich zu dem Pfleger, dessen Namen ich nicht wissen will.
„Ja?“
„Ist vielleicht ein anderer Arzt verfügbar? Es ist relativ dringend.“
„Worum geht’s denn?“
„Ich will nach Hause.“ Der Pfleger schaut mich an, zeigt keine Regung. Wahrscheinlich hört er diesen Spruch öfters. Er sagt: „Ich sag Bescheid.“
Um drei Uhr nachmittags erscheint Frau Doktor Anger in meinem Zimmer und will wissen, wie es mir gehe, ohne es wissen zu wollen.
„Besser“, sage ich.
„Sie wollen nach Hause?“ Sie stellt diese Frage, als wäre ich im Begriff, etwas Unverantwortliches zu tun.
„Ja. Mir geht es soweit gut.“
„Als Sie hier vorstellig wurden, ging es Ihnen sehr schlecht.“
„Ja, aber das war vor einer knappen Woche. Inzwischen bin ich wieder auf dem Dampfer.“
„Bis die nächste Sache kommt, die Sie aus der Bahn wirft.“ Langsam steigt ein ungutes Gefühl in mir hoch. Frau Doktor Anger blickt aus ihren kalten Augen, das Gesicht zur Besorgnis verzogen.
„Möglich, aber das Risiko nehme ich in Kauf. Ich muss meinen Therapeuten sprechen, und das ist hier nicht möglich.“ Eine wundersam irrige Regel der Krankenkasse besagt, dass Patienten während einer stationären Behandlung keine ambulanten Termine gezahlt bekommen. Begründung: Das können die doch auch in der Klinik machen.
Frau Doktor Anger sagt: „Wir behalten die Patienten gerne etwas länger, um den Therapieerfolg sicherzustellen.“
Ich denke: Welche Therapie? Ich frage: „Welche Therapie?“
Frau Doktor Anger führt die Medikamente auf, die ich nehme, sagt, da müsse erst einmal ein Spiegel aufgebaut werden, dann könne man weitersehen.
Das ungute Gefühl ist nun ganz deutlich fassbar. „Aber das dauert ja noch zwei Wochen!“ Plötzlich habe ich eine flammende Wut in mir, eine Wut auf all die Assistenzärzte, die in ihren weißen Kitteln durch den Flur marschieren, dabei laut mit dem Schlüssel klappern, als wollten sie herausposaunen, dass sie sämtliche Türen öffnen können. Assistenzärzte, die kaum älter sind als ich; Medizinstudenten, die nichts über die Seele, aber alles über GABA-Rezeptoren wissen. Therapie my ass. Tabletten kann ich selber fressen, dafür brauch ich kein Krankenhaus.
„Ich komme später noch einmal auf Sie zurück, Herr Weiß, ich muss jetzt dringend etwas erledigen.“
„Was heißt später?“ Ich bin sichtlich angespannt.
Frau Doktor Anger wirft einen Blick auf ihre Uhr. „Lassen Sie mich Ihren Wunsch mit den Kollegen besprechen.“
„Na gut“, sage ich, weil ich fürchte, die Sache könnte schlimmer werden, wenn ich jetzt die Fassung verliere. Frau Doktor Anger verlässt das Zimmer. Zurück bleiben Buchner und ich. Buchner scheint von dem Gespräch nichts mitbekommen zu haben, zumindest zeigt er keine Regung. Sein Blick klebt am Pferdeposter. Ich mag keine Pferde, habe sie nie gemocht. Wie sie die Nüstern aufplustern, wie sie wiehern, grauenvoll. Man müsste Dartpfeile auf dieses verfluchte Poster werfen. Und Buchner gehört gerüttelt und geschüttelt dafür, dass er es pausenlos betrachtet. Mir ist zum Brüllen zumute. Doch was würde das helfen?
*
Pfleger Bill trommelt die Patienten zusammen. „Meine Herren!“, sagt er, während er durch die Zimmer geht, „meine Herren! Bitte kommen Sie nach vorn!“ Wenig später sitzen wir alle am Esstisch, aber ohne zu essen. Bill ergreift das Wort durch sein Kissen: „Hallo und herzlich willkommen. Wir haben beschlossen, uns einmal im Monat in großer Runde zu treffen, um Dinge zur Sprache zu bringen, die uns am Herzen liegen. Jeder darf frei sprechen, denn dafür ist dieses Meeting gedacht, also keine Hemmungen.“ Bill lässt den Blick schweifen. Stille. Er fährt fort: „Wenn Sie nichts dagegen haben, dann mache ich einfach mal den Anfang. Sie erinnern sich an die Grillparty vor zwei Wochen? Ja? Gut. Also, in Bezug auf eben diese Grillparty scheint es einige Missverständnisse gegeben zu haben, daher wollte ich noch einmal in aller Deutlichkeit erwähnen, dass wir, die Pfleger und die Schwestern, es nicht einsehen, Koch und Kellner für die Patienten zu spielen. Wenn wir solche Partys geben, dann ist die Mitarbeit eines jeden gefragt. Dass keiner an den Grill wollte, um Würstchen zu drehen, das fanden wir unhöflich gegenüber uns, die wir uns viel Arbeit gemacht haben (bei dieser Formulierung vermute ich, dass Bill sich seine Worte vorher zurechtgelegt hat). Ich denke, es sollte klar sein, worauf ich hinaus möchte, also lasst uns das in die Zukunft berücksichtigen. Gut. Erstmal danke für Ihre Aufmerksamkeit, und wenn noch jemand etwas sagen möchte, jetzt ist die Gelegenheit dazu.“
Keiner meldet sich zu Wort. Einige rutschen auf ihren Stühlen umher. Die Sekunden vergehen. Wahrscheinlich geht den Patienten am Arsch vorbei, was Bill gesagt hat. Man könnte ihnen keinen Vorwurf machen. Sie plagen sich mit der Aussichtslosigkeit des Seins, sind schwer depressiv, schlucken Neuroleptika, die ihnen das Rasende aus den Empfindungen nehmen. Und Bill beschwert sich darüber, dass sie sich zu schade fürs Grillen waren. Ich müsste Mitleid mit diesen armen Gestalten haben. Doch ich empfinde nur wieder jene flammende Wut. Wut auf ihre Passivität. Auf ihre Gesichter mit den müden Augen, den steinharten Zügen. Um Himmels Willen, sprecht! Sagt etwas! Buchner glotzt. Baumann glotzt. Wiesner glotzt. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich reitet, als ich sage: „Ich finde, der Fernseher sollte in den rauchfreien Aufenthaltsraum gestellt werden. Aktuell können Raucher rauchen und fernsehen, Nichtraucher können gar nichts, ohne zugequalmt zu werden. Das ist nicht fair.“
Plötzlich tut sich etwas, leises Gemurmel, ich vernehme ein abfälliges „Naja“. Es gehört einem Neuzugang, seit zwei Tagen ist er hier, seit zwei Tagen hockt er in der Küche und raucht Kette und starrt aus einem halben Meter Entfernung in den Fernseher. Der Neuzugang sagt: „Der Fernseher sollte bleiben, wo er ist. Stimmen wir doch ab, dann ist die Sache klar.“
„Was!“, spucke ich ihm entgegen, aufgestachelt von diesem außerordentlich dummen Vorschlag. „Die Raucher sind in der Überzahl, eine Abstimmung wäre Quatsch.“
„Nee, das wäre Demokratie.“
„Demokratie für den Hausgebrauch vielleicht. Es geht darum, dass Raucher gefälligst in den Nichtraucherraum kommen sollen, wenn sie fernsehen wollen. Da ist jede Diskussion überflüssig.“
„Wieso ist jede Diskussion überflüssig?“ Der Neuzugang macht einen verwirrten Eindruck.
„Weil ein bisschen gesunder Menschenverstand ausreicht um zu erkennen, dass der Fernseher ins Nichtraucherzimmer gehört.“
Nun erhebt auch Baumann, der seine Alkoholsucht durch Nikotin zu substituieren versucht, die Stimme: „Der Fernseher steht seit einem halben Jahr in der Küche. Lassen wir ihn doch dort.“
Ein paar andere stimmen ihm zu, Sätze vermischen sich, es wird laut.
„Leute!“ Bill probiert zu schlichten. „Der Fernseher war bis jetzt noch nie ein Problem. Aber ich verstehe, dass die Nichtraucher im Augenblick benachteiligt sind. Herr Baumann, schnappen Sie sich doch heute Nachmittag einen Helfer und tragen Sie den Fernseher hinüber ins andere Zimmer.“
„Ach“, sagt Baumann, „soll ich nun Zeug schleppen wie auf dem Bau?“
Ich sage nicht, dass es seinem Namen gerecht würde.
„Vergessen Sie’s. Ich kümmere mich selber drum. Das war’s für heute, die nächste Konferenz ist in einem Monat.“ Bill wirkt genervt. Aber nicht so genervt wie die Patienten, die baff sind von der Wendung, dass ihnen jemand den Fernseher wegnimmt. Damit haben sie nicht gerechnet. Ich kann mir ein Gefühl der Schadenfreude nicht verkneifen. Als ich in mein Zimmer gehe, verwandelt sich die Schadenfreude allmählich in eine düstere Vorahnung, geboren aus der Gewissheit, dass ich mich gerade sehr unbeliebt gemacht habe. Ich muss an die Szene aus Full Metal Jacket denken: Rekruten verprügeln einen der ihren, weil sie unter seinem Verhalten leiden. Hier, in der Psychiatrie, gibt es keine Rekruten, sondern Nervenkranke, unter ihnen womöglich welche, die zur Gewalt neigen. Hoffentlich klappt das mit der Entlassung.
*
Diese Geschichte endet ohne Pointe. Weil sie wahr ist, alles davon ist wahr. Im Leben gibt es keine Moral, scheint mir. Frau Doktor Anger eröffnete mir am Tag darauf, dass man mich nicht festhalte, ich könne selbstverständlich gehen, aber nur gegen ärztlichen Rat. Die Unterschrift hab ich gern gesetzt. Am Ende wollte man wissen, ob ich denn wiederkäme, sollte es mir wieder schlechter gehen. Nein, hab ich gesagt, auf gar keinen Fall. Aber, gab man zu bedenken, das hier könne doch ganz gut tun, um Abstand zu gewinnen, mal alle Verpflichtungen sausen zu lassen. Ich fand das auf eine seltsame Art lustig. Hab aber nicht gelacht, sondern bin gegangen.
Seitdem steht der funktionierende Fernseher übrigens im Nichtraucherzimmer.