Giltsching, der Spinner
Herr Giltsching war ein kleiner Mann, seit dreißig Jahren Angestellter bei einer Versicherungsfirma, die ihm vor einem Vierteljahr aus Rationalisierungsgründen, wie gesagt wurde, das Vertragsverhältnis aufkündigte. Wie alle anderen Arbeitslosen bekam er es nun mit der Agentur für Arbeit zu tun. Er lachte sarkastisch, wenn er diesen Namen wörtlich nahm: für Arbeit! Doch eher wohl Arbeitslosigkeit! Andere Arbeitslose, denen er von seiner Entdeckung berichtete, konnten darüber nicht lachen, sie hielten ihn für einen Spinner, den die gewaltsame Veränderung seiner Einkommenssituation überschnappen ließ.
Er besaß ein eigenes Haus, ein kleines Fachwerkhaus in der Altstadt. Vor Jahren hatte er all sein Gespartes in das denkmalgeschützte Haus gesteckt und auch einen Kredit aufgenommen, denn er erhoffte sich im Vertrauen auf den Rechtsstaat eine Sicherung seines Alters. Das Häuschen war ein paar Quadratmeter zu groß für eine einzelne Person, und so legte man ihm in der Arbeitsagentur nahe, das Haus zu verkaufen. Anfangs ging er darauf auch ein, aber dann wurde ihm klar, dass sich sein Alter, er ahnte, dass er arbeitslos sein würde, bis ihm die Altersrente zustand, sehr geschmälert gestalten würde, zu sehr geschmälert. Seiner Bearbeiterin, einer mütterlichen Frau, erklärte er deshalb den Rücktritt von seiner Zusage, und sie vermerkte jedes seiner Worte in ihrem Computer.
Nach einigen Wochen bekam er Bescheid von der Agentur. Sie übernähme nur einen Teil der Wohnkosten, nicht aber jenen Betrag über das hinaus, was einer einzelnen Person zustünde. Herr Giltsching schrieb einen empörten Widerspruch, anklagend und nicht ganz salonfähig. Man blieb bei der ursprünglichen Entscheidung. Das Amt hatte gesprochen, und damit basta.
Herr Giltsching war ratlos. Nächtelang schlief er nicht, der Bescheid der Agentur lag auf seinem Nachttisch, wieder und wieder las er ihn, wieder und wieder deutete er ihn anders als zuvor.
Eines Morgens erwachte er: Er hatte einen Plan. Gleich nach dem Aufstehen, nach dem Rasieren und einem letzten guten Frühstück, würde er mitsamt Schlafsack in die Levellerstraße umziehen, sich dort vor dem Gebäude der Arbeitsagentur im Park ein stilles Plätzchen unter einem Baum suchen und in den Hungerstreik treten. Bevor er seinen Plan wahrmachte, schrieb er auf die Rückseite einer Gemäldekopie, eine andere Unterlage dieses Formats gab es in seinem Haus nicht, folgendes:
„Ich protestiere gegen die Willkür der Arbeitsagentur! Ich verlange mein Recht auf alle mir zustehenden Wohnkosten!“
Kaum hatte er mit Zelt und Plakat unter einem ausladenden Ahornbaum Stellung bezogen, als auch schon ein Reporter des Lokalblattes erschien und wissen wollte, warum, wieso, weshalb und wie er sich fühle. Herr Giltsching beantwortete jede Frage auf Ehre und Gewissen. Nur wie er sich fühle, diese Frage beantwortete er nicht. Statt dessen grinste er den Reporter an, was dieser in seinem Bericht genussvoll vermerkte.
In der Arbeitsagentur wurde man schon mittags unruhig, man schickte die Polizei zu Herrn Giltsching. Der Polizist, ein noch nicht allzulang gedienter Mann, forderte Herrn Giltsching auf, sich mitsamt seinem Krempel aus dem Park zu verpflümen. Herr Giltsching sah in den groben Worten des uniformierten Mannes eine persönliche Beleidigung und weigerte sich, dieser Aufforderung, sie lautete unverzüglich, nachzukommen. Der Beamte musste notgedrungen handgreiflich werden. Also beseitigte er als erstes das Zelt, indem er die Heringe niedertrat, entriss dem Widerspenstigen die aufrührerische Gemälderückseite und war gezwungen, mehrere Polizeigriffe einzusetzen, bis er den renitenten Bürger endlich ins Auto verfrachten konnte. Auf dem Revier wurde ein Protokoll angefertigt, Herr Giltsching weigerte sich, es zu unterschreiben. „Na, dann eben nicht“, sagte der Diensthabende und forderte ihn auf, sich nach Hause zu begeben, die Rechnung für den Einsatz, der die Polizei von der Terroristenbekämpfung abgehalten habe, werde er in ein paar Tagen erhalten. Herr Giltsching solle in sich gehen, mit der Sicherheit der Bürger spiele man nicht folgenlos.
Am Abend erlitt Herr Giltsching einen Herzinfarkt. Er befand sich allein in seinem Häuschen, es wurde von Reportern belagert, er hatte sich geweigert, die Meute, wie er sie nannte, in sein Allerheiligstes, sein Herzblut, einzulassen.
Am Morgen hatte sich der Reporterpulk verzogen. Herr Giltsching lag einsam auf dem Teppich vor seinem Bett. Er atmete nicht mehr. Sein Gesicht war unförmig verzogen, die Gliedmaßen rechterseits seltsam verkrampft. Seine Hand wies anklagend auf eine helle Stelle an der Wand. So fand ihn die von Nachbarn alarmierte Feuerwehr am nächsten Tag.
Der Einsatzleiter bemerkte die helle Stelle auf der Tapete. Er las auch die mit rotem Filzstift geschriebenen Worte in dem Viereck: Mene, mene tekel. Der Feuerwehrmann verstand nur die deutsche Sprache, und so lachte er, bis ihm die Tränen kamen. „Ein Spinner“, erklärte er den Umstehenden. „Kinderkram! Nicht ganz sauber!“