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Gleis 14

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25.02.2007
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Gleis 14

Ich warte auf einem Bahnsteig. Es ist völlig unerheblich welcher Bahnsteig es ist, denn es geht nicht um den Ausgangs- oder Endpunkt einer Reise. Es geht um etwas, was schon fast eine Eigenart des Bahnreisens ist, es geht um das Warten.
Man reist passiv, denn man wird gefahren, doch muss man sich alles Wichtige selbst erarbeiten: Von wo fährt mein Zug ab, wann muss ich auf welchem Bahnsteig sein, auf welchem Gleis fährt der Zug ein, wo ist sein Ziel? Ist endlich alles geklärt muss man meist noch eine Weile warten bis der Zug einfährt. Und genau um dieses Warten geht es. Es ist nicht so, das man zu einer Salzsäule erstarrt oder in eine Art Winterschlaf fällt, es ist eine ganz eigene Art von Abenteuer, ein wahres Kino des Lebens.

Es ist kühl, wenige Menschen stehen auf dem Bahnsteig. Mein Blick schweift über die vier Gleise und ich sehe weit vom Bahnsteig entfernt Lichtsignale, die alle auf Rot stehen.
Ein leichter Nebel lag über allem, dämpfte alle Geräusche und hatte etwas an sich, was mich sofort in seinen Bann zog, seine Allgegenwertigkeit, seine Macht trotz seines flüchtigen Wesens.
Eine Taube landete neben mir und lief auf dem Bahnsteig entlang und suchte nach ein paar Brotkrumen, doch das Summen der Kehrmaschine auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig ließ mich ahnen, dass dieser Bahnsteig bereits seine Reinigung hinter sich hatte. So sehr die Taube auch suchte, es war nichts Essbares mehr zu fingen.
Die Taube flog auf eines der mittleren Gleise und suchte dort nach etwas Essbares und sie fand ein halbes Brötchen, es war zu groß für einen Lufttransport. Sie versuchte es, aber es gelang ihr nicht, immer wieder versuchte sie zu starten, doch es gelang ihr nicht mit der schweren Last abzuheben. Ich hörte plötzlich ein Summen in den Gleisen. Es war ein eigentümliches Geräusch, als zupfe jemand an einer Klavierseite und es hatte etwas höhnisches und unheimliches an sich. Mein Blick ging zu den Signalen, eines der Lichtsignale stand auf Grün. Das Grün pflanzte sich auf eine geradezu unheimliche Weise in die neblige Luft fort, als hebe der Nebel die Gesetze der Natur auf.
Ich sah zur Taube, die todesmutig das halbe Brötchen zu retten suchte.

„Gleis 14 eine Durchfahrt.“, schnarrte es aus dem metallenen Lautsprecher.

Das Summen wurde zum Rauschen und dann hörte man nahezu infernales Rattern, Brausen und Tosen und im Nebel verschwand der Zug, fast als wurde er verschluckt, nur die roten Schlusslichter waren noch einen Augenblick zu sehen. Trotz der Ankündigung zuckte ich erschrocken zusammen als das stählerne Ungetüm aus der Nebelsuppe erwuchs und wie ein Geist wieder verschwand. Es waren nur Sekunden vergangen.
Im Gleisbett lag noch immer das halbe Brötchen und viele grauen Federn, jedoch keine Taube, kein Blut, nur ein paar Federn.

Es nahm kaum jemand Notiz von der Tragödie und nun flatterte die nächste Taube zu dem teuflischen Brötchen, todesmutig wie ein Kamikaze. War es die Aufgabe dieses Brötchens die natürliche Auslese der Bahnhofstaubenpopulation zu verursachen?

„Gleis 11 hat Einfahrt der ICE von...“

Obwohl ich nie erfuhr ob diese Taube auch ein jähes Ende auf dem Gleis 14 fand, beschäftiget mich der Gedanke noch bist 15:26 Uhr, da erreichte mein Zug seinen Zielbahnhof mit nur 3 Minuten Verspätung, trotz des Nebels und trotz der Tragödie irgendwo im Nirgendwo auf einen in Nebel gehüllten Gleis 14.

 

Hallo Lucas66,

Deine Geschichte gefällt mir sehr. Wirklich gut gemacht! :) Habe nur zu bemängeln, daß Du nach dem ersten Absatz die Zeitform wechselst. Das sollte doch einheitlich sein, denke ich. :)

Aber ansonsten: Wirklich gelungen! Eine kleine Tragödie des Alltags...

Gruß
stephy

 

Hey Lucas66!

Mir gefällt deine Geschichte auch. Ich finde das mit deiner Wortwahl diese alltägliche Geschichte richtig spitze geworden ist. Kompliment!

Schreibwelpe

 

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