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Gleis 9
Langsam bog er in seine Straße ein, fast automatisch, wie immer wenn er in Gedanken versunken durch die Stadt streifte.
Doch diesmal war es anders. Diesmal trieb ihn keine innere Unruhe wie sonst in die kühle Herbstnacht.
Diesmal war es anders...
Diese Leere und Kälte hatte er noch nie gespürt.
Die Augen auf den Boden gerichtet schlich er an seiner Wohnungstür vorbei. Fast wie in Zeitlupe liefen seine Gedanken ab, folgten seine müden Schritte mehr dem leichten Gefälle der Straße, als dem eigenen Antrieb.
Der Anruf.
Immer wieder hämmerten sich die Worte in sein Hirn.
So kühl gesprochen, so sachlich und im Augenblick der Wahrheit mit einer Spur Zurückhaltung. Im Leben hätte er sich das nicht vorstellen können. Zu oft hatte er sich etwas vorgemacht, geglaubt, ihm könne das nicht passieren.
Seit dem Anruf schlich er nun durch die Stadt, ohne Ziel, überquerte die Straßen ohne hinzusehen.
Nur einmal musste ein Auto bremsen.
Wütend stieg der Fahrer aus und verstummte sofort als sich ihre Blicke trafen. Wortlos, mit einer kurzen Geste des Verstehens stieg dieser wieder ein und fuhr davon.
An der Laterne auf der Brücke blieb er stehen, geisterhaft beleuchtet, mit dem Hauch des kühlen Windes vor dem Mund.
Langsam steckte er sich die Zigarette an und sog gierig den Rauch in seine Lungen.
`Wie immer`, dachte er, wie immer...
Er ahnte das es genau das war.
Seit einigen Wochen war sie da, die innere Unruhe. Täglich griff sie nach ihm, wie ein eisernes Band schnürte sie ihm die Kehle zu.
Müde lehnte er sich auf das Geländer vor ihm, blickte hinunter auf die Gleise.
Kalte glitzernde Stahlbänder die sich scheinbar vom Nichts ins Nirgendwo erstrecken.
Ein paar Schritte weiter stieg er den Damm hinunter, lief am Güterschuppen vorbei und trat auf die Gleise. Irgendwo tauchte ein Licht auf, kam langsam näher.
In diesem Augenblick erschien ihm das Licht wie eine Erlösung. Warm und hell strömte es in seine Gedanken, löschten alle Ängste aus.
Es suchte ihn, genau zu diesem Zeitpunkt.
Nun empfand er die Leere in sich als wohltuend, konnte er endlich frei atmen, musste nicht mehr denken.
Mit ausgebreitete Armen empfing er das sich nähernde Licht.
Das kreischene Geräusch um ihn hörte er nicht, spürte schon nicht mehr wie ihn das grelle Licht in seine Arme nahm und mittriss...
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Ein Mann verlässt gerade sein Auto, schliesst es sorgfältig ab und geht auf das Bahnhofsgebäude zu.
Ein langer Tag steht ihm bevor, Frühschicht. Noch 10 Minuten bis sein Zug kommt. Zeit für eine Zigarette und ein Blick in die Zeitung.
'Komischer Typ vorhin auf der Straße' denkt er.
Er wusste nicht was es war, dass ihn sofort verstummen lies als er in seine Augen sah. So leer und doch irgendwie so unglaublich vielsagend...
'Vielleicht Drogen, wer um die Zeit schon draußen rumläuft...'
Einen kurzen Augenblick nur denkt er darüber nach, dann widmet er sich wieder seiner Lektüre.
Das Signal für die Gleisdurchsage erklingt...
'Aha, mein Zug'
Sorgfältig faltet er die Zeitung zusammen und drückt die Zigarette aus.
Plötzlich stockt seine Bewegung, die Hand beginnt zu zittern als die Zeitung von seinen Knien rutscht.
Mit bleichem Gesicht lauscht er der Durchsage...
"Meine Damen und Herren an Gleis 9, aufgrund eines Personenunfalls auf der Strecke fällt der Zug Nummer xxx in Richtung Rxxxx, planmäßíge Abfahrtszeit 3:50 Uhr, heute leider aus. Für Reisende in Fahrtrichtung Rxxxx besteht die Möglichkeit....."
Den Rest der Durchsage hört er nicht mehr, auch nicht die Stimmen der anderen.
"So ein Mist, schon wieder zu spät ins Büro, sch..."
"Verdammt, müssen die Leute immer dann vor den Zug fallen wenn ich zur Arbeit muss...?!"
Niemand sieht seine Augen, sieht den Moment des Verstehens in seinem Blick.
Plötzlich kann er lesen,
wie in einem Buch.
Lesen, was er in den Augen des anderen sah...