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Grabwahlen
Es ist so heiß, dass die Schmetterlinge zu schwach sind, ihr eigenes Gewicht zu tragen. Dass Hunde unter der Last der Fliegen zusammenbrechen.
Ich lehne an einer Hauswand, damit sich die Kälte von meinen Nieren aus verbreiten kann, um meinen Körper mit Kühle zu verwöhnen.
Wenn ich meine Augen schließe sehe ich Punkte, irgendwo in der Dunkelheit. Als würden sie nicht zu mir gehören, pulsieren sie entgegen meines Herzschlages; üben ihren eigenen Takt aus, verursacht von Hitze und Kopfschmerzen.
»Willst du mir nicht helfen?«, ruft Einer. Bis zu den Hüften ist er bereits in den Keller durch das Fenster eingedrungen und es sieht aus, als würde er nun ganz verschluckt werden; jeder Widerstand seiner Arme ist zwecklos, er rutscht in den hungrigen Gaumen.
»Henry!«, schreit er und ich gehe zu ihm.
Die Mauer des Hauses ist rissig und spröde und der nasse Geruch, der aus dem Keller steigt, lässt mich vermuten, dass der Schimmel bereits wie Krebs wütet. Im Innern ist es dunkel; stockfinster; und der Gedanke an einen alles verschlingenden Mund breitet sich parasitär in meinem Gehirn aus.
Ich rutsche hinein.
»Wie lange wirds wohl noch dauern?«, stelle ich die unangenehme Frage.
Es ist schummrig und in den ersten Augenblicken bin ich so gut wie blind. Alles, was ich sehe, sind Silhouetten, die es mit den Schatten treiben.
»Allzu lange wohl nicht mehr«, sagt Einer; seinen richtigen Namen kenne ich bis heute nicht.
Mit dem Erweitern meiner Pupillen löst sich auch die Illusion eines Liebesaktes auf. Eine Silhouette gehört Einer, die kleinere dem Mann.
»Es stinkt wie eine dreckige Fotze«, sagt Einer, während er seinen Rundgang durch den Keller macht, der nur aus diesem großen sterbenden Raum besteht. »Merkt das denn keiner?«
»Bald wirds noch penetranter riechen«, sage ich ihm und kicke die Luft. Ich will eigentlich nie solange hier bleiben, bis sie verrecken. »Meinst du, die riechen das dann echt?«
»Weiß nicht«, sagt Einer und bleibt vor der Kellertür stehen. »Die ist abgeschlossen.«
»Wegen der Einbrecher.«
»Was?«
»Naja«, räuspere ich mich, der Geruch erzeugt in meinem Mund den Geschmack von Teichwasser, »meine Eltern sperren ihren Dachboden ab, damit jemand, der da einsteigen will, nicht weiter kommt.«
Er legt seine Stirn in Falten. »Wer sollte bei deinen Eltern schon einsteigen wollen?«
»Darum gehts doch gar nicht.«
»Sondern?«
Ich antworte nicht.
Einer tastet die Tür fachmännisch wie ein Arzt der nach einem Knoten sucht ab.
»Was machst du da?«
»Das Holz ist schon ganz morsch«, sagt er, während er Splitter aus der Tür wie Fussel von seiner Kleidung zupft.
»Das ist ne tickende Zeitbombe. Das Haus wird ihnen unterm Arsch zusammenbrechen.«
»Höchste Zeit, dass wir eingreifen«, sage ich.
Das Zimmer ist kahl, besteht nur aus Estrich und an Wände gedübelte Bretter, auf denen alte und staubige Erinnerungsstücke stehen, die nie Sammlerwert besessen und den sentimentalen längst verloren haben. Die Ballerina einer Spieluhr trägt einen Bart aus Spinnweben. Von Schönheit zur Vettel.
»Dem, der diesen Keller entworfen hat, würd ich eine reinhauen.«
Ich sehe mir weiter die kleinen Schätze an. Fast automatische rasiere ich die Ballerina.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht immer alles anfassen. Wegen der Fingerabdrücke und so.«
Schuldbewusst nehme ich meine Hände von dem Mädchen.
»Schon gut, okay.«
»Mmmmhhh«, höre ich und drehe mich zu dem Mann um.
»Unsere Schlafmütze ist aufgewacht. Na, Prinzessin?« Einer geht vor dem geknebelten Kerl auf die Knie und sieht ihn an, als würde er eine Prognose stellen wollen, »Wie gehts?«
»Mmmmhhh.« Jedes Wort wird durch den Knebel zu einem unverständlichen Stöhnen gefiltert. Mir wäre es lieber, er könnte nicht mehr sprechen. Dann wäre dieses Gefühl von morden nicht halb so intensiv. Schon seltsam, aber ich fühle mich noch immer unwohl dabei.
»Meinst du, er ist schon soweit?«
»Ich weiß nicht.« - »Mmmmhhh« - »Ich hoffe es. Ich mag diesen ganzen Blutscheiß nicht.«
Ich lasse mich sanft auf den Boden fallen und der Staub vollführt Pirouetten um meinen Hintern.
So kühl es auch in diesem Keller ist; ich würde die Hitze jedem Laut vorziehen, das der Kerl von sich gibt. Einen Finger ohne zu zögern als Pfand für ein paar Ohrstöpsel geben.
»Ich glaub irgendwie nicht, dass er jetzt schon draufgeht«, sage ich und berühre das Loch im Schädel des Mannes, das von einem Brecheisen herrührt. Beide zucken wir bei der Berührung zusammen.
»Scheiße«, sage ich und spreche damit aus, was wir alle drei denken. Sofern der Kerl noch denken kann; sein Gedächtnis erinnert sich vergeblich an seine Funktion, während es an irgendeinem Stück Metall klebt. Ich stehe auf, um es zu beenden.
»Willst du?«, frage ich Einer noch mal hoffnungsvoll.
»Ne, lass mal.«
»Mmmmhhh«
Ich bücke mich nach dem Golfschläger. »Machs schnell.«
Ich würde lieber die Tracht Prügel meines Lebens einstecken, als das hier zu tun.
»Stell dir einfach vor, dass er einen Golfball auf der Nase hat.«
»Ich kann aber nicht gut zielen.«
»Deshalb sollst du dir das ja vorstellen.«
Ich hole aus; der Schläger verweilt hinter meinem Rücken.
»Mach schon. Ich will hier raus.«
»Jedes Mal ich«, sage ich zu mir selbst.
Es fühlt sich nicht an wie Golf.
*
Gestern fanden sie eine Tote, irgendwo zwischen Kartoffelsäcken, in einem Haus, dessen Bewohner keine Ahnung haben, wie sie dort hingekommen ist.
Kein Einbruch war gemeldet worden.
Die Leiche verweste schon Tage vor sich hin; der Geruch machte auf sie aufmerksam. Erst die Gerichtsmediziner könnten etwas Genaueres sagen.
Die Hausbesitzer werden als Täter ausgeschlossen.
»Du sollst das nicht immer lesen«, sagt Einer, während er sich im Spiegel wie ein Zauberkünstler beobachtet, der prüft, ob auch keiner seiner Tricks durch einen vorstehenden Draht zerstört wird. »Sonst kriegst du noch ein schlechtes Gewissen.«
Wie lange muss ein Körper bereits tot sein, bis er anfängt richtig zu stinken?
»Das ist wie Salz in die Wunde streuen.«
»Ich hör ja schon auf«, sage ich und lese, dass es bereits die dritte Leiche in dieser Gegend ist, die auf dieselbe Weise gefunden wurde. Wir müssen bald wieder die Stadt wechseln. »Ich mach ja schon.«
Trotz größter Anstrengungen kann ich mich nicht daran erinnern, wann wir das Mädchen in das Haus geschleppt haben. Oder welches. Oder wohin.
Unser Auftrag schwemmt uns aus der Wohnung, auf die Straße, mal mehr, mal weniger zielstrebig auf eine Diskothek zu.
»Ganz schön voll hier«, nuschelt man zusammen mit einem »Rigo«.
»Scheiß Kinder«, kriegt man als Antwort, gemeinsam mit dem süßlichen Gebräu, das nur der Quantität halber angeboten wird.
Einer legt sich mit dem Oberkörper auf den winzigen Tisch. »Hm?«
»Was?«
»Wer?«
»Weiß ich doch jetzt noch nicht. Es ist erst halb elf.«
Wir stehen eine Stunde abwechselnd hier und auf dem Klo, bis wir unseren Auftrag wieder aufnehmen.
»Schau mal«, sagt Einer und nickt in die Richtung meiner rechten Schulter. »Ärger.«
Ich drehe mich so unauffällig um, wie es meine Bewegungsfreiheit zulässt. Ich sehe ein paar Jungs.
»Cool«, atme ich aus, als einer der Typen anfängt, einen anderen zu schubsen.
»Der hat ihn eine Schwuchtel genannt«, lacht Einer mir entgegen.
»Woher weißt?«
Schulterzucken. »Nur so ein Gefühl.«
Als das Geschubse sich in Prügel verwandelt, sieht sich einer der Bartender dazu gezwungen, einzugreifen und wirft die fünf raus. Wäre er nicht einen Kopf größer als alle anderen, hätte er es sich sicherlich noch mal überlegt.
Zu viert machen sie den Jungen fertig. Einer übernimmt die Leisten, der nächste den Oberkörper, einer püriert seine Nase. Und der letzte gibt überflüssige Anweisungen.
»Tritt dem Wichser in die Eier«, sagt er. Seine Lakaien würden auch von sich aus handeln. Sie haben sichtlich Spaß daran.
»Sollen wir was machen?«, frage ich Einer.
»Noch nicht.« Einer leckt sich über seine Zähne. »Der schreit noch.«
Wie er das allerdings schafft, weiß ich nicht. Es müsste anatomisch unmöglich sein, er ertrinkt fast in seinem Blut.
»Was sind das für Wichser?«, frage ich, entsetzt über das Blutbad, das allein sechs Fäuste anrichten können.
Einer lugt weiterhin um die Ecke, beobachtet die fünf in der Seitengasse voyeurgleich. Ich hoffe, dass er sich nicht wirklich daran aufgeilt.
Der Anführer lehnt an einem Müllcontainer, stöhnt weiterhin Anweisungen wie ein Pornoproduzent zwischen Zähnen hindurch, die auf einer Zigarette kauen.
»Komm schon«, sage ich, »die bringen ihn noch um.«
»Dann haben sie doch denselben Plan wie wir.«
»Mann, aber dann wärs umsonst.«
Einer sieht nicht mich an, sondern das B-Movie vor ihm. »Ja, schon.«
Als er noch immer keine Anstalten macht, schreie ich: »He! Ihr da!«
*
Mein Bruder erzählte mir seltsame Dinge, kurz bevor er starb.
»Henry«, sagte er, »meine Ohren bluten.« Er fummelte mit den Fingernägeln an seinen Ohrläppchen herum. »Henry, hol mir Ohrstöpsel bitte.«
Ich brachte ihm die kleinen gelben Pfropfen, die er in einem Spender, keine zwei Meter von seiner Couch entfernt, aufbewahrte.
»Deine Ohren sind normal. Nur ein bisschen rot, weil du immer dran rum fingerst.«
»Da ist Blut.«
»Nein.« Jeder andere hätte mich mit dieser Sturheit in den Wahnsinn getrieben. »Da ist gar nichts.«
»Doch«, sagte er, »du siehst es bloß nicht. Aber das ist nicht schlimm.«
»Wieso sollte da Blut sein, das ich nicht sehen kann?« Mein Bruder starrte weiter auf den Fernseher, der auf stumm gestellt war. Das tat er in letzter Zeit öfters.
»Weil du normal sterben wirst.«
Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Solche Antworten brachten mich immer aus dem Konzept.
»Und jetzt gib mir die Stöpsel.« Ich warf sie ihm zu. Er schob sie so zärtlich wie bei einer Entjungferung in die Ohren.
»Endlich Stille.«
*
»Ist er tot?«, frage ich Einer mit der Hoffnung auf ein Nein. Die Augen des Jungen werden von einer Decke aus Blut und Rotz bedeckt und alles, was ein Lebenszeichen sein könnte, sind die platzenden Blutblasen auf seinen Lippen.
»Ich glaube nicht.« Einer bückt sich wie ein Archäologe, der seinen Fund begutachten möchte und legt seine Hand auf den Hals des Toten; auch wenn diese Aussage im Moment vielleicht noch nicht zutreffend ist, in ein paar Stunden wird sie es sein.
»Und?« Die Hitze liegt schwerer auf uns als Stille und Dunkelheit zusammen. Schweiß bahnt sich einen Weg über meinem Rücken zu meinem Hintern.
»Der lebt noch.« Er wischt sich das ganze Blut geistesabwesend an den Hosenboden. »Die wollten ihn gar nicht umbringen.«
Die letzten zwanzig Minuten hätten meine unschuldige Jugend zerstört, wäre sie das nicht längst gewesen. Die vier Jungs schlugen das Opfer nicht nur, es fehlte nicht viel, dass es starb. Seine Kieferknochen haben sich der Form ihrer Fäuste angepasst.
»Hör auf damit«, sage ich zu Einer, als er an der gebrochenen Nase des Jungen herumdrückt wie an einem Schiebpuzzle. Es ist seltsam, aber Einer fasst niemals lebende Menschen an. Als ich ihn nach dem Grund fragte, antwortete er nur: »Ich will keine Beziehung zum nächsten Toten aufbauen. Es könnte schließlich jeden treffen.«
»Du musst ihm nicht noch mehr wehtun.«
»Das merkt er doch gar nicht.«
Nachdem Einer endlich damit aufhört hat, die neue Anordnung des Knochenbaus zu überprüfen, schleife ich das Opfer zu unserem Wagen. Zumindest tragen lässt er sich bereits wie eine Leiche.
Wir verstauen ihn im Fond und ich frage: »Denkst du, der wacht während der Fahrt auf? Oder verreckt er uns gleich hier? Der sieht echt nicht mehr gut aus.«
Wenn wir um Kurven fahren, quietscht er hinten. Seine Haut reibt an dem mit Frischhaltefolie überzogenen Rücksitz.
»Weiß nicht. Ich schätze aber, er hält solange durch.«
Wir fahren nicht länger als zwanzig Minuten durch die tote Nacht. Einer sagt nichts zu mir, bis auf den Weg, ich frage nichts.
Wir halten vor einem alten Haus, dessen Fassade sich vom Himmel nur als Schatten abhebt. Es steht auf einem winzigen Hügel. Im Mondlicht wirkt es beinahe anmutig.
»Wem gehört das Haus?«, frage ich Einer, während ich den noch immer ohnmächtigen Jungen aus dem Fond wie einen Mehlsack zerre. Und wie ein solcher schlägt er auf dem Boden auf.
»Ganz allein dir«, sagt er und grinst an. Ich grinse zurück.
*
Jedes anständige Gebäude braucht einen Geist. Das sagte mein Bruder Mike so oft, dass ich irgendwann selbst davon überzeugt war, es sogar für meine eigene Idee hielt. Ein Hausgeist verwandelt eine bröckelnde Fassade in ein Kunstwerk, wucherndes Unkraut in Wildheit. Rost ist nur eine versäumte Wartung, tote Ratten, die die Abflüsse verstopfen, nur ein Teil des Charmes.
Findest du einen Schädelknochen in deiner Abstellkammer, kannst du dich glücklich schätzen.
Früher, als Mord noch keine Gewissenfrage gewesen war, sondern eine des Glaubens, mauerte man Frauen, Dienstmädchen oder andere unwichtige Geschöpfe, in Kellern ein. Dämmte ihre Schreie mit einer fünfzig Zentimeter dicken Steinschicht, trank eine Tasse Tee und legte die Füße auf die Rücken dutzender Hermeline.
Eine Leiche ist ein Zeichen von Macht. Du hast den Tod im Haus, aber es selbst überlebt.
Es war ein Tag im Juli, doch nicht annähernd so heiß wie heute.
Wir, Mike und ich, standen vor dem alten Schwarzweißkino, dessen Besucherzahl nicht einmal der Retrokult in die Höhe pushen hatte können, und waren beeindruckt. Mike von dem für unsere Stadt majestätischen Gebäude, dessen braunrote Farbe einen rosa Ton im Sonnenuntergang angenommen hatte, ich von Mike.
Seine Augen waren von einer schwarzen Sonnenbrille ersetzt worden. Seine Ohren waren gestopft, ebenso seine Nasenlöcher, und er atmete rasselnd durch einen schmutzigen Mundschutz.
Die schwarzweißen Filmplakate klebten wie Pflaster über dem rissigen Putz. Neonlicht war von einer Zeitschaltuhr aktiviert worden und leuchtete jede noch so kleine Ritze aus.
»Welchen Film?«, fragte ich überflüssigerweise; Mike hörte mich nicht und war schon dabei, auf die Kasse zuzugehen.
Die Frau schien genau für dieses Gebäude ausgewählt worden zu sein: Ihre beste Zeit war vorüber. Das Haar trug sie zu einer altmodischen Frisur getürmt, in Locken, so unbeweglich wie in Granit gemeißelt. Der Mascara hatte ihre Wimpern zu langen Fächern verklebt, die sie erst bewegte, als Mike gegen die Scheibe klopfte.
»Ja?«
Mike konnte sie nicht gehört haben, reagierte aber auf die Bewegung der gummiähnlichen Lippen. »Psycho.«
Die verstaubte Madonna drehte sich um und hackte mit einer Hand auf die Tastatur ein. War sie von Mikes Aussehen erstaunt, ließ sie sich nichts anmerken. »Wo wollt ihr sitzen?«
Mike antwortete nicht, starrte der Frau nur auf die Wimpern. Ich stieß ihn meinen Ellbogen in die Seite. Als er mich ansah, formte ich mit den Lippen: Wo?
»In der Mitte.«
»Hm.« Die Frau blickte in den Bildschirm. »Sechste Reihe, Mitte. Nicht viel los, heute.«
Ich nickte. »Okay.«
»Kleiner«, sagte sie, als wir schon dabei waren, die ersten Stufen zu den Sälen hinaufzusteigen. »Der hat doch nichts Ansteckendes, oder? Falls ja, weiß ich nicht, ob ich ihn reinlassen darf.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber er hat Angst, sich etwas zu holen.«
Als sie mich weiterhin anstarrte, fuhr ich fort: »Bloß eine Macke. Die hat er schon immer.«
Durch den Schwarzweißfilm verwandelte sich das Publikum in ein Wachsfigurenkabinett. Das Mädchen neben mir verlor im farblosen Schatten seine Hässlichkeit und Mike seine Abnormalität.
»Ein schönes Gebäude«, sagte er.
Ich sah ihn an. Ohrstöpsel hatte er herausgezogen, seine Nase jedoch wurde weiterhin von Pfropfen ausgebeult, die einen nichtvorhandenen Geruch fern halten sollten. »Naja, ziemlich groß für ne Vorstadt.«
»Majestätisch.«
»Oder so.« Ich legte meine Beine auf die Lehne des Vordersitzes. »Die Farbe blättert überall ab.« Selbst im Innern löste sie sich wie abgestorbene Haut.
»Es ist alt und prachtvoll, es war vor dir da, es wird ...«
»... wird mich überleben. Ich weiß.«
Sein Lächeln war alles, was von seinem Gesicht zu sehen war. »Das ist schön.« Die sinnlosen Gespräche nahmen langsam überhand. Irgendwann musste ich etwas dagegen unternehmen.
»Wie viele Leute sind im Saal?«
»Hm. Neun.«
»Ohne uns?«
»Nein, mit.«
Er drehte seinen Kopf in meine Richtung. »Sich selbst darf man nie mitzählen, Henry. Das hab ich dir schon sooft gesagt.«
Zwischen einem schlecht synchronisierten Schrei und dem Lachen einiger Teenager, sagte Mike: »Ich möchte, dass du mir was holst, Bruder.
Ich möchte, dass du in den Supermarkt gehst.
Ich möchte ne Packung M&Ms.« Seine Stimmung verlor sich in einer gleich bleibenden Tonlange.
»Die gibts hier doch auch«, sagte ich, »am Kiosk.«
»Nein, ich will, dass du sie vom Supermarkt holst.«
»Das ist absolut dämlich.« Obwohl ich wusste, dass es sinnlos war, zu versuchen, ihn zu überzeugen. Eine weitere Macke. »Dann hol sie eben selbst.«
»Mir gehts nicht gut.« Das war eindeutig eine Lüge. »Übel und so.«
Ich rutschte genervt auf dem Stuhl herum. »Dann verpass ich alles.«
»Du weißt, wie es weiter geht.«
Dreißig Sekunden stand ich in der Schlange im Kino.
Dreißig Sekunden dauerte meine Rebellion an, dann zog ich den Schwanz ein, verließ das Cinematik und ging die paar Meter zum Supermarkt.
Fünf Minuten später stand ich wieder in einer Schlange, wippte ungeduldig auf meinen Fußballen und starrte auf die Uhr über einem Regal voller alter Zeitschriften. Sechzig Sekunden benötigte der Verkäufer im Rentenalter dazu, mir mein Wechselgeld auszuzählen; zehn ich, um den Laden zu verlassen.
Weitere sechzig beanspruchte mein Gehirn, um den Knall zu registrieren. Die Rauchwolke am Himmel sehen zu können. Zu merken, dass meine Beine nachgegeben und mich mit auf den Boden gerissen hatten, um eine meiner Hände in einen Haufen Glasscherben zu tauchen.
Und nach zwei Minuten stand ich auf, lief Richtung Kino und als ich es sah, war ich mir sicher, dass der Knall nichts Schlimmes zu bedeuten hatte.
So richtig wirkte alles jetzt.
*
»Wie kommen wir rein?«, frage ich Einer, während ich unseren Typen an den Beinen wie eine Rikscha hinter mir her ziehe. »Nicht durch ein Fenster, soviel steht fest.« Ich deute auf die von Efeu umschlungenen Gitterstäbe an den Fenstern im Erdgeschoss, die nicht nur abschrecken sollen, sondern tatsächlich hilfreich gegen Einbrecher sind, und lasse ein Bein des Kerls auf den Boden fallen. Der Eisenverschlag ist fingerdick.
»Keine Sorge«, atmet Einer aus, »da oben.«
Ich kann nichts besonderes entdecken. »Was denn?«
»Das Fenster ist offen. Und da ist kein Gitter.«
Die Frage, wie wir da hinauf kommen sollen, erübrigt sich, als Einer anfängt, sich abwechselnd an der Regenrinne und dem dicken Efeu hinauf zu ziehen.
»Ganz einfach, siehst du?« Er sieht aus wie ein Schimpanse auf Speed. Es dauert keine zwei Minuten und er hängt am Fensterbrett.
»Und jetzt?«, rufe ich so laut ich es wage nach oben.
»Warte doch mal!« Einer schiebt seinen Arm durch den Spalt zwischen Fenster und Rahmen und ich denke an eine mit Gift bestückte Rattenfalle.
»Pass auf!«, schreie ich nach oben, die geräuschtragende Nacht außer Acht lassend.
»Was ist denn?«
»Pass einfach auf!« Irgendeinen Grund muss es ja haben, dass dieses Fenster geöffnet ist.
*
Die Polizei stellte mir tausend Fragen, die ich nur einsilbig zu beantworten wusste. Angefangen von: »Wissen Sie, woher er den Sprengstoff hatte?« über »Hat Ihr Bruder des öfteren über den Tod gesprochen?« bis »Hatte Michael einen aktiven Umgang mit anderen Männern?«
»Nein. Ja. Was?« Ich konnte ihnen nicht sagen, weshalb er das Kino in die Luft gesprengt hatte, genauso wenig wie ich wusste, wieso er mich nicht mitgenommen hatte. Wenn er einen so großen Abgang geplant hatte, warum hatte er mich ausgeschlossen?
Einen Monat war ich der Mittelpunkt der Gesellschaft. Nur lausige dreißig Tage, bis alle, außer die gesprengten Mauern des Kinos, vergessen hatten, was passiert war.
Ich durchsuchte Mikes Sachen nach Marihuana, irgendwo hier musste es sein. In der Wohnung war es schließlich nicht gefunden worden; weder von mir noch von der Polizei.
Ein Freund oder Dealer von Mike hatte die Schachtel heute Morgen vor meine Tür gestellt, mit den Worten: »Mike sagte mir, ich soll dir das geben, wenn Gras über die ganze Scheiße gewachsen ist.«
Ich trug es in Mikes Wohnung, warf es auf Mikes Tisch und setzte mich auf Mikes Sofa. Eines von Mikes Sinatra Alben lief in dem CD-Player.
Noch immer hatte ich nichts von ihm weggeräumt; nicht, weil es mich schmerzte, sondern weil sonst nichts mehr hier wäre. Die komplette Wohnung, die ich mir nur noch einen Monat lang leisten konnte, war voll mit seinem Zeug. Manchmal hatte ich das Gefühl, überhaupt nichts zu besitzen. Wäre ich ein Einzelkind gewesen, wäre mir das Schicksal eines Rucksackdeutschen nicht erspart geblieben.
Ich fand das Tütchen unter einigen SM-Zeitschriften, deren Covermädchen mittlerweile schon die Fünfzigergrenze überschritten haben durften. Es enthielt nicht nur Marihuana.
Ich öffnete den Zettel vorsichtig, um nichts von dem Gras in der Wohnung zu verteilen, wo es schließlich niemandem nützte. Die Schrift war schwer zu lesen, die Zeilen waren ineinander verschoben; Mikes Zittern hatte zu dem Zeitpunkt des Schreibens bereits überhand genommen.
Wenn Richard auch nur annähernd so zuverlässig ist, wie ich glaube, wirst du ein paar Wochen nach meinem Tod das hier lesen.
Ich will dir eigentlich nur eines mitteilen: Die Zeit arbeitet gegen meinen Plan.
Du wirst Probleme damit haben, das hier zu lesen. Ich schreibe es mit verbundenen Augen. Frag nicht: Wieso? Du würdest es nicht verstehen.
Ich habe noch ungefähr drei Tage und acht Stunden zu leben; genau weiß ich es nicht, ich habe schon lange nicht mehr auf die Uhr gesehen.
Warum ich mich selbst mit in die Luft sprengen muss? Weil ich sonst nie damit aufhören würde. Es ist eine gute Arbeit, eine ehrliche Arbeit, aber nicht so. Samuel übertreibt es, er verfolgt vollkommen andere Absichten als ich.
Das Cinematik wird mein letztes großes Werk sein, danach ist Schluss. Und ist das nicht ein wirklich filmtauglicher Abgang? Der Held, vergraben unter altem Geröll, in die Unterwelt begleitet von einem dutzend nostalgischer Schweine und toter Schauspieler gebannt auf Zelluloid? Mir gefällt es, und ich weiß, dir würde es ebenso gefallen.
Allerdings, ich hätte mir mehr gewünscht, ein echtes Vermächtnis.
Was folgte, waren einige vollkommen unleserliche Zeilen, ein Gemisch aus Buchstaben und irgendeiner getrockneten Substanz, die aufgrund Mikes verbundener Augen keine Tränen sein konnten.
Es wird mir einfach zuviel. Ich denke, das beschreibt es am besten.
Aber Samuel ... ihm wird es nicht reichen. Du bist ein gewöhnlicher Mensch, Henry, das weiß ich. Ich hoffe nur, dass ihm das ebenso bewusst ist.
Die Bullen werden zu dir kommen, in Scharen, die Presse, sie alle werde ich in unser winziges Nest locken. Dafür entschuldige ich mich bei dir. Ich hoffe nur, dass sie dir tatsächlich nichts anhängen können.
Letzten Monat dachte ich noch, alles unter Kontrolle zu haben. Samuel einen Schritt voraus zu sein. Aber in dreißig Tagen kann so viel passieren.
Doch ich schweife ab.
Ich bin mir sicher, dass er das lesen wird; er verschwindet in letzter Zeit überhaupt nicht mehr. Aber das macht nichts. Soll er ruhig wissen, was ich denke.
Vor vier Wochen sagte er zu mir: Ich habe wieder eins gefunden. Es wartet seit achtundsechzig Jahren darauf, von uns deaktiviert zu werden.
Ich folgte ihm und das Gebäude ... es war wundervoll. Groß und mächtig, der Garten von Unkraut überwuchert, die Fenster beschlagen, rote Backsteine unter der Farbe zu sehen. Ein Prachtstück könnte man sagen. Ein Wunder, dass wir rechtzeitig kommen, dachte ich noch. Seit achtundsechzig Jahren aktiv, und noch immer keine Toten, keine Presse, keine mit Blut gestrichenen Wände.
Dass man niemandem vertrauen soll, weißt du ja. Ich dachte auch, es selbst zu wissen.
*
Einer stößt das Fenster auf und klettert elegant wie ein Zirkusartist ins Innere. Ich warte auf einen Schrei, der nicht kommt.
»Einer?«, rufe ich nach oben, mir plötzlich der Dunkelheit, der Stille, des Halbtoten hinter mir bewusst werdend. Ich drehe mich zu dem Jungen um, sehe in sein verunstaltetes Gesicht, das eher dem Innern einer vertrockneten Wassermelone denn menschlichen Zügen gleicht. So wie der aussieht, kann er sich glücklich schätzen zu verrecken. Kein Chirurg würde ihn wieder annähernd so hinkriegen, wie er vorher war.
»Ja?« Ich sehe, wie er aus dem Fenster lugt. »Was?«
»Wie kriegen wir unsere Prinzessin rauf?«
»Mit einem Seil.«
»Einem Seil?«, frage ich. »Wo krieg ich bitte ein Seil her?«
»Im Wagen.«
»Im Wagen?«
»Du hast es selbst hinein gelegt. Irgendwo im Kofferraum.«
»Willst du ihn alleine da hoch ziehen?« Ich spreche viel zu laut, glaube aber trotzdem, dass uns niemand hört.
»Nein. Bind ihn fest und kletter dann rauf.« Ich verknote das Seil erst um die Brust des Jungen, verweile dann kurz bei seinen Beinen, bis mir klar wird, dass es wohl egal ist, ob ich seine Eier quetsche.
»Fest?«
»Ich hoffe.«
Mit geschlossenen Augen und einem neuner Eisen wie ein Profi in meinem Gürtel, mache ich mich daran, die Fassade hinauf zu klettern.
*
Samuel sagte: Ist es nicht ein schönes Gebäude?
Wir standen in der Mitte des Dachbodens, als ich ihn fragte, wo das Opfer sei.
Er antwortete mir nicht.
Ich fragte ihn: Warst du heute schon mal hier?
Er antwortete mir nicht.
Weißt du, was ich dann getan habe? Nichts. Ich fragte ihn solange, wen wir heute einsperren würden, bis er mit dem Brecheisen auf mich losging. Er überraschte mich und traf mich am Hals. Das tat weh, kann ich dir sagen. Und so bescheuert es klingt: Mehr war ich innerlich verletzt als körperlich.
Es ist dein Haus!, schrie er immer wieder, während er mit dem Eisen auf mich eindrosch, als würde er Fleisch weich klopfen wollen. Anfangs konnte ich nichts tun, lag einfach nur da. Kannst du dir das vorstellen, Henry? Einfach nur dazuliegen und sich verprügeln zu lassen? Es ist mir noch immer peinlich.
Nachdem ich registriert hatte, dass Samuel wirklich vorhatte mich umzubringen, fing ich an, mich zu wehren. Ich schaffte es, ihm das Brecheisen aus den Händen zu reißen.
Was ich dann tat, kannst du dir sicher vorstellen.
Ich weiß nicht, ob er sich mit dir in Verbindung setzen wird. Oder ob er überhaupt kann. Aber wenn, dann vertrau ihm nicht.
Ich war einer der Auserwählten. Du nicht, Henry. Du stirbst wie ein normaler Mensch.
*
»Mein Gott!«, stoße ich aus. Es gilt der Erleichterung wieder festen Boden unter den Füßen zu haben genauso, wie dem Gestank von vergammelten Kartoffeln, der so penetrant ist, dass ich das Gefühl habe, ihn über mein Gesicht streicheln spüren zu können.
»So riechts in allen alten Häusern«, antwortet er mir, obwohl ich es besser weiß. Das ist kein gewöhnlicher Geruch von Alter: das hier ist Schimmel; ein verrecktes Tier, zum Sterben hinter eine Mauer gekrochen. Ich ziehe den Schläger aus meiner Hose und werfe ihn in eine Ecke.
»Wo sollen wir das Seil festmachen?«, frage ich Einer, die Kordel durch meine Finger wie Samt gleiten lassend.
»Wirfs da über den Querbalken.«
Wir benutzen nie Taschenlampen. Irgendwann gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, jede noch so kleine Flamme könnte unser Vorhaben verhindern.
Zwischen den Schlitzen meiner zusammengekniffenen Lider kann ich kaum etwas sehen. Meine komplette Konzentration richtet sich auf den Balken über mir und dem Fenstersims unter meinen Füßen, dessen Holz zehn Meter über nassem Rasen erschreckend knarrt. Diesmal ist es nicht nur ein Drahtseilakt des Versteckens.
Irgendwo poltert es, aber ich weiß nicht wo. »Hast du das gehört?«
»Nein.«
»Ist jemand im Haus?«
»Nein.«
»Aber ...«
»Mach einfach weiter.«
Wenn ich eins in all den Monaten gelernt habe, dann ist es, sich bei dem Job nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Ein offenes Fenster und zehn Meter Abstand zum Boden mache einem das nur wahnsinnig schwer.
Nach dem fünften Versuch, schaffe ich es endlich, das Seil über den Balken zu werfen.
Die zukünftige Leiche schwebt ungefähr auf der Hälfte zwischen Dachboden und Garten, als Einer durch die Tür zum Wohnraum geht. Ich hoffe zumindest, dass ich sie bereits soweit habe.
»Du solltest mir lieber helfen, anstatt zu schnüffeln«, sage ich und unterbreche mich zugunsten eines Ächzen, »das geht dich nichts an.« Ich bin dafür, beim nächsten Mal wieder ein Mädchen zu nehmen. Meine Hände sind so gefühllos wie Topflappen.
Ich höre Einer seufzen und ziehe weiter. Wenn es nicht unmöglich wäre, würde ich meinen, der Kerl hätte auf halbem Weg zugenommen.
»Scheiße, Mann«, sage ich, als Einer seinen Geräuschpegel weiter aufdreht. »Hilf mir mal.«
»Da bist du ja«, höre ich Einer.
»Jetzt mach schon.« Das Seil schneidet tief in meine Hände und jedes Mal, wenn ich ein weiteres Stück daran ziehe, höre ich ein saftiges Schmatzen und schiebe alle dadurch erzeugten Gedanken beiseite.
»Du siehst beschissen aus.« Ich ignoriere Einers Beleidigung, es gibt wichtigeres: Der Junge verkeilt sich gerade im Fenstersims.
Eine Wolke schiebt sich vor den ohnehin bereits kleinen Mond; in der Dunkelheit wird es schwer, überhaupt noch etwas zu erkennen. Und plötzlich ist es vollkommen still.
»Einer?« Ich lehne mich weit zurück, um den Jungen nicht fallen zu lassen. »Hey, Ma ...«
Das Seil rutscht mehrere Meter durch meine Hände, brennt sich tief in das Fleisch und lässt mich aufschreien.
Ich höre ein Geräusch, das erinnert mich an Schwarzweißwestern; daran, wie ein grauer Mehlsack geworfen wird. Ich höre ein Stöhnen, das zu entfernt klingt, um von mir stammen zu können. Ich sehe eine Schwärze, die man künstlich nie erzeugen könnte. Aber das ist nichts gegen das, was ich fühle. Ich sollte froh sein, nicht wie er zehn Meter tief gefallen zu sein. Ich sollte froh sein, mir nur die Kniescheiben geprellt, die Hände verletzt zu haben. Aber ich bin es nicht. Für mehr als einen Augenblick wünsche ich mir, auf dem Boden zu liegen, mit dem Jungen zu tauschen und dafür selig dem Tod entgegenzuschlummern. Aber das kann ich nicht.
Ich lasse mich umfallen und laut schlägt mein Kopf auf dem Boden auf.
Als dann irgendetwas auf meinen Kopf schlägt, merke ich gar nichts mehr.
Mir leuchtet jemand in die Augen und ich möchte sofort schreien: Aus! Weg damit! Sie werden uns noch sehen, du verdammter Vollidiot!
Dass ich es nicht tue, liegt vor allem daran, dass meine linke Gesichtshälfte eiskalt ist, fast taub, und mein Mund sich anfühlt, als würde er von Angelhaken in verschiedene Richtungen gezogen werden. Meine Lippen lassen sich nur schwer voneinander lösen und zwischen meinen Zähnen klebt Blut wie Brokkolireste. Ich schmecke und spüre es mit einer geschwollenen Zunge, die wie ein geschossenes Tier in meinem Mund liegt.
»Du bist ja noch immer nicht tot«, sagt jemand, mit einer Stimme, die mir entfernt bekannt vorkommt. Ich liege auf dem Rücken. Mein rechter Arm lässt sich nicht bewegen und nachdem ich mir sicher bin, dass er von einem Stiefel und nicht von Lähmung am Boden gehalten wird, schlägt mein Herz weiter.
»Ich hab ihn fallen lassen«, flüstere ich dem Licht zu. »Oh Gott, hoffentlich ist er nicht tot.« Wenn er tot ist, haben wir niemanden. Wenn er tot ist, wird dieses Haus weiter aktiv bleiben. Wenn er tot ist, hat es noch immer die Chance zu morden.
»Keine Sorge«, wird mir zugeflüstert, »es bleibt deaktiviert.«
Ich atme schwer; die Luft um mich herum ist voll vom Alter und drückt gegen meine Lungen und der Gestank gammeligen Gemüses kitzelt in meinem Hals.
Als das Licht plötzlich vollkommener Dunkelheit weicht und mein rechter Arm losgelassen wird, fange ich an, mich tatsächlich richtig unwohl zu fühlen. »Einer?«, rufe ich. »Was ist eigentlich los hier?«
Als Antwort bekomme ich ein Schleifen und ein Zischen. Als etwas auf dem Holzboden über meinem Kopf aufschlägt und ein Windhauch mein Haar aufbläst, lässt die Lähmung von mir ab und ich springe auf. Der Dachboden ist an diesem Ende zu niedrig und ich stoße mir den Kopf an einem Balken.
*
Ich saß auf der Parkbank gegenüber dem Wohnkomplex und blickte auf das Fenster, das ich für das meiner Wohnung hielt. Genau wusste ich es nicht. Das dritte oder vierte sollte es sein.
Heute musste ich raus. Musste mein ganzes Zeug packen und irgendwo einziehen, wo ich mir das Wohnen leisten konnte. Bei meinem Budget wäre das wohl eine Unterführung. Doch statt zu packen saß ich auf einer klebrigen Parkbank, deren Farbe unter einem Dutzend Kritzeleien nicht mehr zu erkennen war und las in Mikes Tagebuch. Nicht einmal einem Toten ließ ich seine Privatsphäre.
Ich konnte es kaum glauben: Einunddreißig Morde hatte Mike seinem Tagebuch gestanden. Zehn weitere Menschen waren im Kino umgekommen.
»Dein Bruder war ein großer Mann.« Ich hatte nicht gemerkt, dass sich jemand neben mich gesetzt hatte. »Ich denke oft an ihn.«
Der Mann neben mir war höchstens fünfundzwanzig. Über seine Oberlippe trug er einen raupenähnlichen Schnurrbart, dafür waren seine Augenbrauen zu umso winzigeren Strichen gezupft. Das Haar trug er streng zurückgekämmt. Auf seiner Nase hatte er Brillenabdrücke. Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, ob Mike vielleicht tatsächlich schwul gewesen war.
»Kannten Sie meinen Bruder?«
»Ja. Sehr gut sogar.« Er blickte auf das Wohnhaus vor uns und seufzte theatralisch. »Und unser nächstes Projekt wäre euer Haus gewesen.«
Zu der Zeit dachte ich noch, alles für Mike zu tun. So gut es ging seinen Platz einzunehmen.
*
Es ist schwer, Schlägen im Dunkeln auszuweichen. Auch wenn sich meine Pupillen bereits geweitet haben, sehe ich nur den Schemen meines Angreifers.
»Komm schon her«, glaube ich zu verstehen, kurz bevor wieder etwas auf den Boden kracht. »Mistkerl.«
Als ich mit dem Rücken gegen die Wand stoße, weiß ich, dass ich in der Falle sitze. »Scheiße, Mann, was ist los? Bist du vollkommen durchgeknallt?« Als Antwort bekomme ich ein Zischen, ein Krachen.
Endlich verschwindet die Wolke vor dem Mond und etwas Licht erhellt den Dachboden. Licht, auf das ich im Nachhinein hätte verzichten können.
»Einer?« Ich stelle die Frage nur, um sicher zu gehen: »Bist du das?«
»Wer sonst?«, sagt diese Stimme, die mehr einem Abflussgurgeln denn menschlichen Lauten gleicht und im leeren Dachgewölbe gottesähnlich hallt. Sie kommt aus einem Loch, eingerahmt von einem zahnfleischlosen Kieferknochen, der bei jedem Atemzug wie ein Pendel hin und her schwingt.
»Mein Gott.« Jedes einzelne Haar ist ihm ausgefallen, nur noch eine pergamentähnliche Hautschicht schützt den Schädel vor Staub und Luft. Auf seiner Nase hängt eine Brille; beide Gläser sind zerbrochen und in ihnen spiegeln sich seine Augen zu je einem Dutzend.
»Das war dein verdammter Bruder!« Ich weiß nicht, ob das Mondlicht ihn jetzt in seiner wahren Gestalt zeigt oder ob es ihm dieses Kostüm überhaupt anlegt.
»Was war mein Bruder?« Ich weiche einem weiteren Schlag aus, stolpere dabei über meine eigenen Füße und knalle auf den Boden.
»Hör auf zu kriechen! Bleib stehen!« Jedes Mal lässt er den Schläger auf den Boden knallen, inzwischen müsste er einer Gewächsstange gleichen.
»Moment«, sage ich, keuche fast, und halte Einer meine Hand entgegen. Er steht mit dem Schläger über seinem zerfallenen Kopf vor mir und starrt mich an. »Was ist los?«
Wieder lässt er den Golfschläger nieder krachen. Diesmal verfehlt er mich absichtlich.
»Mike hat mich verrecken lassen«, sagt dieses Ding, das einmal Einer war.
»Ich verstehe nicht ...«
»Er hat mich umgebracht. Vollkommen grundlos.«
Ich erinnere mich an Mikes Brief. Nicht direkt ein Abschiedsbrief, eher eine Vorwarnung. »Grundlos?« Meine Stimme klingt weniger aggressiv, als ich mir wünsche. »Vollkommen grundlos?«
Einer steht weiterhin bloß vor mir; der Mond erzeugt hinter seinem Kopf die Illusion eines Heiligenscheins.
»Es war sein Haus, nicht meins.«
»Weshalb?«, frage ich, während Einer sich mit dem Unterarm einen Hautlappen so einfach wie Schweiß von der Stirn wischt. Die Situation erfordert es, von mir ignoriert zu werden.
»Sieh es dir an!« Er macht eine weite Handbewegung. »Es ist er. Alles erinnert an Mike, nichts an mich. Es wäre das perfekte Grab für ihn geworden. Nicht das Cinematik.«
Er flüstert: »Das Cinematik hätte mir gehören sollen.«
Ist es Eifersucht, die Einer zu dem macht, was er ist?
»Gräber?«, frage ich ihn. Seine jetzigen Worte widersprechen sich mit seiner vorherigen Konfession. »Sind es für dich nichts als Gräber?« Das schwammige Fleisch seiner Stirn bewegt sich; längst geronnenes Blut staubt wie alter Putz von einer Fassade. Sein geplantes Stirnrunzeln ist keine Mimik, nur der Versuch von etwas nicht menschlichem, menschlich zu wirken.
»Im Grunde«, beginnt Einer, »sind die Häuser nichts anderes.«
Während ich aufstehe beobachtet er mich weiter mit seinen Facettenaugen. »Anhand welcher Kriterien wählst du die Opfer aus, Einer?«
»Was meinst du?«
»Hast du sie alle gekannt?« Ich spucke einmal demonstrativ aus; einen Klumpen aus Rotz und Blut. »Wenn es Gräber sind, musst du auch die Menschen ausgewählt haben.«
»Glaub mir, ich habe immer die richtige Wahl getroffen.« Er atmet schwer.
»Was ist mit ihm? Dem Kerl draußen? Warum wolltest du ihn für dieses Haus?« Ich denke an den armen Jungen, dem nur ein falscher Blick genügt hatte ihm alle Knochen zu brechen.
»Ich wollte ihn gar nicht für dieses Haus. Er war nur so etwas wie das Gift in einer Rattenfalle.«
Ich wusste es.
»Zuerst wollte ich Mike, jetzt will ich dich.«
»Wieso erst jetzt? Warum habe ich so viele Menschen töten müssen?«
»Du musstest dich erst als würdig erweisen.«
»Was?«
»Was glaubst du denn?«, und er kommt mir mit jedem Wort etwas näher, »Denkst du, ich würde mich durch irgendeinen dahergelaufenen Spinner ersetzen lassen?«
Erneut holt er mit dem Schlageisen aus, doch statt mich zu ducken, wehre ich ihn mit meinem linken Unterarm ab. Es fühlt sich an, als wolle ich einen Güterzug mit einem Gartenzaun stoppen. Ich weiß nicht, ob ich erst schreie und dann falle, oder umgekehrt.
»Du bleibst hier, am Arsch der Welt, Henry. Und ich verschwinde.«
Bevor er den vermutlich letzten Schlag auf meinen Schädel nieder krachen lassen kann, trete ich ihm zwischen die Beine. Der verzweifelte Gedanke, dass alles, was sich dort befindet, geleeartiges taubes Gewebe ist, nistet in meinem Hinterkopf solange, bis ich den gutturalen Schrei Einers höre, der klingt, als würde man einem Storch den Hals umdrehen. Ob die Effizienz meines Schlages in meiner Kraft oder der Tatsache liegt, dass Einers Fleisch sich so leicht wie das eines gebratenen Hünchens von den Knochen schälen lässt, weiß ich nicht und ist mir ebenso egal.
Mit zermatschtem Unterarm, Bleigeschmack im Mund und der Freiheit in den Augen, laufe ich auf das Fenster zu. Mit einer Hand hangele ich mich halb hinunter, halb lasse ich mich fallen. Mein Blick ist auf das Gewächs vor mir gerichtet, das die braune, verdreckte Fassade vor dem bloßen Auge schützen soll. Aus der Nähe sieht es aus, als wäre das Haus mit Dreck überzogen: Eine Mischung aus getrocknetem Blut und Morast, der aus den Ecken dutzender Tierkäfige gekratzt wurde.
Wie lange es dauert, bis meine Beine festen Boden berühren, kann ich nicht sagen. Nur eines weiß ich: Dass ich noch nie so froh gewesen bin, meine Füße vom Tau des Grases durchweichen zu lassen.
*
Vor kurzem las ich Zeitung. Mal wieder. Ein Mann mit dreiundfünfzig Jahren tötete seine Frau und seine beiden Kindern, die die Jahreszeit zu einer vorweihnachtlichen Feier zusammen gebracht hatte.
Sie wurden am Esstisch umgebracht, ihre Teller halb mit Suppe, halb mit Blut gefüllt. Der Mann verwendete ein Jagdgewehr, mit dem das letzte Mal vor fünf Jahren Wild geschossen worden war. Aber ob diese Beute auch als Jagdtrophäe gedacht war, weiß keiner.
Auch wenn die Presse den Fund verschwieg: Es war Einers Haus. Er war mir gefolgt, hatte sich aus dem Fenster gestürzt, war mir wenige Meter als ein Haufen verwesten menschlichen Fleisches nachgerobbt.
Sie konnten mir nur zwölf Morde anhängen. Bei den anderen neunundzwanzig genügten die Beweise nicht. Aber ein Dutzend ist ja eigentlich auch genug.
Der Typ unter mir wichst. Dass er unter mir ist, ist ein Segen. Andernfalls würde ich nur die sich in Ekstase biegenden Federn in meinem Blickfeld haben; würde ungewollt in seinen Liebesakt miteinbezogen werden.
Ich kann kaum schlafen, schon seit einer Weile nicht. Der Mond ist von einem Gefängnis aus enorm groß, gibt der Nacht wenn man eingesperrt ist das Licht, das man sich ansonsten in mondloser Dunkelheit wünscht. Der Mond hat schließlich seine Freiheit, ich habe sie nicht.
Während dieser Stunden, zwischen dem Wichsen und der Morgendämmerung, denke ich oft an Mike. An seine Worte: Du wirst als normaler Mensch sterben.
Sei dir da mal nicht so sicher. Ich glaube, mein Bruder, Samuel steht auf meinem Konto. Ich habe dich um einen geschlagen.
Und, wie du schon als Kind zu mir sagtest: Sich selbst darf man nicht mitzählen.
© Tamira Samir