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Gleis Acht
Heute war wieder Montag, endlich. Hans-Jürgen freute sich immer auf den Montag. In der Woche war einfach mehr los im Bahnhof als sonst. Er liebte den Bahnhof. Für ihn war der Bahnhof wie das Leben.
Also ging er den Weg, wie er ihn jeden Wochentag ging. Seine Schritte lenkten ihn als Erstes zu dem kleinen Bäcker vorne rechts. Das Lächeln der Frau, die ihm das Bestellte über den Tresen reichte. Sie könnte seine Tochter sein, dachte er jedes Mal. Er erwiderte die Freundlichkeit mit einem "Danke" und setzte sich an einen der kleinen Tische.
Langsam aß er sein Brötchen, trank seinen Kaffee und überlegte wo er heute als Erstes hingehen würde. Gleis acht, ja, Gleis acht war gut heute. Gleis acht, da kamen die Vorortszüge an. Er mochte dieses Gleis. Die Ironie der nicht mehr so neuen Züge von Gleis acht und die hastenden, modernen Menschen, die schnell ihrer Arbeit entgegeneilen müssen. Die nicht stehen bleiben dürfen, wie eine alte Lok, die ausrangiert wird. Reparatur lohnt sich eben nicht mehr. Ja, Gleis acht.
Hans-Jürgen wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und schob das Tablett samt Tasse und Teller voller Brötchenkrümel in den Sammelwagen und ging in Richtung Gleise. Freundlich wurde er von den Mitarbeitern gegrüßt, die ihn kannten.
"Guten Morgen, Herr Michels. Und, wo geht's heute hin?", fragte ihn ein Zugbegleiter.
"Zu Gleis acht", antwortete er.
"Oh, na denn viel Spaß!"
Er ging weiter, freute sich schon.
Langsam ging er die Treppe Gleis hinauf. Wurde überholt von den Menschen, die noch schnell den nächsten Zug bekommen mussten. Hektik gehörte eben dazu, wenn auch nicht mehr zu seinem Leben. Er konnte sich die Zeit nehmen die Stufen nicht hinaufzueilen. Hans-Jürgen würde sich denn auf eine Bank setzen und den Menschen auf dem Weg zur Arbeit zusehen. Er mochte das, es gehörte zum Leben. So wie er mal zum Leben gehört hatte. Als er noch arbeiten konnte, vor seiner Pensionierung. Nun vermisste er etwas und Fernsehen war ihm zu langweilig. Fernsehen war für ihn Leben aus der Konserve. Geheucheltes Lachen in Plastikgesichtern. Nein, nichts für Hans-Jürgen.
Und so saß er auf seiner Bank und sah den hetzenden Menschen nach, hörte die Flüche, wenn jemand den Zug verpasste, das nervöse Auf-die-Uhr-sehen, wenn es wieder einmal eine Verspätung gab.
Das war für ihn Leben, ungeschminkt und ehrlich.
Der zwölf-Uhr-dreizehn Zug rollte ein. Heute war er pünktlich. Das Zeichen für Hans-Jürgen sich ein kleines Mittagessen zu gönnen. Er erhob sich, zupfte sich seinen langen Mantel zurecht und schritt in Richtung Treppe.
Meistens aß er etwas Warmes, wenn es noch so kühl war, wie heute. Schließlich war ja noch nicht Sommer. Das gehörte eben dazu. Also gab es heute den Mittagstisch in dem kleinen Bistro. Schnitzel mit Pommes frites und Salat.
Sollte er heute noch zu Gleich drei? Gleis drei war das Gleis, wo die Fernzüge an- und abfuhren. Die Begrüßungsszenen von Menschen, die sich lange nicht gesehen hatten. Die Tränen und Küsse. Aber auch die Tränen des Abschieds. Die machten ihn immer auch melancholisch. So wie er Abschied nehmen musste in den vielen Jahren, die er nun schon lebte.
Er stocherte in seinem Essen herum, schnitt kaum einmal einen Bissen ab von seinem Schnitzel.
Nein, Gleis drei war heute wohl eine schlechte Idee.
Er würde nach Hause gehen, das Radio anmachen. Nicht zu laut, die freundlich lächelnde Schwester würde ihn sonst nur wieder auf seinen Zimmergenossen aufmerksam machen. Der braucht nun mal viel Schlaf, das sehen Sie doch ein, Herr Michels. Ja, er würde es wieder einsehen, in den Gemeinschaftsraum gehen und sich wieder einsam fühlen.