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Grabrede
Unsere Leben sind voller Schatten.
Schatten, über die wir nicht springen können.
Das sind die langen Schatten der Vergangenheit, die uns immer wieder einholen.
am 28. Februar hat die große Dunkelheit meinen
Vater,
Hermann...,
im Alter von 75 Jahren endgültig eingeholt.
Ihm zum Gedenken sind wir heute hier.
Ich, sein drittgeborener Sohn, habe mich, als die Frage auf uns Geschwister zu kam, spontan entschlossen, selbst die Abschiedsworte zu sprechen, weil ich glaube, es unserem Vater schuldig zu sein.
Ich schaffte es nämlich nicht, mich von ihm zu verabschieden. Zu schnell kam das Ende, selbst für ihn überraschend. Gut, dass meine Schwestern bei ihm sein konnten.
Unruhig sei er in seinen letzten Momenten gewesen, erfuhr ich später. Als habe er gehofft, bestimmte Menschen noch einmal zu sehen.
Ich hätte eilen, sofort starten müssen, als ich mittags angerufen wurde, Vater wäre ins Krankenhaus gekommen, und es stünde schlecht um ihn.
Doch ich ließ mir Zeit.
Soviel Zeit, wie ich meinte zu brauchen, um die richtigen Worte für unser auseinandergehen zu finden.
Diese Worte waren für mich von großer Bedeutung.
Ich wollte Vater wissen lassen, dass ich ihm unsere alten Zwistigkeiten nicht mehr nachtrage,
dass alte Verletzungen verheilt sind und mein jugendlicher Zorn auf ihn längst einem reiferen Verständnis für ihn gewichen ist.
Auch, dass ich seinen Mut bewundere, mit dem er in den letzten Jahren noch einmal sein Leben frei gestaltete.
Was waren das für Schatten zwischen ihm und mir, die da dreißig Jahre lang wuchsen und dabei länger und dunkler wurden!?
Ich war ein neugieriges und auch vorlautes Kind, das viel wissen wollte und gern altklug seine Meinung zum besten gab.
Da verstand ich es nicht, warum mein Vater, der selbst einen klugen und wissenden Eindruck auf mich machte, mich oft für meine kindlichen Fragen schalt, oder sie schlicht ignorierte. Was wusste ich denn, über welche Themen Erwachsene nicht so gern reden?
Eines Tages fragte ich ihn ob es stimme, dass „Mobilmachung“ sei. Da war ich noch so jung, dass ich nicht einmal ahnte, welche Bedeutung das Wort hat. Ich hatte etwas aufgeschnappt und wollte es einfach nur verstehen. Dafür bekam ich von ihm eine Ohrfeige.
In der Schule entwickelte ich mich zum Klassenkasper, zum Rebellen. Entsprechend oft wurden meine Eltern heranzitiert, da meine Entwicklung zu einer vorbildlichen sozialistischen Persönlichkeit gefährdet sei.
Dass Vater sich dabei immer auf die Seite der Schule gestellt hat, ohne meine Sicht zu erfragen, hat mein Vertrauen zu ihm tief erschüttert. Wir sprachen schon damals kaum noch miteinander. Er verstand mich nicht, und ich konnte für ihn keine Achtung mehr aufbringen.
Das I-Tüpfelchen war meine Wehrdienstverweigerung im Jahre 1983, woraufhin er vom Polizeidienst suspendiert wurde.
Seine Vorgesetzten riefen ihn damals während meiner Musterung zu Rate. Er solle auf mich einwirken. Schließlich seien wir doch eine sozialistische Familie.
Und so tat er alles, um mich in einem zweistündigen Gespräch unter vier Augen, aber im Beisein eines Stasimannes, von meinem Weg abzubringen. Denn ihm hatte man unmittelbar zuvor ansonsten mit der „Entlassung in Unehren“ gedroht.
Er sah leider den einzigen Schuldigen an diesem Dilemma in mir, nicht in dem ungerechten und unrechtmäßigen System, dem ich mich entgegenstellte.
Wir schrieben letztendlich ein Papier, in dem wir uns voneinander lossagten. In diesem unsinnigen Text, einzig erdacht, um Vaters Haut zu retten, lösten wir unsere Familienbande. Er wollte nicht mehr mein Vater sein. Und ich stimmte zu.
Genützt hat ihm das Papier nichts. Aber den Graben zwischen uns hat es noch ein wenig mehr vertieft. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Polizeidienst bekam ich meine erste eigene Wohnung.
Damit, so glaubte ich, wäre das Problem gelöst.
Aber Sich-aus-dem-Weg-gehen löst eigentlich nichts.
Wir wechselten in den kommenden sechs Jahren, also bis zum Herbst 1989, kein direktes Wort mehr miteinander.
Nach der sogenannten Wende änderte sich unser Verhältnis äußerlich sehr.
Menschen wie ich waren plötzlich gesellschaftlich anerkannt, also konnte ich mich auch wieder öfter bei meinen Eltern sehen lassen. Nein, ich spürte sogar, dass auch Vater sich nun über meine Besuche freute. Er fragte nach meinen politischen Aktivitäten, er erkundigte sich nach meinen persönlichen Umständen, er war interessiert und oft voller herzlicher Freundlichkeit.
Und ich?
Ich traute dieser Wandlung nicht. Ich lächelte hölzern, gab kurze, höfliche Antworten und ließ mich allenfalls auf ein Romméspielchen oder eine Würfelrunde ein.
Ich wurde älter, und ab 1992 versuchte ich mich selbst in der Rolle als Familienvater. Einer, der alles besser machen wollte, aber auch bitter scheiterte.
Vater lud uns in jenen Jahren immer wieder ein, zu ihm in den Garten zu kommen, ihn in seiner Idylle zu besuchen und uns von seiner Ernte beschenken zu lassen.
Ich wurde nicht warm. Als seltene Pflichtbesuche möchte ich meine damalige Beziehung zu ihm beschreiben.
Diese Beziehung schien undurchdringlich von den langen Schatten der Vergangenheit verdunkelt.
Bis zum 24. Dezember vorigen Jahres.
Da erlebte ich ihn zum ersten mal bewusst als gezeichneten alten, kranken Mann. Sein Gang ins Krankenhaus beunruhigte mich, die kurz danach bekannt gewordene Diagnose und die folgenden Operationen taten auch mir weh.
Aber bei meinem ersten Krankenhausbesuch geschah eine wirkliche Wandlung.
Er erzählte von sich und ich lauschte.
Er war stolz auf sich.
So krank, wie er war, war er dennoch voller Begeisterung. Er erzählte mir, dass er mit dem Rauchen aufgehört habe. Und wie er es angestellt hat.
Und wie er mit dem Rauchen überhaupt erst angefangen hat, in der Jugend, wo fast alle irgendwann damit anfangen. Dass es bei der Armee natürlich ganz automatisch dazugehörte, und wie er sich nach dem Krieg mit seinem Bruder Richard aus Kippen selbst welche gedreht hat, und dass er es toll findet, dass ich nie damit angefangen habe, und wie dumm er doch war...
Meine Augen bohrten sich in ihn, ich hatte Angst, er könne aufhören zu erzählen. Aber ich konnte nur wenig entgegnen. Das war in dem Moment auch gar nicht nötig, aber es wäre der beste Moment für mich gewesen, endlich, ganz unmissverständlich für ihn, auf eine der Brücken zu treten, die er mir nun schon seit Jahren bewusst oder unbewusst gebaut hatte.
Er reichte mir bei jeder Begegnung zaghaft eine Hand zur Aussöhnung – aber ich wollte es nie wahrhaben. Ich ging jedes Mal wieder in meine Schatten gehüllt von ihm.
Und so habe ich die letzte Gelegenheit verpasst, ihm zu sagen, dass ich ihn trotz allem wieder liebgewonnen habe.
Nun ist er fort.
Vielleicht aber ist der Tod nicht Dunkelheit.
Vielleicht ist das Sterben endlich der Moment, in dem wir doch über unsere Schatten springen.
Wenn es so ist, liegt die Hoffnung nahe, dass unser Vater jetzt im Licht ist.
Ich wünsche es ihm.