Gibt es normale Tage?
Sie tritt ein, als ich grade den letzen Schluck meines Bieres in mich reingekippt habe.
Es ist, als würde der ganze Raum für einen Augenblick erstarren, um ihrer Schönheit den gebührenden Respekt zu zollen, die Tanzenden blicken sich um, der DJ macht einen Fehler beim Wechsel der Platten und der Barkeeper verschüttet einen Schluck Wodka auf die Theke. Natürlich könnte das auch alles reiner Zufall sein.
Dann ist der Moment vorbei und alles geht seinen alten Gang. Wenn die Atmosphäre auch ein bisschen gespannt bleibt. Finde ich. Sie wird sich jetzt einen Martini bestellen, für ein paar Minuten an der Theke sitzen bleiben und dann eines der zahlreichen Tanzangebote annehmen. Es ist jeden Tag das gleiche, ich beobachte sie schon seit Längerem. Vielleicht wird sie mich im Vorübergehen kurz bemerken, vielleicht auch nicht. Falls es so sein sollte, werde ich ihr nicht auffallen. Sie würde mich mit einem Blick einschätzen: zu groß für eine Frau, zu schlaksig, scheiß Frisur, und sie würde einfach weiter gehen. Ich streiche mir seitlich über die Haare, über Mittkopf geht schlecht, denn ich trage einen Iro. Einen kleinen. Allerdings nur wenn ich ausgehe, im Büro macht sich das schlecht. Wenn man versucht, Verträge mit Modedesignern aus aller Welt abzuschließen, muss man einen ordentlich Eindruck machen.
Der erste Mann für diesen Abend kommt auf sie zu und bittet sie um einen Tanz, aber sie lächelt bloß und deutet auf ihr halbleeres Glas. Trottel, sie ist noch nicht fertig. Er stammelt eine Entschuldigung und verzieht sich schnell. Sie streicht sich eine ihrer langen, blonden Strähnen aus dem Gesicht, so dass ich jetzt ihr Profil gut sehen kann. Das energische Kinn, die vollen Lippen, die leicht spitze Nase, die leicht mandelförmigen Augen. Der Barkeeper hat mir gesagt, sie komme aus Grönland oder so. Deswegen der leicht asiatische Touch.
Sie hat den Martini ausgetrunken und wird jetzt auf eine gute Partie warten. Wie ich schon bemerkt habe, bevorzugt sie große, schwarzhaarige Männer von etwa 25. Solche, die gepflegt aussehen und irgendwie wie Wirtschaftsmanager. Nach ihrer Kleidung zu urteilen könnte sie auch in die Wirtschaftsbranche passen. Ah, Objekt auf vier Uhr gesichtet. Allerdings, uh, das ist schlecht, er ist nicht rasiert. Dreitagebart. Versuch es erst gar nicht Junge, damit landest du bei ihr nicht. Er versucht es. Er wird abgewiesen. Hab ich es nicht gesagt? Der da hinten, der hätte bessere Chancen. Ich glaube, ich habe ihn mal auf einem Meeting getroffen und ja...er kommt in Richtung Theke. Uh, das ist wieder schlecht. Er kommt auf mich zu.
Dreh ab! Dreh ab! Wirst du wohl hören, verdammt.
„Guten Abend.“
Ich verziehe den Mund zu einem höflichen Lächeln. „Abend.“
„Macht es Ihnen etwas was, wenn ich mich dazusetze?“
„Natürlich nicht, bitte.“
Ich rutsche ein Stück zur Seite, damit er auf seinem Hocker bequemer sitzen kann. Er bestellt einen Wodka-Orange. Mir fällt auf, dass er genau ihren Geschmack treffen würde. Fast wäre mir rausgerutscht, er solle es doch bei der Frau vier Hocker weiter probieren.
„Sagen Sie, haben wir uns nicht schon einmal getroffen?“
„Vor zwei Wochen“, antworte ich prompt. „Ich trug damals einen Rock und hatte die Haare unten. Gerber, Sie wissen schon.“
„Ah genau, die Firma Gerber. Sie sind die Vertreterin, nicht?“
Ich nicke.
„Sie sehen ziemlich anders aus so. Ich meine, die Frisur. Die Kleidung.“
„Das ist auch Absicht“, erwidere ich. „Damit man mich nicht erkennt“, füge ich witzelnd hinzu.
„Na, das ist ja dann schief gegangen“, meint er. „Sagen Sie, kennen Sie die Frau da vorne?“
Ich blicke in die Richtung, in die er deutet und sehe natürlich sie. Schön wär’s, denke ich und sage: „Nein, nicht im Geringsten. Warum?“
„Sie starrt hier rüber.“
„Na, dann sollten Sie vielleicht mal rüber gehen“, schlage ich vor. Vielleicht, um ihn loszuwerden. Oder um mich zu beruhigen..
Er zieht mit der Rechten seinen Jacketärmel etwas hoch. „Eigentlich muss ich schon. Aber vielleicht sehen wir uns ja noch mal.“
„Vielleicht“, verabschiede ich ihn. Kenne nicht mal seinen Namen. Macht nichts.
Als ich einen Blick auf ihren Platz werfe sitzt sie nicht mehr dort, kurz fluche ich vor mich hin und blicke mich dann in der Bar um. Linke Ecke nichts, rechte Ecke auch nichts. Hinten bei den Sofas ebenfalls nichts.
„Suchen Sie jemanden?“
Mein Herz kann sich nicht ganz entscheiden, ob es nach oben oder unten soll. Es entscheidet sich dafür, einfach zu bleiben wo es ist. Mein Puls verändert sich nicht.
„Habe mich nur umgesehen“, antworte ich und drehe mich zu ihr um.
„Hab mich nur gewundert, weil er sonst nie jemanden anspricht.“
„Äh, wer?“ Bin ein wenig irritiert. Könnte von ihrem Parfüm kommen.
„Der Mann, mit dem Sie grade gesprochen haben. Mein Bruder.“
Aha. Ja. Nein. Gut? Schlecht? „Ach, deshalb haben Sie hier rüber gesehen“, rutscht es mir raus. Als sie die Brauen hoch zieht füge ich schnell hinzu: „Er meinte das zu mir. Warum bloß, wo er Sie doch kennt?“
Ich sehe hinter ihrem Rücken einen ihrer potenziellen Tanzpartner aufkreuzen und kann nicht verhindern, dass mein linker Mundwinkel ein wenig enttäuscht nach unten zuckt.
Sie hat ihn ziemlich schnell abserviert.
„Kennen Sie ihn irgendwo her?“
„Wir arbeiten in der gleichen Branche. Ich vertrete neue Modekreationen.“
Sie sieht mich mit einem Blick an, der deutlich zeigt, dass sie mir das nicht abnimmt.
„Bleibe gerne inkognito“, stammele ich. Blöde Ausrede. Eigentlich fühle ich mich so bloß wohler, aber das will ich ihr nicht auf die Nase binden. Damit ich nicht noch eine Stufe niedriger sinke auf ihrem Idealitätstreppchen.
„Ah ja“, meint sie nur. Deutet dann hinter sich. „Ich geh dann mal wieder.“
„Hat mich gefreut“, murmele ich und blicke ihr hinterher, wie sie in der Menschenmenge verschwindet. Ein paar Mal sehe ich ihr rotes Kleid noch zwischen den anderen auftauchen.
Es ist zwölf und ich beschließe, jetzt endlich zu gehen. Ich werde morgen um sieben im Büro sein müssen und es ist besser, pünktlich da anzukommen. Na ja, was heißt pünktlich. Eine Stunde mehr oder weniger, da kommt es nicht drauf an. Wünsche dem Barkeeper einen schönen Feierabend und ziehe meine Jacke über, bahne mir den Weg nach draußen. Da sehe ich ein Stück rotes Kleid um die Hausecke verschwinden und ehe ich mich unter Kontrolle kriege stehe ich an besagter Ecke und schiele um sie herum. Sie steht da auf ein Eisengitter gestützt und atmet schwer.
„Alles okay?“, frage ich.
Sie fährt herum und starrt mich mit funkelnden Augen an. Ihr Make-up ist verlaufen.
„Geht Sie nichts an!“, faucht sie, dreht sich um und geht ein Stück weg. Eigentlich torkelt sie eher. Wohl etwas zu viel getrunken.
„Sind Sie sicher, dass Sie so nach Hause kommen?“, rufe ich ihr hinterher.
„Ich komme immer nach Hause.“
Sie schwankt noch einmal und sackt dann gegen die Hauswand. Für einen Moment stehe ich noch unschlüssig da, dann laufe ich eilig zu ihr und nehme ihren Arm, um sie zu stützen. Sie ist ganz kalt. Ich richte sie auf und drehe ihr Gesicht vorsichtig hin und her, ihre Augen sind ganz glasig. Wirklich zu viel getrunken.
„Ich glaube, Sie brauchen ein Wasser“, meine ich deshalb und lege ihr den anderen Arm um die Taille, damit sie mir nicht wegkippt. Bevor wir wieder in der Bar sind kotzt sie gegen die Hauswand. Ich schüttele nur den Kopf und gehe von drinnen ein Wasser holen, welches sie auf einen Zug runterkippt. Dann lässt sie mich einfach stehen und geht zur Toilette. So leicht lasse ich mich aber nicht abschütteln, ich folge ihr und lehne mich gegen den Türrahmen, als sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzt. Sie wäscht das Make-up ab, das jetzt sowieso nicht mehr zu retten gewesen wäre.
„Sie sind ja immer noch hier“, stellt sie dann fest.
„Sie wären mir draußen auch fast umgekippt.“
„Ist nicht Ihr Problem.“
„Na wenn Sie meinen.“
Sie mustert mich kühl und irgendwie abweisend. „Denken Sie ich merke nicht, wie Sie mich immer anstarren?“
Das Thema gefällt mir jetzt überhaupt nicht.
„Ich suche mir immer das Schönste im Raum“, sage ich dann.
„Nur damit Sie es wissen...“, fängt sie an und kommt mir dabei gefährlich nahe. „ICH BIN NICHT LESBISCH!“
Und sie fegt aus dem Raum und knallt die Tür hinter sich zu. Uff. Unsere erste Begegnung hätte ich mir angenehmer vorgestellt. Zumal es wahrscheinlich auch die letzte gewesen ist. Ich stelle mich kurz vor den Spiegel und mustere mich. Mein Gesicht ist zu kantig. Überhaupt bin ich zu kantig. Kantig und groß und schlaksig. Wah.
Eine der Toilettentüren geht auf, ich hatte nicht damit gerechnet, dass noch jemand hier drin war und so zucke ich ziemlich zusammen.
„Es gibt undankbare Menschen“, meint die Frau und dreht den Wasserkran auf. „Lisa ist einer von ihnen. Sie sollten sich das nicht zu Herzen nehmen.“
Sie lächelt mich durch den Spiegel an und zeigt dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. Ihr Lächeln ist etwas zu breit. Vielleicht kommt mir das aber auch nur so vor, weil die ganze Frau ein wenig breit ist. Nicht unbedingt pummelig. Aber ein bisschen breit. Süß irgendwie.
„Sie kennen sie?“, frage ich verdutzt nach.
„Ich war mal mit ihr zusammen“, antwortet die Fremde.
Ich glaube ich sehe grade ziemlich bescheuert aus. „Aber...“, will ich widersprechen, doch sie hebt sofort eine Hand. „Ich hab gehört was sie gesagt hat. Das heißt nur, dass sie in diesem Augenblick keine Lust auf Sex hatte, mehr nicht. Sie ist so. Total irre.“ Die Frau legt den Kopf ein wenig schief. „Aber eine Bombe im Bett. Hören Sie auf mich, lassen Sie die Finger von ihr. Sie lässt einen fallen wie eine heiße Kartoffel. Als ob sie einen nie gekannt hätte.“
„Kennen Sie ihren Bruder?“, frage ich jetzt. Warum, weiß ich selbst nicht.
„Bruder? Hat sie nicht. Na, ich muss jetzt los. Schönen Abend noch“, meint sie und zwinkert mir zu. Sie schließt die Tür ein wenig leiser.
Ich streiche mir mit dem Mittelfinger über die Unterlippe und starre meinem Spiegelbild in die Augen. Kein Bruder. Lesbisch. Arschloch. Na klasse. Manche Illusionen will man sich gar nicht nehmen lassen. Ich verabschiede mich ein zweites Mal von dem Barkeeper und schlage den Rückweg ein. Mittlerweile ist es halb eins. Ich glaube, ich werde meine Stammkneipe wechseln.