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Giltsching, der Spinner

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12.12.2006
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Giltsching, der Spinner

Herr Giltsching war ein kleiner Mann, seit dreißig Jahren Angestellter bei einer Versicherungsfirma, die ihm vor einem Vierteljahr aus Rationalisierungsgründen, wie gesagt wurde, das Vertragsverhältnis aufkündigte. Wie alle anderen Arbeitslosen bekam er es nun mit der Agentur für Arbeit zu tun. Er lachte sarkastisch, wenn er diesen Namen wörtlich nahm: für Arbeit! Doch eher wohl Arbeitslosigkeit! Andere Arbeitslose, denen er von seiner Entdeckung berichtete, konnten darüber nicht lachen, sie hielten ihn für einen Spinner, den die gewaltsame Veränderung seiner Einkommenssituation überschnappen ließ.

Er besaß ein eigenes Haus, ein kleines Fachwerkhaus in der Altstadt. Vor Jahren hatte er all sein Gespartes in das denkmalgeschützte Haus gesteckt und auch einen Kredit aufgenommen, denn er erhoffte sich im Vertrauen auf den Rechtsstaat eine Sicherung seines Alters. Das Häuschen war ein paar Quadratmeter zu groß für eine einzelne Person, und so legte man ihm in der Arbeitsagentur nahe, das Haus zu verkaufen. Anfangs ging er darauf auch ein, aber dann wurde ihm klar, dass sich sein Alter, er ahnte, dass er arbeitslos sein würde, bis ihm die Altersrente zustand, sehr geschmälert gestalten würde, zu sehr geschmälert. Seiner Bearbeiterin, einer mütterlichen Frau, erklärte er deshalb den Rücktritt von seiner Zusage, und sie vermerkte jedes seiner Worte in ihrem Computer.

Nach einigen Wochen bekam er Bescheid von der Agentur. Sie übernähme nur einen Teil der Wohnkosten, nicht aber jenen Betrag über das hinaus, was einer einzelnen Person zustünde. Herr Giltsching schrieb einen empörten Widerspruch, anklagend und nicht ganz salonfähig. Man blieb bei der ursprünglichen Entscheidung. Das Amt hatte gesprochen, und damit basta.

Herr Giltsching war ratlos. Nächtelang schlief er nicht, der Bescheid der Agentur lag auf seinem Nachttisch, wieder und wieder las er ihn, wieder und wieder deutete er ihn anders als zuvor.

Eines Morgens erwachte er: Er hatte einen Plan. Gleich nach dem Aufstehen, nach dem Rasieren und einem letzten guten Frühstück, würde er mitsamt Schlafsack in die Levellerstraße umziehen, sich dort vor dem Gebäude der Arbeitsagentur im Park ein stilles Plätzchen unter einem Baum suchen und in den Hungerstreik treten. Bevor er seinen Plan wahrmachte, schrieb er auf die Rückseite einer Gemäldekopie, eine andere Unterlage dieses Formats gab es in seinem Haus nicht, folgendes:

„Ich protestiere gegen die Willkür der Arbeitsagentur! Ich verlange mein Recht auf alle mir zustehenden Wohnkosten!“

Kaum hatte er mit Zelt und Plakat unter einem ausladenden Ahornbaum Stellung bezogen, als auch schon ein Reporter des Lokalblattes erschien und wissen wollte, warum, wieso, weshalb und wie er sich fühle. Herr Giltsching beantwortete jede Frage auf Ehre und Gewissen. Nur wie er sich fühle, diese Frage beantwortete er nicht. Statt dessen grinste er den Reporter an, was dieser in seinem Bericht genussvoll vermerkte.

In der Arbeitsagentur wurde man schon mittags unruhig, man schickte die Polizei zu Herrn Giltsching. Der Polizist, ein noch nicht allzulang gedienter Mann, forderte Herrn Giltsching auf, sich mitsamt seinem Krempel aus dem Park zu verpflümen. Herr Giltsching sah in den groben Worten des uniformierten Mannes eine persönliche Beleidigung und weigerte sich, dieser Aufforderung, sie lautete unverzüglich, nachzukommen. Der Beamte musste notgedrungen handgreiflich werden. Also beseitigte er als erstes das Zelt, indem er die Heringe niedertrat, entriss dem Widerspenstigen die aufrührerische Gemälderückseite und war gezwungen, mehrere Polizeigriffe einzusetzen, bis er den renitenten Bürger endlich ins Auto verfrachten konnte. Auf dem Revier wurde ein Protokoll angefertigt, Herr Giltsching weigerte sich, es zu unterschreiben. „Na, dann eben nicht“, sagte der Diensthabende und forderte ihn auf, sich nach Hause zu begeben, die Rechnung für den Einsatz, der die Polizei von der Terroristenbekämpfung abgehalten habe, werde er in ein paar Tagen erhalten. Herr Giltsching solle in sich gehen, mit der Sicherheit der Bürger spiele man nicht folgenlos.

Am Abend erlitt Herr Giltsching einen Herzinfarkt. Er befand sich allein in seinem Häuschen, es wurde von Reportern belagert, er hatte sich geweigert, die Meute, wie er sie nannte, in sein Allerheiligstes, sein Herzblut, einzulassen.

Am Morgen hatte sich der Reporterpulk verzogen. Herr Giltsching lag einsam auf dem Teppich vor seinem Bett. Er atmete nicht mehr. Sein Gesicht war unförmig verzogen, die Gliedmaßen rechterseits seltsam verkrampft. Seine Hand wies anklagend auf eine helle Stelle an der Wand. So fand ihn die von Nachbarn alarmierte Feuerwehr am nächsten Tag.

Der Einsatzleiter bemerkte die helle Stelle auf der Tapete. Er las auch die mit rotem Filzstift geschriebenen Worte in dem Viereck: Mene, mene tekel. Der Feuerwehrmann verstand nur die deutsche Sprache, und so lachte er, bis ihm die Tränen kamen. „Ein Spinner“, erklärte er den Umstehenden. „Kinderkram! Nicht ganz sauber!“

 

Hallo Estrel,

schöne Geschichte, kurz und knapp, betroffen machendes Thema ohne allzu viel Betroffenheitgedusel rübergebracht, Glückwunsch.

Bei ein oder zwei Sätzen wusste ich am Punkt angekommen nicht mehr, womit sie angefangen hatten, aber ansonsten liest sich dein Stil ziemlich gut.

Die Geschichte derart alttestamentarisch ausklingen zu lassen, hat mir aber nicht so gefallen, war ein bisschen zu dick ... Da hast du dich wohl von dem ganzen Christenkram, der einem zu Weihnachten um die Ohren fliegt, irgendwie anstecken lassen :) .

Grüße

Jan-Christoph

 

Nein, kein Christenkram. Belsazar war, soviel ich weiß, kein Christ, darum auch nicht alttestamentarisch. (Mene tekel: Gewogen und zu leicht befunden). Hab vielen Dank für deinen Kommentar.

Viele liebe Grüße
Estrel

 

Naja, dir hat der der alte Sack das vielleicht persönlich verraten, aber ich kenne die Geschichte aus dem fünften Buch Daniel im Alten Testament der Bibel.

Ich wäre eher an einer Stellungnahme zu meiner unwürdigen Meinung interessiert gewesen, dass das Ende ein bisschen dick aufgetragen daher kommt, also an so einer albernen Klugscheißerei.

 

Hast ja recht, Proof. Ist biblisch, aber ich bleib bei dem ungläubigen Belsazar. Das Ende ist ein bisschen dicklich, auch da hast du recht. Vielleicht sollte ich die provokatorische und anklägerische Geste des unwürdigen Toten einsparen, dann bleibt nur noch der Spruch. Oder missfällt dir der Spruch? Dann lass ich den weg, bei mir ist der Kunde König. Oder beides? Statt Mene, mene tekel schreibt er dann das schlichte Wort Scheiße an die Wand. Wäre das realistischer? Vielleicht auch Merde, damit es nicht so gewöhnlich klingt? Aber dann zuckt der Feuerwehrmann nur noch die Schultern, denn Französisch kann er auch nicht, und vielleicht liest er dann Herde, und damit fällt die ganze Pointe weg. Am besten, ich warte ab, ob sich die Geschichte selbst zu Ende schreibt. War erfrischend, dein Hinweis. Danke.

Viele liebe Grüße
Estrel

 

Am besten, ich warte ab, ob sich die Geschichte selbst zu Ende schreibt.

Das klappt nicht, hab ich auch schon mal probiert.

Oder missfällt dir der Spruch?

Nein, ich finde es nur ein bisschen weit hergeholt und verkrampft sinnschwanger, dass er das da hinschreibt. Er ist Versicherungsfritze und kein Theologie-Dozent.

Aber dann zuckt der Feuerwehrmann nur noch die Schultern, denn Französisch kann er auch nicht

Dann wäre die Endlösung vielleicht ein gebildeterer Feuerwehrmann?

 

Hallo Estrel,

hat mir gut gefallen, inklusive mene tekel. (Bin aber auch Fan der entsprechenden Händel-Vertonung ...) Bleibt zwar die Frage, ob es vor oder nach dem Herzinfarkt geschrieben wurde und falls dem biblischen Vorbild folgend, von wem ?

Zum Rest der Geschichte: Schön zynisch und trocken, genau auf meiner Linie. Und ein nettes unhappy End. Gern gelesen,

LG,

N

@proof: Das mit der Endlösung ging in der Vergangenheit schon mal ziemlich daneben ... nur so eine kleine Randbemerkung zum Thema Wortwahl ...

 

nur so eine kleine Randbemerkung zum Thema Wortwahl ...

Hach, ich hatte schon gefürchtet, es würde nie jemand auf meine pennälerhafte Provokation reagieren ... :D

 

pennälerhafte Provokation

sach bloß, du bist dir dessen bewusst, was du so schreibst ... ist ja toll. Sollte vielleicht mal einen Blick auf deine Geschichten werfen ...

 

sach bloß, du bist dir dessen bewusst, was du so schreibst ...

Absolut. Ich weiß ganz genau, was ich da tue. Aber sag meinem Anwalt nicht, dass ich's verraten habe. Der versucht nämlich, mich rauszuholen, indem er auf "schwer zurückgeblieben" plädiert ...

Sollte vielleicht mal einen Blick auf deine Geschichten werfen

Viel Spaß! :read: Ich freu mich auf deine Kritik.

 

Also, nach so viel Meinungsverschiedenheit bleib ich bei Mene, mene tekel. Das ist so herrlich abgehoben, und der ganze Mann ist es doch in seiner Wut, passt irgendwie dazu. Punktum. Die Autorin. Wer was anderes sagt, ist ja nur neidisch auf fremde Geistesblitze. Dass er die nicht selbst gehabt hat, und dann schreibt er unter Umständen bei nächster Gelegenheit ab. Ich habe ein Auge auf dich, Proof ...

Es grüßt recht herzlich
Estrel

 

Hallo Estrel

... jetzt, bei der zweiten Story von Dir, sehe ich, dass Deine Einschieberei von Ergänzungen und das Anhängen von Erklärungen ein Stilmittel zu sein scheint. Tut aber auch dieser Geschichte keinen Gefallen. Die Geschichte ist zwar gerafft und schnell erzählt, aber auch hier ohne großes Kino. Nicht, dass es jetzt nach Hollywood müffeln sollte, aber z.B. dieses nachts im Bett liegen und dauernde lesen der amtlichen Mitteilung... Was fühlt da ein Mensch? Wir sind keine Maschinen, die einfach nach einer Belastung einen Defekt erleiden und dann als Spinner abgeschoben werden. Dahinter stecken eine Menge Gefühle und die hätte ich gerne gelesen. Fehlanzeige. Schade.
Menetekeln - heißt das nicht auch unken?
Liebe Grüße
Detlev

 

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