Was ist neu

Glasauge

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29.04.2005
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Glasauge

Die Sonne geht gerade auf. Ich schwitze ein wenig, doch das ist OK, völlig in Ordnung. Neben mir hustet jemand und ich beuge mich weiter nach rechts, möchte keine Bakterien aufschnappen. Meine Cola ist beinahe leer, aber das macht nichts. Trotz der Hitze verspüre ich keinen Durst.
Die Vögel singen bereits seit einigen Stunden ihr erstes Morgenlied, doch in diesem Moment, da sich die rotgelbe Scheibe langsam über den weit entfernten Rand der Welt schiebt, scheint das bedeutsamer, der Gesang lauter als zuvor. Doch wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein.
Ein seltsames Gefühl durchströmt mich. Es hat etwas mit Aufgeregtheit zutun, mit freudiger Erwartung. Obgleich ich dieses Bild nicht zum ersten Mal sehe ist es doch immer anders, erneut einen Sonnenaufgang zu beobachten. Vor allem fallen einem jedes Mal weitere Details auf, die man zuvor übersah. Winzige Dinge, wie ein leichtes Kräuseln der zarten Wölkchen knapp über dem entfernten Horizont, Wolken, die ansonsten eben sind und nicht wie weiche Wattebäuschchen wirken sondern wie helle Fäden, die irgendjemand auf einen blauen Untergrund legte.
In wenigen Sekunden wird ein leichter Wind einsetzen, das weiß ich bereits jetzt. Er wird die langen Grashalme vor mir in Bewegung setzen, von links nach rechts und wieder zurück wiegen und ein kleines Spiel mit ihnen treiben, ein Spiel voll Leichtigkeit, voll Unschuld.
Das Gras wird es sich gefallen lassen, denn dies ist eine perfekte Welt. Alles ist vorher bestimmt und geplant, nichts wurde dem Zufall überlassen. Und so werden sich auch die Halme ganz sanft, ganz ruhig ihrem wunderbarem Schicksal ergeben.
Gespannt beobachte ich, was mit meinen gekräuselten Wölkchen geschieht, als der Wind einsetzt. Langsam verziehen sie sich, die Wölbungen verschwinden und nun ist auch dieser Teil der Dunstfäden glatt, regelmäßig, wie die anderen seiner himmlischen Geschwister.
Sonnenstrahlen durchdringen den Nebel, der im Tal liegt und nun glitzern Tautropfen auf, die von den Grashalmen herunter und mit dem Wind weit fort getragen werden. An dieser Stelle wünsche ich mir immer, ich könnte das Wasser spüren, bemerken, wie es meine Gesichtshaut benetzt, doch das geschieht nicht. Stattdessen greife ich nach meiner Cola und trinke einen großen Schluck. Mein Nachbar boxt mir seinen Ellebogen in die Seite, als er erneut Hustet und sich die Hand vor seinen Mund reißt.

Es hat sich vieles verändert, seit unsere Großväter jung waren. Man blickte damals zurück auf ein Jahrhundert des Krieges, der Entbehrung, des Leids und so schworen sich viele, nicht zuzulassen, dass der Menschheit jemals wieder ein Unglück geschehen solle. Ein neues Jahrhundert begann und mit ihm brach man auf zu neuem. Inzwischen gibt es fast keine Krankheit mehr, die man nicht behandeln oder gar heilen könnte. Unser Hightech-Tag beginnt noch vor dem Aufstehen, wenn man’s genau betrachtet sogar schon in der Nacht, wenn unsere Muskeln durch elektromagnetische Strömungen sanft massiert und aufbereitet werden. Keine Sekunde unseres Lebens sind wir nicht von Technik umgeben.
In besonders rührseligen Momenten denke ich manchmal an meine drei Brüder, Konfuzius, Faust und Benedikt, wie ich sie nenne. Meine Eltern wollten, dass es ein Junge wird und da ich der perfekteste war, schenkten sie mir das Leben. Die anderen drei Zellknäule verschwanden im Strudel der Zeit und ich selbst bin gestraft durch das bisschen Melancholie, dass ich beim Anblick eines Sonnenaufgangs empfinde.
Langsam läuft dieses Naturschauspiel zu seinem Höhepunkt auf. Der hellgelbe Punkt steigt höher, erleuchtet nun auch den letzten Winkel des Tals. Der Nebel stirbt beinahe spektakulär unter dieser neuen Macht am Himmel. Und dann ist alles ganz plötzlich vorbei. Das aufsurren der Maschinen ruft mich in die Wirklichkeit zurück.
Der Sitz bewegt sich, fährt von seiner horizontalen Lage wieder in die Vertikale zurück.
„Ich hoffe sie hatten einen angenehmen Aufenthalt“, sagt eine nette, jedoch digitale Frauenstimme; auf dem Bildschirm im Rücken des Vordersitzes erkenne ich zwei Augen, auch einen Mund, aber kein Gesicht. Der Sal erhellt sich. Die ersten Zuschauer stehen auf und drängen zum Ausgang, doch ich bleibe noch einige Momente sitzen, lasse meinen Blick noch einmal zur Projektionsfläche an der Decke gleiten.
Irgendwann stehe auch ich wieder auf der kalten, nassen Straße, fühle mich wie so oft, sehr alleine. Ich sehe mich zu beiden Seiten um, kann jedoch keine Menschenseele erblicken, denn man bewegt sich in der Luft fort.

Heute gehe ich jedoch ein Stück, da ich das sonst nie tue. Das virtuelle Licht bescheint den bröckelnden Asphalt nur gering, man möchte uns schließlich zeigen, dass gerade Nacht ist und nicht Tag. Seit einigen Jahrzehnten sind die rechteckigen Lampen an die Stelle der Sonne getreten, während alles andere ein nachtschwarzes Grau in Grau ist. Wie sie den Himmel verdunkelt haben und vor allem warum, weiß ich nicht genau, das einzige, was ich bezeugen kann, ist dass meine Generationen Sonnenaufgänge nur aus Filmprojektionen kennt. Wir machen den Alten keine Vorwürfe, denn wir haben die Welt nie anders erlebt, doch ich weiß, dass sie an diesem Schmerz vergehen.
„Dies ist eben eine Zeit des Fortschritts“, pflegte mein verstorbener Großvater, zu sagen, während er mit dem linken Auge leise vor sich hin weinte.

 

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