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Gleis 4

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25.11.2005
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Gleis 4

Sie bettelt nicht. Manchmal wird ihr ein Geldstück vor die Füße geworfen, manchmal erntet sie Blicke voller Mitleid oder voller Verachtung, aber das ist ihr egal. Sie ist nicht zum Betteln auf Gleis 4.
Sie wartet.
Noch niemand hat sie gefragt, was sie dort beim Gleis tut, Tag für Tag, offensichtlich nicht bettelnd.
Sie wartet.
Von dem Geld, dass sie unfreiwillig geschenkt bekommt, kauft sie sich manchmal etwas zu essen, aber das sieht niemand. Manchmal kaut sie etwas, langsam und bedächtig und man sieht, dass sie sich fragt, wann sie wieder etwas essen wird.
Noch niemand hat ihre Stimme gehört. Vielleicht ist sie gehörlos. Wenn ein Beamter der Bahn kommt und ihr sagt, dass man auf dem Gleis nicht betteln darf, lächelt sie nur und schüttelt den Kopf.
Sie bettelt doch nicht.
Sie wartet.
Sie sitzt dort jeden Tag, jede Nacht, rührt sich nicht vom Fleck. Ihr muss kalt sein, denn ihre Kleider sind fadenscheinig und die zwei Decken sind dünn und wärmen bestimmt nicht. Aber niemand hat gesehen, dass sie zittert und niemand gehört, dass sie sich beklagt.
Das Mädchen hat einen blauen Wintermantel an, einen roten Schal und gleichfarbige Handschuhe. Unter der Mütze schauen zwei lange, braune Zöpfe hervor. Sie ist klein für ihr Alter, niemand würde denken, dass sie schon acht ist, sie wird immer auf fünf geschätzt. Sie wartet auch. Aber nur für ein paar Minuten. Sie fährt mit dem Zug zu Verwandten. Ihre Mutter hält sie fest an der Hand, will nicht, dass sie ihr verloren geht.
Da sieht das Mädchen die alte Frau. Neugierig geht sie ein paar Schritte auf sie zu, lässt die Hand der Mutter los.
„Was machst du hier?“
Das Mädchen hat nicht gelernt, dass man Erwachsene siezt. Oder sie findet, dass es bei der alten Frau nicht nötig ist.
„Ich warte.“
Die Frau hat eine rauhe Stimme, die ungeübt klingt, als ob sie sie lange nicht mehr benutzt hätte.
„Wartest du auf den Zug?“
Die alte Frau schüttelt lächelnd den Kopf.
„Ich warte auf meinen Mann.“
„Hat er gesagt, dass er auf diesem Gleis ankommt?“, will das Mädchen wissen, hat die Mutter und die Verwandten vergessen.
Die Frau sagt nichts.
Schließt die Augen.
Seufzt.
Die Mutter des Mädchens kommt angerannt, greift nach ihrer Hand und zieht sie mit sich, schubst sie in den Zug, springt hinterher, der Zug fährt ab.
Das Mädchen winkt der alten Frau zu.
Die Frau seufzt noch einmal. Dann steht sie auf, geht ein paar Schritte. Sie ist lange nicht gelaufen. Sie nimmt ihre zwei Decken in die Hand und geht nach Hause.

 

Hallo Ebecky,

zuerst formales:

Deine Geschichte gehört mAn nicht in diese Rubrik, sondern viel eher in Alltag. Man könnte der anonymen Frau mit gutem Willen zwar gerade noch irgendeine Erkenntnis am Ende der Geschichte unterstellen, eine solche wäre hier aber lediglich subjektiver, nicht allgemeiner Art. In "Was passt in diese Rubrik?" werden dagegen allgemeine Erkenntnisse der Protas für diese Rubrik gefordert.


Inhalt:

Die Handlung ist unspektakulär und nicht besonders ergiebig. Sie könnte gerade mal die Einleitung zu etwas umfassenderen darstellen. Ich hätte mir gewünscht, dass es am Ende des Textes noch ein wenig weitergeht. Mich hätte zB. interessiert, was die/der Erzähler(in) hinsichtlich der beschriebenen Frau als ihr "zu Hause" bezeichnet. Würde diese Frau "zu Hause" auch als IHR "zu Hause" bezeichnen? Oder würden sich hier gewisse Differenzen aufzeigen? Das u.a. wäre eine Möglichkeit für dich gewesen, etwas Spannung in deine Erzählung zu bringen, indem Erzählweise des Erzählers und beschriebenes Verhalten jener Frau aus unterschiedlichen Gründen nicht zusammenpassen.

Stattdessen erklärst du bzw. lässt die (anscheinend allwissende...) Erzählerin hier für meinen Geschmack zu viel erklären:

Das Mädchen hat nicht gelernt, dass man Erwachsene siezt. Oder sie findet, dass es bei der alten Frau nicht nötig ist.
Solche Folgerungen kann und sollte jeder Leser selbst ziehen. Auch das Unterlassen diverser Erklärungen in einer Geschichte erzeugt Spannung, da der Leser selbst gefordert ist, das Beschriebene zu erklären.


Stil:

Was den Stil betrifft schreibst du in sehr einfachen, kurzen Sätzen, was zur Folge hat, dass sich die Geschichte sehr schnell liest. Eigentlich zu schnell, denn zumindest die erste Handlungshälfte erstreckt sich ja eigentlich über einen längeren Zeitraum, wenn, ja wenn, die Erzählerin nicht allwissend wäre und damit aufgrund ihrer Ungeduld einfach diverse Abkürzungen wählt um möglichst schnell voran zu kommen. Was freilich zur Folge hat, dass sich der Leser gar nicht erst selbst sein eigenes Bild vom Geschehen machen kann.

An dieser Stelle bin ich ins Stolpern gekommen:

Das Mädchen hat einen blauen Wintermantel an, einen roten Schal und gleichfarbige Handschuhe.
Du formulierst "das Mädchen" anstelle von "ein Mädchen". Daher dachte ich natürlich, dass es sich dabei um die bettelnde Frau handeln muss, die an dieser Stelle, weshalb auch immer, zur Abwechslung einfach mal als "Mädchen" bezeichnet wird. Erst im weiteren Verlauf löste sich für mich dieses Missverständnis auf.
„Hat er gesagt, dass er auf diesem Gleis ankommt?“, will das Mädchen wissen, hat die Mutter und die Verwandten vergessen.
Dieses Zitat klingt für ein achtjähriges Mädchen zu gewählt. Erwachsene sprechen so. Kinder dagegen würden sich hier sicher anders ausdrücken.

 

Hallo Ebecky und Willkommen auf kg.de!

nun, deine geschichte wirkt auf mich nicht unbedingt philosophisch und ich weiß auch nicht genau, was du mit ihr sagen willst. die alte frau wartet; auf ihren mann, wird vom kind angesprochen und geht nach hause. man mag jetzt denken (philosophieren?), dass ihr mann fortgegangen ist und nicht mehr wiederkam; krieg? einfach verlassen? oder etwas ganz anderes? aber diese fragen haben keinen wirklich philosophischen hintergrund.

was deinen stil angeht. ein paar absätze mehr täten dem text ganz gut, vor allem an der stelle, wo du von der wartenden auf das mädchen schwenkst. man denkt dort zuerst, dass es das mädchen ist, dass eigentlich wartet.

einen lieben gruß...
morti

 

Hallo zusammen und vielen Dank für die Kommentare.

Erst mal zu Die philosophische Ratte:
Ich war mir nicht ganz sicher. Wie ich schon fast ahnte, ist dies die falsche Abteilung für meine Kurzgeschichte. Entschuldigung. Vielleicht kann sie ja verschoben werden.

Die Stelle, an der das Mädchen eingeführt wird, ist wirklich nicht ganz gelungen, das sehe ich sofort ein. "Ein Mädchen" klingt da aber doof.

@morti:
Ich mag mir gar nichts philosophisches ausdenken, um dir zu widersprechen. Ich sehe ein, dass die Geschichte hier falsch ist. Aber danke für die Rückmeldung.

Viele Grüße,
Ebecky

 

hallo

also mir persönlich gefallt die geschichte, auch wenn kein wirklich philosophischer hintergrund da ist - ich glaub, dass das auch nicht geplant war, oder? auf jeden fall dachte ich, dass das mit dem mädchen absichtlich war und habs total gut gefunden, weil man da zuerst den eindruck hat, dass das mädchen die frau ist und dass damit irgendwie eine beziehung zwischen beiden herrscht. ich meine, dass das schicksal der frau auch irgendwie das schicksal des mädchens hätte sein können und umgekehrt - hab mir halt gedacht, dass du das damit ausdrücken wolltest.
freu mich schon auf deine nächste geschichte
lg Screeny

 

Die Stelle, an der das Mädchen eingeführt wird, ist wirklich nicht ganz gelungen, das sehe ich sofort ein. "Ein Mädchen" klingt da aber doof.
Das kommt vielleicht daher, dass du in diesem Absatz mit dem Unwichtigen anfängst, dieses daraufhin verhältnismäßig ausführlich beschreibst und dann erst zum eigentlich Wichtigen gelangst:

Das Mädchen hat einen blauen Wintermantel an, einen roten Schal und gleichfarbige Handschuhe. Unter der Mütze schauen zwei lange, braune Zöpfe hervor. Sie ist klein für ihr Alter, niemand würde denken, dass sie schon acht ist, sie wird immer auf fünf geschätzt. Sie wartet auch.
Was hier zunächst mal überhaupt interessiert, ist, dass da in der Nähe des zuvor Geschehenen ein Mädchen steht und wartet (und darüberhinaus von ihrer angeblichen Mutter fest bei der Hand gehalten wird). Wie dieses besagte Mädchen gekleidet ist und ob es nun Zöpfe trägt oder nicht an dieser Stelle noch völlig unwichtig.


Also, wenn du es möglicherweise ernst meinst mit dem Schreiben (?) dann würde ich die ganze Geschichte einfach noch einmal schreiben, aber dabei einfach mal so einige Sätze umstellen, umformulieren und, wie schon angedeutet, vor allem auch die vielen beiläufigen Erklärungen des Erzählers zum Geschehen ganz wegstreichen.

 

Hallo Die philosophische Ratte,
Inwieweit sollte mir das Schreiben ernst sein?
Es ist mir ernst, ernst genommen zu werden.
Ich werde mir deinen Rat zu Herzen nehmen, und die Geschichte noch einmal neu schreiben, aber in nächster Zeit wird das wohl erst mal nicht geschehen.
Die Stelle mit der Einführung des Mädchens hast du mir jetzt übrigens hervorragend ausgeleuchtet. Du hast vollkommen recht von wegen Unwichtiges zuerst. Das war mir nicht aufgefallen.

Hallo Scrennsaver,
Danke für den Kommentar und das enthaltene Lob.
Ein philosophischer Hintergrund war in diesem Sinne nicht geplant, nein.
Deine Interpretation vom Schicksal des Mädchens und der Frau gefällt mir, aber wie so meistens stimmt die Interpretaton des Lesers nicht mit der Intention des Autors überein (auch wenn das in der Schule vielen so beigebracht wird). Aber natürlich kann man das so sehen. ;)

Viele Grüße,
Ebecky

 
Zuletzt bearbeitet:

Inwieweit sollte mir das Schreiben ernst sein?
Naja, ich würde sagen, das hängt von deinen persönlichen Bedürfnissen ab. Ich kenne dich ja nicht und es könnte vielleicht sein, dass du es mit dem Schreiben eigentlich gar nicht ernst meinst. Mit dieser Einstellung wärst du hier übrigens wirklich nicht alleine.

Es ist mir ernst, ernst genommen zu werden.
Ernstnehmen tue ich dich unabhängig von deinen Geschichten.


Edit: Achja, bist du einverstanden damit, dass ich deine Geschichte nun nach Alltag verschiebe?

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo bremerdeern,
und herzlich willkommen,
deine erste Geschichte unter KG?

Da hockt eine alte Frau auf einem alten Gleis, denn den Bahnsteig gibt es nicht und wartet lange Zeit
vielleicht darauf von einem kleinen Mädchen angesprochen zu werden? Dann bringt die Mutter dieses Mädchens mit ihrer Angst um ihr Kind, noch ein wenig Anklage in die Geschichte hinein. Nicht nach dem äußeren gehen...
tja also... du läßt mich ein wenig rätselnd im regen stehen, aneinander gereihte Sätze die zufällig eine Geschichte ergeben oder eigentlich doch nicht, dann wird versucht das Ganze unter dem Deckmantel Philosophie zu verstecken und wandert schließlich doch in Alltag, einen Moloch für alles was die Moderatoren anderer Kategorien nicht in ihrem Bereich stehen haben wollen.
T'schuldige ich schweife ab und werde unhöfflich...
Hmm... mir erschließt sich leider die Aussage des Textes nicht deswegen fällt es mir schwer konstruktiv Kritik zu üben...
dabei wäre das Gleis, welches nur für den Gütterverkehr gedacht ist eigentlich ein sehr interesannter Aufhänger gerade weil die Kulisse des Bremerbahnhofs recht ansprechend ist und man herrlich den Bahnhof beschreiben könnte...
Man liest sich
Nice

 

Hallo Ebecky,
eine sehr kleine Geschichte! Ein kleines bisschen hat sie mich an "Nachts schlafen die Ratten doch" erinnert, ohne aber deren Tiefe zu erreichen. Irgendwas schwingt in dieser Situation, aber ich finde es zu wenig.Es bleibt unerklärlich, warum die Frau gewartet hat und warum die Frage des Kindes sie gehen lässt. Vielleicht könntest du das ja noch herausmodulieren.
Gruß, Elisha

 

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