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Gleichwertiger Ersatz
Ein toter Mädchenkörper. 14 Jahre war sie vielleicht gewesen. Die Haut war bleich wie der Vollmond. Die Augen noch geöffnet, sie schienen nach ihrem Tod noch immer um Hilfe zu schreien. Ihre Glieder waren zerschmettert, das Unterkiefer zerschlagen und die Blüte ihrer jungen Lenden grausam zerfetzt, als hätte ein wildes Tier an ihrem Körper gewütet.
Nie wieder würde Octavio diese Bilder aus seinem Kopf verdrängen können. Sie waren in sein Gehirn eingebrannt, so tief und allgegenwärtig wie seine Kindheitserinnerungen.
Seine Zeit im Waisenhaus, ohne Familie, ohne Freunde und ohne jegliches Wissen über seine Herkunft. Ständig hatte er gehofft, dass bald jemand aus seiner Familie kommen würde um ihn abzuholen. Doch auf diesen Tag hoffte er bis zu seiner Entlassung vergeblich.
Auch sein Leben danach war nie eine Erfüllung für ihn gewesen. Tagtäglich hatte er nur zu funktionieren, in einem schlecht bezahlten Job ohne Aussichten auf Verbesserung. Sozialen Kontakt, besonders mit dem anderen Geschlecht, hatte er in seiner Freizeit so selten wie ein Kaktus mit Wasser Berührung hat. Doch genau wie eine Stachelpflanze jeden einzelnen Wassertopfen, sog auch der die einigen wenigen Momente mit Frauen gierig auf, um sie umso intensiver zu erleben und sich lange daran zu erinnern. So war es schon zu einigen Anzeigen gekommen, weil er einigen Frauen nachgestellt war und ihnen persönliche Dinge gestohlen hatte.
Aber deshalb war er doch noch lange kein Mörder.
Die Zellentür rastete ein und schnitt ihn endgültig von seinem Leben in der wirklichen ab. Verurteilt zu lebenslanger Haft. Dieses Mädchen auf dem Photo soll er vergewaltigt und ermordet haben. Doch er war unschuldig. Das wusste aber nur er selbst und niemand anderer glaubte ihm. Durch einen DNA-Test war er eindeutig überführt worden, Zweifel offiziell ausgeschlossen. Er war am Rande der Verzweiflung. Vom Waisenhaus ins Gefängnis, von einer Anstalt in die nächste gewandert, unterbrochen nur durch eine kurze Episode in der wirklichen Welt.
Und nun das! Verdammt dazu in diesem Betonbunker unter Schwerverbrechern elendiglich zu verrotten. Nicht nur als Unschuldiger, sondern auch noch mit der Ungewissheit über den Hintergrund seiner Verhaftung. Hoffnungslosigkeit begann sich in seinem Herzen breit zu machen.
Nachdem ein Monat vergangen und er bereits eine lange Zeit mit seinen Gedanken alleine gewesen war, begann er allmählich an sich selbst zu zweifeln.
Bin ich verrückt? Schizophren? Vielleicht war ich es wirklich und kann mich nur nicht mehr erinnern? Doch ich habe dieses Mädchen nicht einmal gekannt! Aber DNA-Tests lügen doch nicht?!
Fragen über Fragen. Er zermarterte sich monatelang seinen Kopf, stellte verschiedenste Theorien auf und verwarf sie fast gleichzeitig wieder. Nach 13 Monaten in Haft hatte er das Fragen nach dem Warum aufgegeben und fügte sich seinem Schicksal so gut es ging. Er las sehr viel und trainierte seinen Körper exzessiv. Einerseits um endlich sein Idealbild von sich selbst zu erreichen, dem er „draußen“ lange nachgelaufen war und dennoch nie erreicht hatte. Genug Zeit war ja jetzt vorhanden. Andererseits auch um sich durch seine neu gewonnene Stärke den entsprechenden Respekt bei den anderen Insassen zu verschaffen, um Übergriffen jeglicher Art vorzubeugen.
So kam es, dass er sich mit der Zeit relativ wohl fühlte in Gefangenschaft. Er wurde immer belesener und muskulöser. Er hatte freilich nicht viel davon, eingesperrt unter lauter Männern. Und bis er wieder frei kommen würde, wären sein Verstand und Körper bereits wieder verwelkt, wie eine blühende Orchidee, die zwar Wasser, aber kein Licht bekommt. Trotzdem gefiel ihm sein neuer geistiger und körperlicher Zustand, er war zufrieden mit sich selbst und glücklich, soweit das hinter diesen meterdicken Mauern möglich war. Er hatte es ein zweites Mal geschafft sich aufzuraffen und sein Leben umzustrukturieren und zum Besseren zu wenden.
Bis zu jenem schicksalhaften Tag an dem er Besuch bekam. Die Erkenntnisse, die er gewinnen würde, sollten ihn wieder brutal und gnadenlos auf den steinharten Boden der Tatsachen zurückschmettern.
Zuerst war er noch überrascht und konnte sich nicht vorstellen wer ihn besuchen sollte, nach nun fast zwei Jahren Haft, in denen in niemand eines Besuches für Wert genug befunden hatte. Er wurde von einem Wärter in den Besucherraum geführt und vor eine Glasscheibe gesetzt.
Dort sitzt er nun gespannt wie ein Kind, einen Tag vor Weihnachten. Nach kurzer und gleichzeitig doch ewiger Wartezeit tritt ihm auf der anderen Seite ein Mann entgegen. Er hat eine Baseballmütze tief in die Stirn gezogen, trägt eine schwarze Sonnenbrille und einen langen Vollbart. Octavio kennt den Mann auf der anderen Seite nicht und doch geht von ihm etwas sehr Vertrautes aus. Er ist zwar leicht enttäuscht, dass ihn ein fremder Mann besucht, doch immer noch gespannt, was ihm der Fremde mitzuteilen hat. Der Bärtige sagt aber vorerst nichts und mustert ihn nur, mit einem Grinsen ihm Gesicht, das Octavio schaudern lässt. Ohne Worte des Grußes beginnt der bärtige Fremde zu sprechen.
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Dich.“
„Und was soll die schlechte sein“, erwidert Octavio „vielleicht das ich morgen sterben muss, hab’ ich jetzt zweimal lebenslänglich oder bekomm’ ich ab heute nur noch Brot und Wasser?“
Er versucht zu lachen, doch sein Gesicht verzieht sich nur zu einer unförmigen Grimasse.
Sein Gegenüber bleibt von seinem Zynismus ungerührt und fährt in ruhigem Ton fort.
„Die schlechte Nachricht also zuerst: Du bist unschuldig und verbüßt Deine Haftstrafe für jemand anderen.“
„Ganz ’was Neues erzählen Sie mir da!“ schreit Octavio ihn wütend an und ballt zornig die Fäuste. Doch sofort kommt er wieder ins Überlegen.
„Woher wissen Sie das?“ will er gespannt wissen. Doch der Fremde zögert wieder kurz.
Durch seinen Haftaufenthalt ist Octavio schon mehr als geübt darin Geduld zu haben, doch nun droht er beinahe innerlich zu platzen, wie ein Stück Aas, das zu lange in der Sonne gelegen hat. Er kann sich kaum noch zügeln, er zittert vor unbändiger Neugier auf die möglicherweise bevorstehende Wahrheit und krallt seine Fingernägel so hart in seinen Sessel, dass dieser bereits leidvolle Geräusche von sich gibt.
Da beginnt der Fremde wieder zu sprechen.
„Nun also die gute Nachricht. Du denkst Du bist eine Waise, ohne Eltern und Geschwister? Das stimmt nicht ganz. Du hast einen Bruder…“
Die Augen von Octavio scheinen vor Erstaunen und Ungläubigkeit aus ihren Höhlen herausspringen zu wollen.
„…ICH bin Dein eineiiger Zwilling. Im Angesicht der Tatsachen wohl Deine zweite böse Hälfte.“