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Grautöne
Gedankenverloren starrte ich auf die Wiese vor mir. Sie war platt getreten, nicht genügend gepflegt worden. Es hatte den Anschein, dass sie bereits den jungen Strahlen der Aprilsonne nicht standhalten und viel zu früh austrocknen würde. Und das, ehe die schönste Zeit des Jahres überhaupt erst richtig begonnen hatte. Eigentlich schade.
Ich saß schon eine lange Zeit dort, die Sonne war fortwährend über meinen Körper gewandert. Wärmte mir am morgen den steifen Rücken, taute mich stetig auf, bis ich zur Mittagszeit sogar den Pullover ausziehen konnte. Meine schwarzen Haare begannen beinahe zu glühen, so warm war es. Mein Magen knurrte. Ich hatte seit gestern mittag nichts mehr zu mir genommen und die Hitze verstärkte mein Verlangen etwas trinken zu wollen. Doch ich blieb dort sitzen, betrachtete lieber die Wiese und wunderte mich über ihr Schicksal. Und obwohl es mich traurig machte, verharrte ich weiter bewegungslos an diesem Ort. Hin und wieder kam jemand vorbei. Doch niemand grüßte. Und ich war froh darum. Froh, dass ich einfach nur vor mich hin starren konnte, ohne jemandem Rede und Antwort schuldig zu sein, ohne mich verstellen zu müssen. Mich meiner Trauer einfach hingeben konnte. Das war schön. Beruhigend.
Ich hatte noch immer meinen Blick starr auf die weite Grünfläche gehäftet, als plötzlich ein kleines Mädchen fröhlich lachend auf mich zu gerannt kam. Doch erst als es sich munter neben mir niedergelassen hatte, wendete ich mich ihm zu.
„Warum starrst du denn so auf die Wiese?“ platze es aus der Kleinen heraus, ohne auch nur für einen Moment stillhalten zu können. Sie wiegte ihren Oberkörper vor und zurück, während sich ihre Hände zwischen die Sitzbalken klemmten und ihre Füße wild hin und her baumelten.
Ich schaute sie etwas entgeistert an, wollte etwas sagen. Öffnete also den Mund und schloß ihn schließlich wieder. Mir fiel nichts passendes ein.
Das Mädchen legte seine Stirn in Falten. „Du bist ja komisch!“ rief es und schüttelte entrüstet den Kopf, so dass die blonden Locken aufgeregt herum wirbelten. „Warum sagst du nichts?“ wollte es dann wissen und schaute mich mit großen fragenden Augen an.
Ich schaute zurück. Wußte immer noch nicht so recht, was ich sagen sollte.
Die Kleine seufzte. Legte ihren Kopf schief, um ihn dann erneut zu schütteln. „Es ist so ein schöner Tag! Ich würde nicht so langweilig da herum sitzen wollen.“ Sagte sie plötzlich und verzog ihre Mundwinkel nach unten. „Ist doch voll öde!“
Ich schnappte nach Luft. Öde? Wieder öffnete ich den Mund. Und wieder blieben mir die Worte im Halse stecken, woraufhin das Mädchen frech lachte. „Achso!“ ein breites Grinsen breitete sich aus. „Du bist taub! Oder kannst nicht sprechen oder so.“ Es schlug mit der Hand gegen die Stirn. „Das ich da nicht gleich drauf gekommen bin!“ Es lachte noch einen Moment, ehe es etwas ruhiger wurde und nachzudenken schien. „Ich hab’s!“ rief es dann und packte meine Hand. „Komm schon! Ich zeig dir was!“ Und schon war es aufgesprungen und ich musste ihm widerwillig folgen. Ich wollte gerade das Mißverständnis aufklären, als die Kleine abrupt anhielt und sich über etwas bückte. Und ehe ich verstand, hielt sie mir ein Gänseblümchen mit ausgestreckter Hand entgegen. „Da! Für dich. Vielleicht lachst du dann ja wieder!“ sagte sie strahlend und blickte mich fröhlich an.
Gerührt über dieses Geschenk lächelte ich zurück.
„Siehste!“
Ich schloß die Augen und roch an der kleinen Blüte. Als sich meine Lider wieder öffneten, blickten mich zwei glückliche Augen an.
„Simone!“ hörte ich eine Frauenstimme rufen. Der Kopf des Mädchens schnellte zurück. „Oh!“ rief es erschrocken. „Ich muss zurück. Mama und Papa machen sich bestimmt schon Sorgen. Also dann, stumme Frau.“ Das Mädchen bückte sich, pflückte noch zwei weitere Gänseblümchen und rannte dann eilig davon. Es schaute noch einmal zurück, hob die Hand und rief „Auf Wiedersehen.“
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen hob auch ich meinen Arm zum Gruß. „Tschüss.“ Flüsterte ich, blickte ihr noch hinterher, bis sie hinter einer Baumallee verschwunden war und kehrte dann zurück zu meiner Bank. Eine alter Mann hatte sich dort niedergelassen und stützte seine Hände auf einem hölzernen Gehstock ab. Sein Blick verfolgte mich und er rutschte aufmerksam zur Seite, damit auch ich mich setzen konnte.
„Guten Tag, mein Fräulein.“ Sagte er mit krächzender Stimme und schaute mich freundlich an. Seine wässerigen Augen tränten ein wenig und er strich immer wieder mit einer Handfläche über sie. Ich erwiderte den Gruß.
„Doch nicht stumm, hm?“ er lachte und ich fühlte mich irgendwie ertappt. Er hatte wohl die ganz Szenerie verfolgt. Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Nee, eigentlich nicht.“
Der alte Mann nickte, schien befriedigt und wandte sein Gesicht der Wiese zu. „Schön, nicht?“
Ich folgte fragend seinem Blick. Ach ja, die Wiese! „Ja.“ Einen Moment verweilten wir so. Hörten nur die Vögel zwitschern.
„Ich habe lange gebraucht, um solch Dinge wieder schätzen zu können.“ begann er dann unvermittelt und schüttelte ungläubig seinen Kopf. Ich sah ihn verstohlen von der Seite an. War mir nicht sicher, ob dieser Satz mir galt. Doch er sprach bereits weiter.
„Man verliert Dinge viel zu schnell aus den Augen. Sie passieren, aber man nimmt sie nicht wahr. Schöne Dinge, die ohne Zweifel Aufmerksamkeit verlangen. Aber man scheint das Gespür dafür verloren zu haben. Erkennt nur noch Grautöne. Nicht frohes, farbiges mehr. Und wenn dann doch etwas so nah an einen herantritt, dass man die Augen davor nicht verschließen kann, da hat man bereits vergessen, wie die Farbe rot aussieht, weiß es einfach nicht mehr und versucht daher sie zu ignorieren.“ Er schüttelte erneut den Kopf. Diesmal traurig. Und die Träne, die sich aus seinem Augenwinkel löste, schien ihren Grund zu haben. Ich schaute verloren und hilflos zu diesem alten Mann, der eben noch so glücklich gewirkt hatte. Als er meinen Blick spürte, wischte er sich schnell die Träne fort und sah mir direkt ins Gesicht.
„Kind, vergeude deine Zeit nicht mit Trauer. Lerne wieder zu genießen.“
Erschrocken riß ich die Augen auf. Woher wußte er?
„Wenn man einmal diesen Ort der Trauer betreten hat, dann erkennt man ihn. Auch wenn er sich bloß im Auge des anderen widerspiegelt.“ sagte er leise und schaute wieder hinüber zur Wiese. „Glaub mir, mein Kind, Dunkelheit ist auch nur eine weitere Seite. Sie gehört dazu. Genau wie die Luft, die wir atmen, der Regen, der die Natur nährt und die Sonne, die uns allen das Leben schenkt.“ Ganz vorsichtig zeichnete sich ein Lächeln auf seinen Lippen ab. „Du mußt sie nur akzeptieren, als ein Teil von dir.“ Dann schwieg er und schien in Gedanken versunken. Auch ich sagte nichts, dachte über seine Worte nach. Vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht gehörte der Schmerz tatsächlich dazu.
Plötzlich lachte er schallend auf. „Sie suchte immer ihre Brille! Schon damals, als ich sie kennenlernte. Jeden Tag!“ Er schüttelte sich, noch immer lachend. „Und immer war sie auf ihrer Nase. Sie konnte sich nie daran gewöhnen...“ Dann verstummte er. Und blickte selig vor sich hin. Hin und wieder lachte er noch einmal leise auf und nickte dabei.
Ich beobachtete ihn verstohlen. Nach einer Weile endlich erhob er sich mühsam, stütze sich auf seinen Stock und blickte zu mir hinab.
„Mein Fräulein“, sagte er und nickte mir aufmerksam zu. „Es war mir eine Ehre.“
Ich schaute ihn an. Wußte nicht so recht, was ich darauf antworten sollte und wünschte ihm schließlich einen schönen Tag. Er lächelte zurück und trottete dann gemächlich davon. Ein Windhauch begleitete ihn und die jungen Blätter der Bäume raschelten sanft.
Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Vielleicht hatte er Recht. Wer weiss.
Kurze Zeit später kam schließlich eine junge Frau. Ich schätzte sie auf Mitte 20. Sie hatte lange, feurig rote Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte und eine große Mappe in ihrer rechten und einen kleinen Hocker in ihrer klinken Hand. Sie lief auf der Wiese auf und ab, bis sie schließlich gefunden haben zu schien, was sie suchte. Dort faltete sie den vermeintlichen Hocker zu einem Holzgestell aus und zog eine Leinwand aus ihrer Mappe hervor. Sorgfältig mischte sie sich einige Farbe auf ihrer runden Palette zusammen, und begann dann schließlich wild drauf los zu malen. Sie stand glücklicherweise in einem vorzüglichen Winkel zu mir, so dass ich ihr ohne Mühe zusehen konnte. Und so beobachtete ich sie und die Entstehung ihres Bildes. Eine Ewigkeit. Großzügig schwang sie mit dem Pinsel auf der weißen Fläche herum, scheute nicht mit den Farben. Ihr Gesicht war in Falten gelegt, sie war sichtlich angespannt. Aber es machte ihr Spass, dass war nicht zu übersehen. Und so malte und malte sie. Bis sich die Sonne immer weiter dem Horizont näherte. Und erst als ihr rundes Gesicht schon hinter den Wäldern halb verschwunden war, und sich einige fertige Bilder auf der Wiese angesammelt hatten, packte die Frau ihr Zeug zusammen und verschwand so unauffällig wie sie gekommen war.
Nur ich blieb dort sitzen. Blieb sitzen und dachte nach. Über die Geschehnisse der letzten zwölf Monate. Über die Trauer, die seither Besitz von mir ergriffen hatte. Gut konnte ich mich noch an den Augenblick erinnern, in dem er sich das erste Mal über diese Kopfschmerzen beschwert hatte. Damals, an diesem Abend, an dem meine Mutter Geburtstag feierte. Konnte mich daran erinnern, dass ich lachte, als er mir davon erzählte. Lachte, weil ich glaubte, er suchte nach einer Ausrede. Und doch, nach jenem Abend, da kamen sie immer wieder, seine Kopfschmerzen. Ich weiss noch, wie er anfangs darüber scherzte. Wie er versuchte seine Schmerzen mit einem Grinsen zu übergehen. Doch irgendwann gelang es ihm nicht mehr. Und dann, dann kam die Diagnose: Mein Mann hatte Krebs.
Nun saß ich dort. Alleine. War alleine auf dieser Welt. Dieser dunklen, grauen Welt. Meine Augen schweiften über den Horizont. Plötzlich hörte ich die Worte des Alten wieder, seinen Zuspruch, sah seine Augen ganz deutlich vor mir, erkannte die Liebe in seiner Stimme. Ich dachte an das kleine Mädchen, an ihre kindliche Freude an allem, ihren Tatendrang, an ihre Energie. Und dann die rothaarige Frau, die genauso feurig wie ihre Haare an diesen Bildern gearbeitet hatte. Stundenlang. Solange es ihr das Licht der Sonne gewährte. Darüber dachte ich nach. Und auf einmal schien alles gar nicht mehr so grau. Ich hatte noch immer meine Familie, hatte noch immer meine Freunde. Meine Pläne. Meinen Willen. Und so stand ich auf. Meine kalten Glieder ganz steif vom Sitzen.
Lange hatte ich hier verweilt. Jetzt mußte ich los. Es gab noch eine Menge zu tun! Und so lief ich im Licht der roten Abendsonne friedlich nach Hause. Lächelnd.