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Godot wartet
Vor einiger Zeit bezog ich eine Wohnung an der Nietzschestrasse, zwischen Flughafen und Stadtmitte gelegen. Die Häuser in dieser Strassenzeile wirken eher klobig, aber es ist keine verkehrsreiche Durchgangsstrasse, was für mich ausschlaggebend war.
Erst nach vierzehn Tagen, fiel mir der Hund am Fenster am Haus gegenüber auf. Er hockte dort und schaute auf mich hinab. Wann immer ich kam oder ging, beobachtete er mich. Sein faltiges Gesicht wachsam auf mich gerichtet.
Anfänglich löste es in mir höchst unangenehme Gefühle aus. Sinneseindrücke, wie wenn eine Überwachungskamera konstant in meine Privatsphäre Einblick nähme, durch die Beobachtung abschätzend, welche Gewohnheiten mir eigen sind und wer in meiner Begleitung ein und aus ginge. Ich versuchte es mit unregelmässigem Erscheinen und Weggang. Doch der Hund war auf der Lauer, selbst am späten Abend. In der Dunkelheit war er mehr erahnbar als wirklich erkennbar. Einzig, wenn im Raum hinter dem Fenster ein Licht brannte, sah man verräterisch seine Silhouette. Schlafen ging er wohl nur, wenn er mit Sicherheit annahm, er könne mich nicht verpassen.
Es hat aber auch etwas Angenehmes, dass man erwartet wird, wenn man nach Hause kommt. Diese Empfindung stieg in mir auf, als ich einmal an einem nasskalten Regenabend in die Strasse einbog, meinem Hauseingang zueilend ihm einen kurzen Blick zuwarf. Er schaute mich mitleidsvoll an, selbst im Trockenen sitzend. Das veränderte meine Beziehung zu ihm. Ich hatte schon mal daran gedacht, ihm die Zunge herauszustrecken oder ihm den Mittelfinger zu zeigen. In Gedanken bat ich ihn nun um Entschuldigung, auch wenn ich es gar nicht ausgeführt hatte. Aber schon die Tatsache, dass ich überhaupt so etwas in Erwägung zog, erzeugte mir nun Scham.
Am nächsten Morgen, als ich das Haus verliess, nickte ich ihm knapp zu. Ich glaube, er hatte den Kopf auch leicht bewegt. Seinen Blick vermeinte ich auf meinem Rücken zu spüren, als ich die Strasse hoch ging, bis ich in die Schleiermacherstrasse abbog.
So ging es nun fortwährend, er begrüsste mich, wenn ich nach Hause kam, und verabschiedete mich, wenn ich wegging.
Zufällig sah ich mal in einer Zeitschrift ein Foto eines Hundes, das ihm sehr ähnlich sah, nur in den farblichen Zeichnungen gab es Unterschiede. Da mir seine Zeichnung gut in Erinnerung war, konnte ich dies mit Sicherheit sagen. Seine Brust und die Vorderbeine sind Weiss. Um die Augen und den Kopf hinaufziehend ein warmer Braunton, die Nase Schwarz darum eine dunkle Schattierung ins Weisse übergehend, die ganze Rückenseite ein falbes Braun. Der Hund im Bild hatte jedoch auch Rot. Aber jetzt wusste ich, er gehört zur Rasse der englischen Bulldogge.
In einer Bibliothek nahm ich Einblick in ein Buch über Hunderassen. Was da über sein Wesen geschrieben stand, war interessant. Der äussere Eindruck, die bullige Schnauze täuscht, es ist ein gutmütiger Hund. Meine Sympathien für den Nachbarshund stiegen mit diesem Wissen noch.
An einem Morgen, ich war später als üblich dran, war der Fensterplatz verwaist. Ich blieb stehen und schaute, ob er nicht doch noch erscheinen würde. Die Minuten verstrichen, ohne dass er mich verabschieden kam. Da fiel mir auf, dass an den Fenstern die zur gleichen Wohnung gehörten, die Vorhänge entfernt waren. Es erfüllte mich mit Besorgnis, da ich den Grund dieser Veränderung nicht kannte. Waren die Mieter vielleicht am frühen Morgen ausgezogen? Ich kam in Versuchung nachfragen zu gehen, doch beliess ich es dann dabei, an der Haustüre auf die Namensschilder der Mieter zu sehen. Der Anordnung nach musste es das Namensschild unten rechts sein. Es war nicht entfernt, »H. Meyer« war da zu lesen.
Tagsüber kamen mir immer wieder Gedanken auf, weshalb der Hund heute nicht am Fenster war. Möglicherweise hatte er geschlafen oder war auf einem Spaziergang, dies musste ja auch sein. Ob er wohl krank war? Diese Überlegung beunruhigte mich wieder.
Im Telefonbuch suchte ich den Eintrag von H. Meyer. Herbert Meyer, Generalintendant, war unter der Adresse eingetragen. Ich wählte die Telefonnummer, legte nach mehrmaligem erfolglosen Klingeln dann aber auf. Herr Meyer war anscheinend nicht zu Hause. Was hätte ich auch sagen sollen? Wie geht es ihrem Hund? Ich hatte ihn heute Morgen am Fenster vermisst. Er würde mich wohl für etwas verwirrt halten.
Am Abend eilte ich schnell nach Hause. Schon beim Einbiegen in die Nietzschestrasse spähte ich auf das Fenster. Bereits aus einiger Entfernung konnte ich die Konturen ausmachen, er thronte da und wartete. Freudig schritt ich aus, den Blick auf ihn gerichtet. Er wirkte wohl etwas blasiert, doch liess er mich nicht aus den Augen. Ich war überzeugt, dass auch er sich freute, mich zu sehen. An der Haustüre drehte ich mich nochmals um, die Hand kurz zum Gruss erhebend.
Beim Einkauf in einer Metzgerei in der Innenstadt kam mir die Idee, ihm eine Freude zu bereiten, einfach so, aus reiner Sympathie. Ich kaufte einen mittelgrossen Knochen, an dem er eine Weile zu nagen hätte.
Eine Notiz falls niemand zu Hause wäre hatte ich vorbereitet und würde den eingepackten Knochen an die Wohnungstüre von Herrn Meyer hängen. Mein Herz klopfte etwas, als ich die Klingel betätigte. Ob er wohl bellen würde? Ich hörte Schritte, die Tür öffnete sich. Mir gegenüber stand eine ältere, elegant gekleidete Dame mit schlohweissem Haar, mich freundlich fragend anschauend. «Helmut Lange», stellte ich mich vor. «Ich wohne im Haus gegenüber und kenne Ihren Hund, der zuweilen im Fenster sitzt. Ich finde es so schön, wie er mich jeden Tag begrüsst und verabschiedet. Deshalb würde ich ihm gerne einen Knochen schenken.» Sie war eindeutig verblüfft, wie ich ihrem Gesichtsausdruck entnahm, doch dann trat ein Lächeln ein.
Sie bat mich einzutreten und führte mich in ein Arbeitszimmer. Da thronte er auf dem Fenstersims, hinausschauend.
«Den Hund hat mein verstorbener Mann, der Intendant am Theater Bremen war, von einem Schauspieler geschenkt erhalten. Dieser kaufte ihn in Vallauris, als er dort war um das Grab von Jean Marais, einem namhaften französischen Schauspieler, zu besuchen. Er überreichte den Hund meinem Mann mit den Worten: Hier ist Godot. Sie hatten einmal das Stück ‚Warten auf Godot’ von Samuel Beckett gespielt. Bei einem Umtrunk nach der erfolgreichen Vorstellung hatte die Theaterequipe darüber gescherzt, wie Godot sich wohl präsentierte, wenn er erscheinen würde.»
Frau Meyer erhob sich und bemerkte lächelnd, «ich finde es schön, welchen Eindruck der Hund auf Sie macht: Godot wartet». Mit diesen Worten war sie ans Fenster getreten, ihre Hand über den Kopf des Hundes streichend. «Begrüssen Sie ihn», wandte sie sich an mich und machte Platz. Ich liess meine Hand über seinen Kopf streichen, das kurze raue Haar verspürend. Godot bewegte sich nicht. Plötzlich wurde mir bewusst, dass er sich kalt anfühlte, ohne Körperwärme.
«Vallauris ist eine Kleinstadt, die auch für ihre Keramik bekannt ist. Godot ist, so lebendig und real er auch wirkt, aus Keramik», äusserte Frau Meyer sanft.
Als ich am nächsten Morgen das Haus verliess, schaute ich instinktiv hinüber. Er hockte da und schaute mich an. Ich nickte ihm zu und ging mit dem vertrauten Gefühl und dem Wissen, Godot wartet.