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Glückliche Familie
Glückliche Familie
Es war ein grauer, kalter Septembernachmittag. Ziellos schlurfte Ela durch die Gassen der Stadt, die sie in- und auswendig kannte, und die sie durch nichts mehr zu überraschen vermochte.
Den ganzen Morgen schon war Ela umhergeirrt. Gedanken waren ihr wie Flutwellen durch den Kopf gerauscht, und nun fühlte sie sich, als wäre sie überhaupt nicht mehr fähig zu denken.
Die Strasse war fast menschenleer, nur am Kiosk stand ein Mädchen und kaufte Zigaretten. Das ist ja Anna, dachte Ela. Wenn sie mich sieht, wird sie wieder tausend Fragen stellen. Und sie schlich an ihrer Freundin vorbei.
Anna jedoch ging Ela nach, ohne ein Wort zu sagen; verfolgte sie wie selbstverständlich, bis sie das Schweigen nicht mehr aushielt.
„Wo warst du denn heute Morgen?“, fragte sie schliesslich. „Na hier“, antwortete Ela leise, drehte sich aber nicht um.
„In die Schule kommst du wohl gar nicht mehr?“
„Wozu denn?“ Ela beschleunigte nun sogar ihre Schritte, als versuchte sie zu fliehen.
„Nun bleib doch endlich stehen! Los, gehn wir einen Kaffe trinken.“
„Eigentlich war ich auf dem Weg zu Carlo“, sagte Ela bei einer Tasse Cappucino. „Aber ich weiss nicht, wie ich es ihm sagen soll. Kannst du mir vielleicht helfen?“
Erst einmal war es jedoch Anna, der geholfen werden musste, denn sie hatte sich verschluckt und hustete, als wollte sie nie wieder damit aufhören.
„Du hast es ihm noch nicht gesagt?“, fragte sie schliesslich, nachdem sich ihre Kehle beruhigt hatte.
„Nein“, sagte Ela kleinlaut.
„Aber warum nicht?“
Ela zuckte die Schultern. Warum nicht? Da waren sie, die logischen Fragen, denen sie aus dem Weg gegangen war und die sie nicht beantworten konnte, da die Logik ihr fremd geworden war.
„Eigentlich sind meine Eltern an allem Schuld!“, rief sie plötzlich. „Sie haben mich verdorben. Früher war ich ihnen egal, da hatten sie ihre eigenen Probleme; und dann, als sich der Sturm gelegt hatte, waren sie auf einmal da mit ihren fragenden Vorwürfen.
Willst du denn nicht lernen, wenn du nur nicht so faul wärst, wenn...“
„So sind doch alle Eltern!“, unterbrach sie Anna.
„Du verstehst das nicht! Meine Eltern sind anders. Sie haben nie etwas erreicht. Ihr Leben wurde durch einen Zufall bestimmt, und das wissen sie auch. Darum sind sie unglücklich. Darum lassen sie ihren Missmut an mir aus. Reiche Verwandte zu haben und nach deren Tod zu erben ist ja weiss Gott keine so tolle Leistung.“
„Sie wollen doch nur, dass du eine gute Ausbildung machst; falls du mal weniger Glück hast als sie.“
„Für eine Ausbildung habe ich jetzt ja wohl keine Zeit!“
„Aber das wissen deine Eltern nicht. Sie wollen doch nur das Beste für dich!“
„Das Beste!“ Ela schnaubte verächtlich. „Dabei haben sie nicht mal gewollt, dass ich zur Welt komme. Meine Mutter hat in der Abtreibungsklinik Schiss gekriegt. Da ist sie davongelaufen und hat mich behalten; gegen den Willen meines Vaters und gegen ihren eigenen Willen. Ich bin aus Feigheit entstanden!“
„Warum hast du mir das nie erzählt?“, fragte Anna.
Ela schniefte.
„Das ist sicher nicht einfach für dich; aber dafür seid ihr jetzt eine glückliche Familie.“
„Sie sind eine glückliche Familie.“
„Und du?“
„Ich bin keine glückliche Familie.“
Beide lächelten zögernd.
„Und heute wirst du es Carlo sagen?“
„Ja, das werde ich. Ich werde zu ihm hingehen und sagen, Carlo, ich krieg ein Kind von dir und ich werde es behalten, egal, was du davon hälst.“
„Und deine Eltern?“
„Früher oder später werden sie es schon merken. Und eins sag ich dir: Ich werde es besser machen!“