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Grüne Kastanien
Sie hatten ihn mal wieder in die Ecke der Jungentoilette gedrängt. Eingekeilt zwischen Toilette und Wand, zitternd - hockend auf uringetränktem Toilettenpapier und kalten Kacheln, war er ihnen ausgeliefert. Mehrere Köpfe angestachelter Kinder lugten über die Seitenwände der Kabine. Andere, die keinen Platz mehr ergattern konnten, schmissen Toilettenpapierrollen, die sie vorher unter den Wasserhahn gehalten hatten.
Und Leon versuchte schon lange nicht mehr zu entkommen oder sich zu wehren, geschweige denn diplomatisch zu agieren. Er kniff die Augen zu, wartete, hielt sich den Arm vors Gesicht, wartete geduldig, versuchte den Kopf zwischen die Knie zu bekommen und wartete weiter; wartete, dass es vorüber ging. Er zog sich noch mehr zusammen, wurde zum Embryo.
Es schellte zum Stundenbeginn. Er hörte unzählige Füße über den Kachelboden rennen und spürte die letzten Toilettenpapierrollen auf sich einschlagen. Jeder durfte noch einmal.
Stille.
Knarrend fiel die massive Stahltür ins Schloss. Doch Leon blieb liegen, wäre am liebsten für immer so liegengeblieben, ließe es einmal pro Tag über sich ergehen, und ... vielleicht würde es ihnen ja irgendwann langweilig werden. Aber das hoffte er schon die ganzen letzten drei Wochen; seitdem er diese Schule besuchte. Wenn man „der Neue“ sei, hätte man es immer schwer, hatte sein Vater gesagt.
Langsam löste er sich aus seiner Embryo-Haltung und öffnete die Augen, sah das Chaos. Er war der Punchingball der siebten Klasse, der ganzen Schule, sämtlicher aufgestauter Aggressionen. Er erhob sich, war wie benommen, schwankte und zerrte mühevoll die Tür auf. Die dritte Stunde hatte schon lange begonnen. Gesenkten Hauptes beschloss Leon von dannen zu ziehen. Mit seiner eingepissten Hose würde er jetzt ganz bestimmt nicht mehr vor die Klasse treten, sich auch noch für seine Unpünktlichkeit entschuldigen und das Lachen ertragen müssen.
„Ein Mal noch Kapinzki! Nur noch EIN EINZIGES MAL, und das wars für dich! Bei so was versteh ich keinen Spaß! Gib mir die Flasche! Diesmal lass ich noch Gnade vor Recht walten ... Aber nur noch ein Mal, Kapinzki! Nur noch EIN EINZIGES MAL und das wars! Haben wir uns verstanden?“
„ ...“
„Gut! Und jetzt sieh zu, dass du weg kommst!“
Die Standpauke kannte er schon, genau wie er den Herrn Oberwachtmeister schon kannte. Er musste es sich gestern Abend mal wieder auf der Schultoilette gemütlich gemacht haben. Aber wenigstens war er nicht bei den Mädchen aufgewacht. Sein Schädel brummte, er stank und war nass, zog Toilettenpapierfetzen von seiner Kleidung. Diese kleinen Bastarde mussten ihn wieder beworfen haben. Warum zog es ihn nur immer wieder dort hin? So ein lauschiges Plätzchen war so ein Schulklo ja nun wahrlich wirklich nicht. Auch er selbst war als Bube mal auf diese Schule gegangen. Eine der vielen Schulen, auf denen er war, da sein werter Herr Vater ja immer wieder die Städte wechseln musste. „Die Wirtschaft ist flexibel! Da musst du auch flexibel sein!“, hatte er immer gesagt. Mutter war ja einfach gegangen. Die konnte das. Und auf dieser Schule war es sogar besonders schlimm gewesen, konnte er sich vage erinnern. Kinder können sehr grausam sein. Hatten sie ihn damals nicht immer gejagt und dann beworfen, ihre Aggressionen an ihm ausgelassen? Er zog ein weiteres Stück nasses Papier von seiner Kleidung, schüttelte verwirrt mit dem Kopf und holte eine Flasche Bier aus seinem Jutebeutel. Es kamen weitere Erinnerungen an seine Zeit auf dieser Schule in ihm hoch. Da konnte aus ihm ja nichts Vernünftiges werden! „Danke Vater!“, dachte er sich ironisch und wütend. Und während die Erinnerungen in ihm weiter hochkamen und aufkochten, merkte er, dass er sehr viel verdrängt haben musste. Aber jetzt war es doch eh zu spät. Jetzt machten ihn die Erinnerungen nur fertig, erinnerten ihn an sein Leben früher, und noch schlimmer; an sein Leben heute. Wie es dazu kam, wie das alles passiert war. Erst hatte er daheim auf dem Sofa getrunken, dann während der Arbeit, dann ohne Klara, dann ohne Sofa und Wohnung, schließlich ohne Verstand. Aber ohne Verstand hatte er auch keine Erinnerungen.
An diesem Tag betrank er sich mehr als sonst.
Die Kastanien waren gefallen, waren noch grün, hatten Stacheln und taten verdammt weh, wenn sie auf jemanden geworfen wurden. Mehr als nasses Klopapier. Die Kinder bildeten eine Schneise für die Werfer vor der Kabine, in der Leon auch heute wieder „den Embryo machte“, wie sie es nannten. Das sagte die Lehrerin immer, wenn er nicht an die Tafel wollte und sich an seinem Tisch verkrümmte, als wollte er sich zusammenziehen und sich in sich selbst verkriechen. Unter den Anfeuerungsrufen der Anderen warfen sie mit voller Wucht auf Leon ein, während andere Nachschub holten. Auch die Mädchen waren mittlerweile mit auf der Toilette. Manche fanden das auch doof und weinten manchmal sogar, aber das half Leon auch nicht weiter. „Wer petzt, liegt morgen auch dort“, hieß es.
Er konnte auf keinen Fall seine Deckung aufgeben, da er keine dieser Kastanien an den Kopf bekommen wollte. Also tastete er mit der rechten Hand nach herumliegenden Geschossen um sich zur Wehr zu setzen, während er sich den linken Arm weiter vor das Gesicht hielt, und griff zu seiner eigenen Verwunderung um den Hals einer Flasche. Aber sie war sehr klein. Oder seine Hand war sehr groß. Irgendetwas stimmte mit den Dimensionen nicht; denn auch er selbst war größer, viel größer als sonst. Und auch die Einschläge der Kastanien schmerzten ihn nicht mehr wirklich.
Mit dieser neu gewonnenen Kraft sprang er auf, setzte zum Wurf an und ... Sie waren alle kleiner als er. Viel kleiner. Und sie rannten. Schneller als sie jemals gerannt waren. Er packte sich einen von ihnen und schubste ihn zu Boden. Fester als er es erwartet hatte. Vor der Stahltür hatte sich eine Traube aus panischen Kindern gebildet. Von oben herab griff er willkürlich in die Menge und schleuderte einen hilflosen Körper durch den Raum, stieß andere mit den Füßen vor die Wände und hörte die kleinen Köpfe gegen die Kacheln schlagen. Das hatten sie nun davon! Der Allmächtige hatte ihm Kraft und Größe gegeben! Jetzt konnte er es ihnen heimzahlen. Diese Bastarde! Wieder packte er sich einen von ihnen und schleuderte ihn durch die Gegend. Dann hielt er inne. Er schaute sich um: Das Blut lief die Kacheln runter, Kinderkörper lagen regungslos auf dem Boden und in der Ecke schluchzte ein Mädchen in Embryo-Haltung.
„Kapinzki, was hast du getan?!“, dachte er und sagte es auch laut. Er musste mehrere Minuten so dagestanden sein, bis er die Tür öffnete, auf eine Kastanie trat und die Toilette verließ. Draußen waren die ersten Polizisten eingetroffen. „Leon Kapinzki! Nimm die Hände hoch!“, erklang die aufgeregte Stimme des Herrn Oberwachtmeisters aus dem Megaphon. Die Polizisten schienen sich günstig zu positionieren. Andere holten schreiende Kinder von dem Gelände.