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Glück auf Erden
Es beginnt zu regnen, als ich die Bücherei verlasse. Hastig bringe ich den Marktplatz hinter mich und biege in die enge Gasse zwischen Kaufhof und C & A ein.
Als ich die Bushaltestelle schließlich erreiche, bin ich klatschnass. Die letzten Sonnenstrahlen dringen durch eine Wolkenlücke und tauchen die beinahe verlassene Innenstadt in ein unwirkliches Licht.
Ich lasse mich auf eine der Hartplastikschalen fallen und hole das Buch aus der Plastiktüte hervor. "Perlmanns Schweigen" von Pascal Mercier. Fast eine Woche musste ich auf die Bestellung warten.
Neben mir steht ein junges Mädchen, vielleicht 15 Jahre alt. Sie sieht gut aus in der dunklen Jeans, und ich ertappe mich dabei, wie ich auf ihren Hintern starre. Als sie den Blick in meine Richtung wendet, drehe ich schnell den Kopf zur Seite und gebe vor, den Klappentext des Buches zu lesen.
Das Motorengeräusch eines Busses erklingt aus der Ferne. Meiner kann es noch nicht sein. Ich weiß, wann er fährt. Als er hält, schaue ich trotzdem kurz auf. Das Mädchen lächelt mir zu, und steigt dann ein. Ich spüre, wie sich in meiner Hose etwas regt. Sie ist höchstens halb so alt wie ich, ich sollte mich schämen. Schnell widme ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Buch. Auf der ersten Seite steht eine kurze Beschreibung des Autors, die ich überfliege. Der Bus fährt los, ich blättere weiter. Der Regen wird stärker. Laut und unrhythmisch prasseln die Tropfen auf das Dach des Wartehäuschens.
Bei dem Gedanken daran, heute Abend noch in die Cocktailbar zu fahren, verkrampft sich mein Magen. Ich habe Sven versprochen mitzukommen, auch wenn er ganz genau weiß, dass ich seine Arbeitskollegen nicht leiden kann. Aufgeblähte Gestalten, die meinen, irgendwann große Wirtschaftsbosse zu werden. Dem einen, ich habe vergessen wie er heißt, fallen die Haare aus. Es liegt bei ihm in der Familie, und er versucht ständig diesen Umstand zu überspielen, in dem er sich lächerliche Scheitel kämmt. Ansonsten trägt er schwarz, wie er gerne sagt. Grau stimmt nicht mit dem schlichten Prinzip eines wichtigen Industriellen überein, nur schwarz deckt sich mit der Unauffälligkeit eines werdenden Geschäftsführers. Was für ein Arschloch. Am liebsten würde ich mich zu Hause ins Bett legen und mein Buch lesen.
Plötzlich erscheint ein Schatten neben mir. Unwillkürlich fahre ich zusammen.
Ein Mann, groß wie ein Hühne nickt mir ernst zu und nimmt direkt neben mir Platz, obwohl alle Schalen frei sind. Die Unterseite seines wuchtigen Mantels kommt auf meinem linken Bein zum liegen.
Kurz ärgere ich mich über seine Unhöflichkeit, nehme sie dann aber gleichgültig hin. Immerhin macht er einen gepflegten Eindruck. Sein Rasierwasser ist mir unbekannt, riecht aber wirklich gut. Markant, doch nicht aufdringlich.
"Guten Abend", sagt er, ohne mich dabei anzuschauen.
"Abend", erwidere ich kurz und hoffe innbrünstig, dass er nicht vorhat eine Unterhaltung mit mir anzufangen.
"Ich kenne dieses Buch. Um genau zu sein kenne ich...aber ich will Sie nicht stören, Sie lesen ja bereits."
Ich kann nicht sagen, was genau mit seiner Stimme ist. Sie ist irgendwie anders. Für einen kurzen Moment rast ein Wort durch meinen Schädel, wie ein Schnellzug, der zum rechten Ohr rein, und zum linken wieder rausfährt. Seine Stimme ist weise. Niemals zuvor hat dieses Wort einen solchen Schauer bei mir ausgelöst.
"Dann verraten Sie mir aber nicht, was passieren wird", versuche ich zu scherzen. Meine Kehle ist trocken wie ein leeres Wasserglas und ich bringe bloß ein Krächzen heraus.
Der Mann lacht.
"Nein, ich werde Ihnen kein Wort sagen. Ich bin wegen etwas anderem hier."
Er zieht einen dunklen Stein aus seiner Manteltasche und hält ihn mir hin.
"Was soll das?"
Er stutzt.
"Sie können gar nicht wissen was das ist, entschuldigen Sie meine Direktheit."
Hastig zieht er den Stein wieder zurück.
"Kennen Sie dieses Hochgefühl, wenn nach ewiger Suche endlich alles so ist, wie Sie es sich immer erhofft haben?"
Also doch ein Spinner. Was sind das für Zeiten, in denen man die Leute nicht einmal mehr nach ihrem Äußeren beurteilen kann?
"Das habe ich immer, wenn ich morgens meine Schlüssel nach ewigem Herumkramen finde."
"Nein, das meine ich nicht. Ich rede von dem Gleichgewicht."
Ein Bus hält. Meiner ist es noch nicht, trotzdem spiele ich mit Gedanken einfach aufzustehen und einzusteigen. Ich könnte eine Haltestelle hinter mich bringen und wieder aussteigen. Dann denke ich mir : Warum wegen diesem Vollidioten einen solchen Umstand betreiben?
Ein fetter Mann kommt aus dem Bus. Sein Hosenschlitz ist offen. Das fällt mir sofort auf. Ich versuche jedes Detail zu erkennen, obwohl es mich anwidert. Ich meine, seinen Penis hinter dem Schlitz erkennen zu können, wie er sich durch den Stoff der Unterhose presst. Der Kerl rülpst und läuft dann an dem Wartehäuschen vorbei. Mein Buch fällt auf den Boden. Ich habe die Kontrolle über meine Hände verloren, wie ein übermüdeter Betrunkener. Was soll der Scheiß? Scheinbar bin ich blöd genug, mich von einem Fremden nervös machen zu lassen.
"Hören Sie", fange ich an, und schaue nach rechts.
Die Schale ist leer, der Hühne verschwunden.
Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Ich hebe das Buch auf und stelle fest, dass es nass geworden ist. Dann erst drehe ich mich nach hinten, um festzustellen, dass der Hühne tatsächlich verschwunden, also nicht bloß weggegangen ist. Nur der fette Kerl wankt orientierungslos durch die Gasse.
Auf dem Platz, auf dem der Mann mit dem Mantel gesessen hat, liegt der Stein. Ich nehme ihn in die Hand.
Er ist kalt und warm zugleich.
Starr sitze ich da und warte auf meinen Bus, den Stein fest umklammert. Mein Buch liegt wieder auf dem Boden.
Irgendwann betrete ich meine Wohnung. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin. Ich schalte den Fernseher ein, empfange aber keine Programme.
Schnell gehe ich zum Fenster. Es sind keine Menschen auf der Straße. Die Wolken weichen vom Himmel und machen einem strahlenden Blau platz.
Die Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite...wächst?
Erst glaube ich, einer Täuschung zu unterliegen, aber dann ist die Tatsache nicht mehr zu leugnen. Die Kirche wächst und wächst. Ihre Türme ragen wie Wolkenkratzer nach oben, die Eingangspforte ist groß genug, um einem Elephanten Einlass zu gewähren. Aber sie wächst noch weiter, hört einfach nicht mehr auf damit größer zu werden.
Plötzlich kommt eine Stimme aus dem Fernseher.
"Es ist alles in Ordnung. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Wir sind so froh, dass es allen so unheimlich gut geht."
Tränen fließen an den Augen der Nachrichtensprecherin herab. Schluchzen aus dem Hintergrund.
Schnell schalte ich auf ein anderes Programm. Ein Reisesender.
"...verraten, was ich sagen soll? Es braucht niemand hierher zu fliegen. Glück ist allgegenwärtig. Niemand braucht sein zu Hause zu verlassen, weil die Menschen alle so verdammt glücklich sind."
Ich schaue auf den Stein, der zu vibrieren anfängt.
Jetzt weiß ich, was der Hühne mit Gleichgewicht gemeint hat.
Kleine Scheren schießen aus der Oberfläche und schneiden sich in meine Hand, und dann bin auch ich mit einemmal...
Glücklich.