Glashaus
Sein Gang war schlurfend, von der Art, die man häufig im Fernsehen sieht. Diese besondere Art, die häufig darauf hinweist, das jemand verschlagen, vielleicht sogar skrupellos ist. Nicht in den neuen Filmen, die kannte er so und so nicht, in den alten, den ersten, besonders in Stummfilmen, in denen es wichtig ist, möglichst viel über die Körpersprache zu vermitteln. Er war nie verschlagen gewesen. Hatte sich nie eines Verbrechens schuldig gemacht, doch der Gang war der selbe.
Es war ihm selbst zuerst aufgefallen, er war damals vor einem Schaufenster hergegangen und hatte sein verzehrtes Spiegelbild in dem polierten Glas begutachtet. Da fiel es ihm das erste Mal auf, dieser ganz spezielle Gang. Seit dem achtete er oft darauf und er achtete ebenfalls auf die Menschen, die ihn ansahen. Zwar konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie die Parallele zwischen ihm und den Stummfilmverbrechern sahen, doch die quälende Angst, sie könnten ihn als solchen entlarven, begleitete ihn jetzt schon seit der Zeit, da er es selbst bemerkte.
Unbewusst, hatte er sich immer mehr zurückgezogen. Wo viele Menschen waren, da war auch die Angst vor der Verurteilung am größten, also versuchte er Menschen zu meiden. Erst nur Begegnungen mit Fremden, dann auch mit Freunden und schließlich machte es ihm Angst auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzten. Die Tatsache, dass das leichte Nachziehen des linken Beins einzig eine Alterserscheinung war und von der Umwelt als solche wahrgenommen wurde, schien ihm nie einleuchtend. Er hatte darüber nachgedacht, häufig und stundenlang, aber mit seinen 55 Jahren fühlte er sich nicht alt genug, um dies als Grund für sein Gebrechen akzeptieren zu können. Im Geist war er jung geblieben, er schweifte nicht, wie viele ältere Menschen, immer wieder in die Vergangenheit ab, sondern befand sich in jeder Sekunde in der absoluten Gegenwart. Er verdrängte eher die Vergangenheit, als das er diese zu seinem Lebensinhalt erkoren hätte. Doch das Problem der Angst machte auch das Leben in der Gegenwart zu einem Problem, denn was für eine Gegenwart war das, in der er allein in seiner kleinen Wohnung saß und allenfalls aus dem Fenster blickte? Seine Gegenwart war jeden Tag die Selbe. Seine Welt wurde eintönig und unerträglich. Der Gedanke, dass jemand seinen Gang als Anlass nehmen könnte, um ihn als Verbrecher abzustempeln, verfolgte ihn selbst jetzt noch, wo er höchstens einmal die Woche seine Wohnung verließ, um die Post der gesamten Woche zu holen. Die drei Meter zum Briefkasten waren jedesmal eine Tortur, der er sich jedoch nicht entziehen konnte.
Sein Leben war ihm eine Qual geworden und irgendwann begriff er, dass er sich selbst in ein Glashaus eingemauert hatte. Er hatte es zum Schutz errichtet, ein Haus aus Regeln, aus Normen und aus strengsten Vorstellungen, die jedes Mitglied einer Gesellschaft zu erfüllen hatte. In seiner Jugend war das Haus noch flexibel gewesen, es hatte ihm ein Gerüst gegeben, an das er sich halten konnte, er konnte hinaus schauen und andere zu ihm hinein, ohne das er Verletzungen fürchten müsste. Doch je älter er wurde, desto stabiler wurden die Wände seines Hauses, bis sie irgendwann in festem Glas erstarrten. Die Regeln und Vorstellungen, aus denen dieses Glas geformt war, bildeten zum Schluss ein so festes Geflecht, dass sie sein Leben bestimmten und das eine jede von ihnen gleiches Gewicht trug. So musste es irgendwann geschehen, dass eine dieser kleinen, häufig unbewussten Regeln übertreten wurde. Es war eine von denen, die gänzlich unbedeutend waren und nur in seinem Kopf und damit in seinem Glashaus bestand hatten. „Menschen die das eine Bein nach sich ziehen, sind Verbrecher.“ Diese Regel entstand aus dem Irrglauben, dass alles was das Fernsehen hervorbringt die Wahrheit sein müsse. Wenn diese Regel nicht ihn selbst getroffen hätte, so wäre wohl nichts weiter geschehen, so aber war nicht die Angst vor der Meinung der anderen ausschlaggebend für seinen Lebenswandel, sondern die eigene Unsicherheit. Seine Vorstellung besagte, dass jemand mit seinem Gang ein Verbrecher sein musste, doch er konnte keinen Verbrecher in sich erkennen. Also beschloss er das Glashaus um ihn herum aufrecht zu erhalten und den Kontakt zur Außenwelt vollkommen abzuschirmen.
Es stimmt, wenn man sagt, wer im Glashaus sitzt soll nicht mit Steinen werfen, denn sein Glashaus war seine Welt, ohne die Regeln und den Glauben an diese, wäre er kein Mensch mehr gewesen. Was also hätte er anderes tun können? Die Regeln zerschmettern und vor einem Haufen von Lügen stehen? Denn wenn eine Regel nicht richtig wär, wären dann nicht die anderen vielleicht ebenso falsch? Eine einzige große Lebenslüge also? Er lebte weiter in seinem Glashaus, nur jetzt mit dem traurigen Bewusstsein, dass er selbst es war, der es errichtete.