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Glashaus

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21.09.2005
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Glashaus

Sein Gang war schlurfend, von der Art, die man häufig im Fernsehen sieht. Diese besondere Art, die häufig darauf hinweist, das jemand verschlagen, vielleicht sogar skrupellos ist. Nicht in den neuen Filmen, die kannte er so und so nicht, in den alten, den ersten, besonders in Stummfilmen, in denen es wichtig ist, möglichst viel über die Körpersprache zu vermitteln. Er war nie verschlagen gewesen. Hatte sich nie eines Verbrechens schuldig gemacht, doch der Gang war der selbe.
Es war ihm selbst zuerst aufgefallen, er war damals vor einem Schaufenster hergegangen und hatte sein verzehrtes Spiegelbild in dem polierten Glas begutachtet. Da fiel es ihm das erste Mal auf, dieser ganz spezielle Gang. Seit dem achtete er oft darauf und er achtete ebenfalls auf die Menschen, die ihn ansahen. Zwar konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie die Parallele zwischen ihm und den Stummfilmverbrechern sahen, doch die quälende Angst, sie könnten ihn als solchen entlarven, begleitete ihn jetzt schon seit der Zeit, da er es selbst bemerkte.
Unbewusst, hatte er sich immer mehr zurückgezogen. Wo viele Menschen waren, da war auch die Angst vor der Verurteilung am größten, also versuchte er Menschen zu meiden. Erst nur Begegnungen mit Fremden, dann auch mit Freunden und schließlich machte es ihm Angst auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzten. Die Tatsache, dass das leichte Nachziehen des linken Beins einzig eine Alterserscheinung war und von der Umwelt als solche wahrgenommen wurde, schien ihm nie einleuchtend. Er hatte darüber nachgedacht, häufig und stundenlang, aber mit seinen 55 Jahren fühlte er sich nicht alt genug, um dies als Grund für sein Gebrechen akzeptieren zu können. Im Geist war er jung geblieben, er schweifte nicht, wie viele ältere Menschen, immer wieder in die Vergangenheit ab, sondern befand sich in jeder Sekunde in der absoluten Gegenwart. Er verdrängte eher die Vergangenheit, als das er diese zu seinem Lebensinhalt erkoren hätte. Doch das Problem der Angst machte auch das Leben in der Gegenwart zu einem Problem, denn was für eine Gegenwart war das, in der er allein in seiner kleinen Wohnung saß und allenfalls aus dem Fenster blickte? Seine Gegenwart war jeden Tag die Selbe. Seine Welt wurde eintönig und unerträglich. Der Gedanke, dass jemand seinen Gang als Anlass nehmen könnte, um ihn als Verbrecher abzustempeln, verfolgte ihn selbst jetzt noch, wo er höchstens einmal die Woche seine Wohnung verließ, um die Post der gesamten Woche zu holen. Die drei Meter zum Briefkasten waren jedesmal eine Tortur, der er sich jedoch nicht entziehen konnte.
Sein Leben war ihm eine Qual geworden und irgendwann begriff er, dass er sich selbst in ein Glashaus eingemauert hatte. Er hatte es zum Schutz errichtet, ein Haus aus Regeln, aus Normen und aus strengsten Vorstellungen, die jedes Mitglied einer Gesellschaft zu erfüllen hatte. In seiner Jugend war das Haus noch flexibel gewesen, es hatte ihm ein Gerüst gegeben, an das er sich halten konnte, er konnte hinaus schauen und andere zu ihm hinein, ohne das er Verletzungen fürchten müsste. Doch je älter er wurde, desto stabiler wurden die Wände seines Hauses, bis sie irgendwann in festem Glas erstarrten. Die Regeln und Vorstellungen, aus denen dieses Glas geformt war, bildeten zum Schluss ein so festes Geflecht, dass sie sein Leben bestimmten und das eine jede von ihnen gleiches Gewicht trug. So musste es irgendwann geschehen, dass eine dieser kleinen, häufig unbewussten Regeln übertreten wurde. Es war eine von denen, die gänzlich unbedeutend waren und nur in seinem Kopf und damit in seinem Glashaus bestand hatten. „Menschen die das eine Bein nach sich ziehen, sind Verbrecher.“ Diese Regel entstand aus dem Irrglauben, dass alles was das Fernsehen hervorbringt die Wahrheit sein müsse. Wenn diese Regel nicht ihn selbst getroffen hätte, so wäre wohl nichts weiter geschehen, so aber war nicht die Angst vor der Meinung der anderen ausschlaggebend für seinen Lebenswandel, sondern die eigene Unsicherheit. Seine Vorstellung besagte, dass jemand mit seinem Gang ein Verbrecher sein musste, doch er konnte keinen Verbrecher in sich erkennen. Also beschloss er das Glashaus um ihn herum aufrecht zu erhalten und den Kontakt zur Außenwelt vollkommen abzuschirmen.
Es stimmt, wenn man sagt, wer im Glashaus sitzt soll nicht mit Steinen werfen, denn sein Glashaus war seine Welt, ohne die Regeln und den Glauben an diese, wäre er kein Mensch mehr gewesen. Was also hätte er anderes tun können? Die Regeln zerschmettern und vor einem Haufen von Lügen stehen? Denn wenn eine Regel nicht richtig wär, wären dann nicht die anderen vielleicht ebenso falsch? Eine einzige große Lebenslüge also? Er lebte weiter in seinem Glashaus, nur jetzt mit dem traurigen Bewusstsein, dass er selbst es war, der es errichtete.

 

Wow, ich finde deine Geschichte schön, ich liebe solche Metaphergeschichten und ich finde, dass du deine wirklich gut umgesetzt hast.

Allerdings lässt sich sicher darüber streiten, ob diese in der Kategorie "Gesellschaft" richtig aufgehoben ist, tendiert meiner Meinunge her zu "Philosophisches".

Viele liebe Grüße,
Sebastian

 

Danke Sebastian.
War mir auch nicht ganz sicher ob ich sie in diese Kategorie stellen sollte, hab mich dann aber dafür entschieden, weil die Problematik der festen Regeln und Normen für mich ein typisches Problem unserer Gesellschaft ist.
Liebe Grüße
Kücken

 

Hy Kücken,

Bei der ganzen Hilfe, die du mir zu Teil hast werden lassen, musste ich auch unbedingt mal etwas von dir lesen.
Deine Geschichte hat mich gefesselt und von der Dringlichkeit der Thematik bin ich ebenso überzeugt, wie du.
Die Frage, welche Regeln wir uns selbst auferlegen und welche wir uns auferlegen lassen, ist ja im Prinzip die nach dem Sinn des Lebens an sich und vor allem nach dem generellen Sinn, den es hat irgendetwas mit einem Wert zu versehen.
Der Zwiespalt des Mannes, der sich all dieser Fragen stellt, ist in deinem Text sehr gut nachvollziehbar und der Schreibstil passt hervorragend zum Ihnalt.

 

Hi Deschain!
Lieb das du dich meiner angenommen hast.
Schön das wir uns bei der Frage der Wichtigkeit des Themas so einig sind, bin froh, dass das was ich mit der Geschichte sagen wollte so gut verstanden wird.
Liebe Grüße
Kücken

 

Hallo Kücken,

auch mir gefällt das Thema deiner Geschichte. Viel zu schnell gehen wir davon aus, dass die anderen das gleiche Bild von uns haben wie wir. All unsere Ängste werden auf die anderen Menschen projiziert, und je weniger Kontakt nach außen, desto weniger Chance, diese Vorstellungen zu korrigieren. Ein Teufelskreis, und das, obwohl dein Erzähler seine eigene Verantwortung erkennt.

Von der Umsetzung hat mich deine Geschichte leider nicht so überzeugt. Mir fehlte einfach die konkrete Handlung, an der ich sein VErhalten hätte festmachen können. Du erzählst sehr viel von seiner Einstellung, seinen Ängsten, ohne sie mir wirklich vor Augen zu führen. Ein Beispiel:

Unbewusst, hatte er sich immer mehr zurückgezogen. Wo viele Menschen waren, da war auch die Angst vor der Verurteilung am größten, also versuchte er Menschen zu meiden. Erst nur Begegnungen mit Fremden, dann auch mit Freunden und schließlich machte es ihm Angst auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzten.
Wo sind viele Menschen, wo ging er also nicht mehr hin? Wo sind fremde Menschen, welche Anlässe gibt es, Freunde zu treffen? Ich hätte es schön gefunden, anhand von Beispielen zu erfahren, wie seine Zurückgezogenheit nach und nach zunimmt.

Ich weiß auch nicht genau, ob das Symbol des Glashauses so geglückt ist. Denn Glas verdeutlicht ja eigentlich, dass man noch wahrnimmt, was draußen ist, und auch von draußen wahrgenommen werden kann.

Kleinigkeiten:

Er verdrängte eher die Vergangenheit, als das er diese zu seinem Lebensinhalt erkoren hätte.
dass
Er hatte es zum Schutz errichtet, ein Haus aus Regeln, aus Normen und aus strengsten Vorstellungen, die jedes Mitglied einer Gesellschaft zu erfüllen hatte.
Das habe ich an dieser STelle schon längst durch deine Darstellung verstanden gehabt, für mich war es also überflüssig, so direkt nochmal darauf gestoßen zu werden.

Liebe Grüße,
Juschi

 

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