Gleis 4
Sie bettelt nicht. Manchmal wird ihr ein Geldstück vor die Füße geworfen, manchmal erntet sie Blicke voller Mitleid oder voller Verachtung, aber das ist ihr egal. Sie ist nicht zum Betteln auf Gleis 4.
Sie wartet.
Noch niemand hat sie gefragt, was sie dort beim Gleis tut, Tag für Tag, offensichtlich nicht bettelnd.
Sie wartet.
Von dem Geld, dass sie unfreiwillig geschenkt bekommt, kauft sie sich manchmal etwas zu essen, aber das sieht niemand. Manchmal kaut sie etwas, langsam und bedächtig und man sieht, dass sie sich fragt, wann sie wieder etwas essen wird.
Noch niemand hat ihre Stimme gehört. Vielleicht ist sie gehörlos. Wenn ein Beamter der Bahn kommt und ihr sagt, dass man auf dem Gleis nicht betteln darf, lächelt sie nur und schüttelt den Kopf.
Sie bettelt doch nicht.
Sie wartet.
Sie sitzt dort jeden Tag, jede Nacht, rührt sich nicht vom Fleck. Ihr muss kalt sein, denn ihre Kleider sind fadenscheinig und die zwei Decken sind dünn und wärmen bestimmt nicht. Aber niemand hat gesehen, dass sie zittert und niemand gehört, dass sie sich beklagt.
Das Mädchen hat einen blauen Wintermantel an, einen roten Schal und gleichfarbige Handschuhe. Unter der Mütze schauen zwei lange, braune Zöpfe hervor. Sie ist klein für ihr Alter, niemand würde denken, dass sie schon acht ist, sie wird immer auf fünf geschätzt. Sie wartet auch. Aber nur für ein paar Minuten. Sie fährt mit dem Zug zu Verwandten. Ihre Mutter hält sie fest an der Hand, will nicht, dass sie ihr verloren geht.
Da sieht das Mädchen die alte Frau. Neugierig geht sie ein paar Schritte auf sie zu, lässt die Hand der Mutter los.
„Was machst du hier?“
Das Mädchen hat nicht gelernt, dass man Erwachsene siezt. Oder sie findet, dass es bei der alten Frau nicht nötig ist.
„Ich warte.“
Die Frau hat eine rauhe Stimme, die ungeübt klingt, als ob sie sie lange nicht mehr benutzt hätte.
„Wartest du auf den Zug?“
Die alte Frau schüttelt lächelnd den Kopf.
„Ich warte auf meinen Mann.“
„Hat er gesagt, dass er auf diesem Gleis ankommt?“, will das Mädchen wissen, hat die Mutter und die Verwandten vergessen.
Die Frau sagt nichts.
Schließt die Augen.
Seufzt.
Die Mutter des Mädchens kommt angerannt, greift nach ihrer Hand und zieht sie mit sich, schubst sie in den Zug, springt hinterher, der Zug fährt ab.
Das Mädchen winkt der alten Frau zu.
Die Frau seufzt noch einmal. Dann steht sie auf, geht ein paar Schritte. Sie ist lange nicht gelaufen. Sie nimmt ihre zwei Decken in die Hand und geht nach Hause.