Gleichgewicht der Kräfte
Dunkle Banner flattern gepeinigt vom Wind durch die eisige Luft. Ein Meer aus flammenden Fackeln erhellt die Nacht und von weit her tönt Trommelwirbel. Unzählig viele Menschen drängen sich auf einem kleinen Platz vor einem Podest wie Schafe in einem Massenviehhof. In mitten dieser Menge warte auch ich. Alle sind aus den selben und doch aus viel verschiedenen Motivationen heraus gekommen. Sie sind Fremde und doch würden sie ihr höchstes Gut - ihr Leben - für einander geben. Aus unbedeutenden Individualisten hat sich ein mächtiger Koloss geformt, der sich herausfordernd gen den Himmel erhebt, Wolken kratz und versucht, nach den Sternen zu greifen. Gott hatte er dabei schon längst hinter sich gelassen, als Pfeiler des Lebens ersetzt - Babylon ist in Vergessenheit geraten.
Plötzlich verstummte der Trommelwirbel, ein Raunen jagt durch die Masse.
"Müssen wir uns diese grässliche Diskriminierung bieten lassen, die wir täglich erfahren?", ruft plötzliche eine Stimme über unsere Köpfe hinweg.
Aus den vorderen Reihen erschallt ein lautes: "Nein. Es reicht. Ein für alle Mal!"
"Und was ist mit dem Rest? Ist es Euch egal?", fordert die Stimme uns heraus.
Ein lautes "Nein!" ertönt, gefolgt von den verschiedensten ärgerlichen Ausrufen.
"Dann lasst uns unser von Gott gegebenes Recht einfordern! Heute ist unser Tag, jetzt ist unser Moment! Heute werden wir sprechen und unsere Peiniger zum Schweigen bringen!"
Bedächtig ziehe ich eine abgegriffene Tabakschachtel aus meiner Jackentasche, drehe mir eine Zigarette und zünde sie an. Ihr Rauch füllte meine Lungen und beruhigt meine Nerven. Einmal wollte auch ich diesen Mann auch gesehen haben. Nicht viele haben sein Talent. Dieser hatte sich mittlerweile warmgeredet und die Stimmung angeheizt. Die Menge hatte Blut geleckt und bald wird sie nach mehr verlangen.
"Es wird sich zeigen, wer zu unseren wahren Freunden gehört. Den anderen werden wir ihre verfaulten Masken abreisen. Mit allen Mitteln müssen wir sie ausrotten. Sie haben uns betrogen, unser Vertrauen vergewaltigt und würden es immer wieder tun. Ehre kennt ihr verdorbenes Herz nicht!" Plötzlich ertönt ein Knall und der Mann auf der Tribüne sackt zusammen wie eine Marionette, deren Fäden der Spieler losgelassen hat. Für einen Augenblick herrscht Stille. Der Mob ist ohnmächtig, verwirrt, kann es nicht begreifen. Hastig schnipse ich die noch nicht aufgebrauchte Zigarette auf den Boden. Aus den Gassen, die zum Platz führen, tauchen vermummte Gestalten auf, die ohne Pardon das Feuer eröffnen. Blitzschnell werfe ich mich auf den steinernen Boden. Es dauert nicht lange, dann ist der Eingriff vorbei. Ich stehe wieder auf und steige angeekelt über die Leichen hinweg. Einer der vermummten Männer kommt auf mich zu und salutiert.
"Konnte jemand entkommen?". frage ich, während ich wieder die Tabakschachtel hervorholte.
"Nein, wir hatten alle Ausgänge abgeriegelt."
"Gute Arbeit. Das wird ihnen eine Lehre sein. Schafft die Leichen weg und verbrennt sie außerhalb."
Noch können wir sie in Schach halten, doch werden sie von Mal zu Mal stärker. Ach, hätten meine Vorgänger etwas kooperativer gehandelt! Dann wären mir diese grausamen Bilder erspart geblieben. Aber der Lauf der Welt lässt sich nicht ändern. Auf die gefährliche Situation muss nun mal angemessen reagieren werden. Die Büchse der Pandora darf sich nicht öffnen. Die Masse müssen verstehen, dass solch ein Verhalten ins Verderben führt. Im Grunde genommen habe ich nichts gegen sie - persönlich. Ich kenne sie ja nicht einmal. Aber sie bedrohten die natürliche Balance der Kräfte. Würde ich ihr Aufbegehren tolerieren, würde Chaos diese Welt regieren und bei weitem mehr als diese Opfer fordern. Andere würden ihrem Beispiel folgen und versuchen ihren Interessen Raum zu erkämpfen.
Gemächlich schreite ich auf die Tribüne zu, auf der zusammengesackt immer noch der Redner liegt. Eine Blutlache hat sein helles Gewand dunkelrot gefärbt. Seine Augen sind weit aufgerissen. Er muss den Tod haben kommen sehen, seinen kalten Atem vor seiner Ankunft gespürt haben. Vorsichtig, ohne in das Blut zu treten, knie ich mich neben ihm nieder und schließe ihm die Augen. Er hatte das Herz verkörpert. Diesen starken Muskel, der nach Freiheit lechzt und dem Schwert zum Hieb verhilft. Unter anderen Umständen hätte ich ihn bewundert. Seine Fähigkeit, über die gegebene Ordnung hinwegzusehen, das Alltägliche zurückzulassen und nach den Sternen zu greifen, war faszinierend. Doch in dieser Situation hatte er das absolute Bild aus den Augen verloren und nur noch partikulare Interessen verfolgt. Wäre er nicht von dem Glanze seines Traumes geblendet worden, dann hätte er seinen Tod schon vor langer Zeit kommen sehen.
Auf einmal tritt eilig einer der vermummten Soldaten auf mich zu. Ich blicke auf und fragt: „Ja, was ist?“
„Herr, es gibt Probleme. Es wird gleich etwas ungemütlich. Sie sollten lieber gehen!“
„Aus welcher Richtung kommen sie?“, fragte ich, während meine Gedanken zu rasen beginnen. Als Antwort taumelt der Soldat und fällt mit erschrecktem Gesicht vorne über. Angst flammt in mir auf, als hätte jemand Petroleum ins Feuer gegossen. Blitzschnell lasse ich mich hinter das Podest fallen. Während vor mir meine Untergebenen routiniert das Feuer erwidern, kann ich die Situation nicht begreifen. Wie war das möglich, frage ich mich. Die einzelnen Gruppen waren viel zu heterogen, als dass sie sich zusammenschließen würden. Sahen sie nicht, dass sie mit ihren Ansprüchen das Gleichgewicht bedrohten? Meine Taten waren doch nur zu ihrem Besten gewesen. Vorsichtig versuche ich über das Podest hinwegzusehen. Was ich dort erblicke, lässt mich schaudern. Ein Feuerwurm nähert sich unaufhaltsam dem Platz. Tausende Gestalten mit Fackeln und Gewehren in den Händen. Ich atme traurig einmal tief durch. Dann ziehe ich den Kragen meines Mantels fester um den Hals und verlasse rasch in entgegengesetzte Richtung zu dem Mob den Platz. In meiner Magengegend steigt so ein Gefühl auf, dass meine Dienste bald nicht mehr gebraucht werden. Ich schätze, ich werde mich demnächst an einem schöneren Fleckchen dieser Welt zur Ruhe setzen. Weit weg von diesem Platz. Er wird bald zum Auge des Zyklopen werden. Um ihn herum werden die Gespielen Chaos, Terror und Tod mit eiserner Hand ihren gespenstischen Reigen tanzen. Wenn es das ist, nach dem alle lechzen, dann sollen sie es haben. Sollen sie das doch Ruder in die Hand nehmen! Sie werden bald merken, dass in dem aufkommenden Sturm das Schiff nicht mehr zu steuern sein wird. Aber ich, ich werde bis dahin weit weg sein.