Gleis 7
Judith blickt durch die beschlagene Fensterscheibe hinaus auf den Bahnsteig. Sie nimmt das Treiben still in sich auf, ein kleiner Junge sitzt strahlend auf den Schultern seines Vaters, daneben stehen zwei Jungs, sie dürfen ca. 14 Jahre alt sein, mit ihren Skateboards, aus dem Aufzug treten lachend zwei junge Freundinnen mit riesigen Shoppingtüten in der Hand. Am Bahnsteig gegenüber sieht Judith, wie ein junger Mann seine Freundin in Empfang nimmt. Er hebt sie hoch und wirbelt sie durch die Luft, dann küssen sie sich. Es scheint, als wären rund herum nur überglückliche Leute, die voller Lebensfreude ihren Tag genießen.
Judith seufzt. Sie spürt einen Stich in ihrem Herzen. Heute ist es genau ein halbes Jahr her. Um die Gedanken an dieses schreckliche Erlebnis abzuschütten dreht sie den Kopf Richtung Gang und mustert den Koffer ihres Gegenübers. Doch alles Ablenken nützt nichts, wieder hat sie die Bilder dieses schrecklichen Ereignisses im Kopf.
Es war der 27. November 2009, 20.55 Uhr als ihr Zug nach knapp 6 Stunden Fahrt endlich den Münchner Hauptbahnhof erreichte. Sie war zurück von einer anstrengenden Geschäftsreise in Leipzig. 5 Tage lang war sie nur von einem Termin zum nächsten gehetzt, oft hatte sie tagsüber höchstens eine halbe Stunde im Hotel verbracht. Dennoch sie liebt ihren Job, sie kommt mit ihren Kollegen klar und hat Spaß an der Arbeit, so fordernd sie auch sein mag. Als der Zug mit quietschenden Bremsen anhielt, schreckte sie aus ihrem Halbschlaf hoch, sie rappelte sich auf und zerrte sie erschöpft und kraftlos an ihrem schwarzen Rollkoffer, der über ihr in der Gepäckablage versaut war. Einige Strähnen ihrer langen blonden Haare fielen ihr in die Stirn. Ärgerlich schob sie sie beiseite und bemühte sich weiter mit ihrem Gepäck. Nach einem Kraftakt, der ihr eindeutig zu groß war, ging sie entnervt den Gang entlang bis zum Ausgang. Als sie ausgestiegen war, sog sie die kalte Nachtluft ein. Das tat gut, sie war froh einfach wieder zu Hause zu sein. Langsam stellte sich wieder das Heimatgefühl ein, sie freute sich trotzdem nur noch auf eine heiße Dusche und ein warmes Bett und besonders ihre Familie. David und ihre kleine Jana. Doch von David, der sie eigentlich abholen wollte, war noch nichts in Sicht, also setzte sie sich auf einen der Metallsitze auf dem Gleis und sah zu wie sich der Bahnsteig langsam leerte. Sie fröstelte und sich ihren Schal um. Ein kleines Mädchen ging an der Hand ihres Vaters an ihr vorbei, sie lächelte es an und merkte noch stärker, wie sehr sie sich auf zu Hause freute. Jana war bei ihrer Oma untergebracht, nur so konnte David sie noch so spät am Bahnhof abholen. Doch selbst wenn alles durchgeplant war, nach seiner Unpünktlichkeit konnte man nahezu die Uhr stellen. Also bückte sie sich, griff in Handtasche und zog ihr iPhone heraus, um zu erfahren wo er steckte. Vom Hintergrundbild lächelte er sie an. Ja, sie hatte ihn wirklich vermisst.
Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie am Anfang des Bahnsteigs drei Gestalten auf sich zukommen. Schätzungsweise zwischen 1,80 Metern und 1,90 Metern groß. Ihr Herz hämmerte, schließlich saß sie am dunkelsten, gottverlassensten Teil des Bahnsteiges. Warum war sie auch nicht schon in Haupthalle gegangen um dort zu warten? Mittlerweile hatte nach den anderen Passagieren nun auch der Zug den Bahnhof wieder verlassen, so dass sie ganz alleine war. Judith sah, dass die Personen immer näher kamen, also bückte sie sicher erneut um wieder etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Doch plötzlich hörte sie Atemzüge und als sie aufsah, blickte sie in die Gesichter dreier Jugendlicher, die sie anstarrten. Sie holte tief Luft, straffte die Schultern und stand auf, nur um sich Respekt zu verschaffen und die Drei zu fragen, was sie wollten. Doch gerade als sie stand, traf sie ein heftiger Stoß gegen die Brust, sodass zurückfiel und mit ihr Hinterkopf mit voller Wucht auf die Stuhllehne aufschlug. Ein pochender Schmerz durchzuckte ihren Körper, dann fühlte sie das warme Blut ihren Nacken hinunterlaufen.
Erst seine Stimme brachte sie wieder zu Bewusstsein: „Judith! Hey! Seid ihr verrückt? Sie ist meine Frau!“ Judith sah, wie David einen der Jungen von hinten umstieß. Doch der Zweite zeigte schnelle Reaktion. Er verpasste ihm einen gewaltigen Kinnhaken und so war im Nu eine gewaltige Keilerei im Gange. Immer wieder sah Judith seine Hand aus dem Gemenge hervorschnellen.
Mühsam wandte sie den blutenden Kopf und versuchte ihre Handtasche aufzuheben, die ihr aus der Hand geschlagen worden war. Sie wollte schnellstmöglich Hilfe rufen.
Da sah sie auch schon zwei Leute den Bahnsteig entlang rennen. In ihrer Not brüllte sie trotz schmerzendem Kopf um Hilfe. Sie sprang auf und lief auf die beiden zu.
Sie stellte sich ihnen in den Weg, schrie sie an, sie sollten David helfen, doch die beiden stießen sie beiseite. Wieder fiel sie und knallte auf den harten Boden.
Tränen liefen ihre verdreckten Wangen hinab, als sie ihre letzte Kraft sammelte, sich schließlich aufrappelte und loslief. Wieder spürte sie die warme Flüssigkeit, das Blut rann ihre Hand hinab und tropfte auf die Steine. Sie rannte weiter, doch es schien ihr, als käme sie keinen Schritt voran, als liefe sie auf der Stelle. “David, David!”, hörte sie sich immer wieder schreien.
Doch in diesem Moment nahm sie einen grellen Lichtschein war, er blendete ihre Augen. Wieder schrie sie nach ihm, doch ihre Stimme erstickte, als sie sah, dass einer der Jugendlichen Anlauf nahm, direkt auf David zu, der sich soeben erhoben hatte und mit dem Rücken zu seinem Angreifer stand. Dann nahm sie wieder diese grellen Lichter war und dazu auch ein lautes Hupen. Ihre Augen wanderten wieder zu ihrem Mann. “David, Pass auf!”. Das Leuchten war unerträglich nah. Sah er das denn nicht? Doch in diesem Moment wurde er auch schon von dem Jugendlichen nach hinten gestoßen. Es war alles wie in Zeitlupe. Das Licht, das Hupen, David, der sein Gleichgewicht verlor, wieder das Licht, Davids entsetzter Schrei, dann ein dumpfer Aufprall und schließlich ein lautes, kreischendes Quietschen der Zugbremsen.
Judith schrie auf, dann sackte sie auf ihre Knie und blieb schluchzend am Boden liegen. Die Sirenen und Blaulichter nahm sie gar nicht mehr wahr, nur den tiefen Schmerz, der sich qualvoll in ihr ausbreitete.