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Grauzone
Für Felsenkatze
Wir kommen fast zu spät zum Open-Air.
Bei Morgennebel sind wir losgefahren und hatten halb Deutschland zu durchqueren.
Die Autobahn kurz vor dem Ziel war dicht, es war ein Gezuckel im Schritttempo. Schon über mehrere Kilometer konnte der alte Simca mit einem beheizten Backofen konkurrieren. Kein Fahrtwind zog durch und unser Haar blieb schweißgegelt am Kopf kleben.
Die ausgelassene Stimmung von Chris, Michi und mir wurde mit jedem weiteren quälenden Meter so auf dem Asphalt zerschlagen wie die Proviantschokolade auf dem Amaturenbrett zerlief.
„Ist ja bisher nur die Vorgruppe, die wir verpassen“, versuchte Michi uns zu trösten.
„Grauzone spielt in einer Dreiviertelstunde“, murrte ich, „wenn ich die verpasse, ist das ganze Konzert fürn Arsch.“
„Die drei folgenden Bands sind mindestens genauso gut, sei mal nicht so genervt“, sagte Chris, „komm’, ich spendier dir zum Trost meinen letzten Becher Himbeergrütze, ist sogar Vanillesoße drauf.“
„Die kannste selber essen. Grütze aus dem Becher: Never.“
Ich dachte an die Überredungskünste, die ich aufwenden musste, um überhaupt mitfahren zu können.
„Immer bist du mit viel Älteren zusammen, mach doch mal was mit deinen Schulkameraden“, hörte ich von meiner Mutter, wenn ich von Chris und Michi erzählte.
„Wollt ihr wirklich auch noch zelten? Bei den Temperaturen erkältet ihr euch doch alle“, kam nach längerem Hin und Her ihr Kommentar. Mein Herz machte bei diesem Satz einen Hüpfer. Wenn sie sich mit der Thematik schon soweit befasste, war das Ja in Sicht.
Nun flüchten wir wie die Nachhut einer Herde Rinder durch diese Eisengestelle, um endlich auf das Open-Air-Gelände zu kommen. Bullige Security versperrt uns am Ende des Trichters den Weg.
„Ich will deinen auch“, zeigt ein sonnenbrillentragender Muskelprotz auf meinen Rücken. Wieso kaut der nicht auch noch Kaugummi, geht mir durch den Kopf, während er meinen Rucksack auf der Suche nach Glasflaschen und harten Gegenständen durchwühlt und dabei mein Bikinioberteil auf den Boden fallen lässt.
„Treffpunkt da vorne bei dem indischen Verkaufsstand, falls wir uns verlieren. Sagen wir um Mitternacht?“, schlägt Michi vor.
Jeder zieht sofort in eine andere Richtung, Chris zu einem Dixie, Michi holt sich ein Bier und ich will so schnell wie möglich nahe an die Bühne.
Vor, ganz vorne sein, mich hineinziehen lassen in die Woge, wenn Stephan und Martin lossingen.
Ich will mit den anderen mittendrin fühlen und mit leichtem Herzen lachen und singen und abheben vor Glück, weil ich dabeisein kann, ganz nah, die Bässe meine Magenwände zusammendrücken und ich nichts anderes mehr spüre als Musik und abgefahrene Stimmung.
„Mann, pass doch auf“, kommt es giftig von einer hennagefärbten Rastalockenfrau, die ich mit meinem Rucksack streife. Mein Sorry will sie nicht hören.
Trotz unwirscher Blicken drücke ich mich zwischen den anderen immer weiter vor. Die Hitze treibt viele dazu, sich gegen die stechende Sonne etwas einfallen zu lassen. Selbstgebastelte Zeitungshütchen halten genauso her wie nasse T-Shirts, die in Turbanwickeltechnik um den Kopf geschlungen werden. Überall ziehen Shitwolken in meine Nase.
Von hinten werde ich mit voller Wucht angerempelt. Idiot, denke ich, wanke schwer und umgreife spontan zwei Oberarme, die zu einem Rücken gehören. Aber auch zwei Körper können dieser Wucht nicht standhalten und wir stürzen auf die Wiese. Ein stechender Schmerz läßt mich aufheulen.
Der Oberkörper wird zum ganzen Menschen, der sich aufrappelt und mich besorgt ansieht.
„Alles klar bei dir?“, fragt er mit Blick auf meine Beine.
„Mein Knie“, sage ich flach liegend und mir wird vom Schmerz schwindelig, „ich muss erstmal liegenbleiben, mir wird sonst schlecht.“
„Soll ich einen Sani holen?“
„Nein, das wird schon, aber vielleicht kannst du mir nachher aus dem Gewühl helfen?“
Er setzt sich neben mich und versucht, das Gedränge um uns in Schach zu halten.
„Das ist hier zu gefährlich“, überlegt er, „wir müssen hier weg, bevor die dich zusammentrampeln, wenn die Band jetzt gleich zu spielen anfängt. Ich stütz’ dich, vielleicht geht das“, schlägt er vor.
Ich lege einen Arm um seine Schultern und er führt mich langsam aus dem Menschenpulk. So wohl fühle ich mich bei ihm, obwohl ich ihn nicht kenne. Das Knie fängt immer mehr an zu schmerzen. Tränen treiben in dem Moment aus meinen Augen, als es laut wird im Stadion; Freudenrufe, Kreischen und die ersten Synthesizertöne füllen den ganzen Platz.
Eisbär, Eisbär, kaltes Eis, kaltes Eis, Eisbär, Eisbär, kaltes Eis, kaltes Eis. Ich möchte ein Eisbär sein im kalten Polar, dann müßte ich nicht mehr schrei'n, alles wär so klar... Eisbären müssen nie weinen.
Wir singen laut mit und schauen uns dabei lächelnd an, nur kurz, aber mich trifft dieser Blick zeitlos bis ins Innerste. Die Schmerztränen mischen sich mit Freudentränen, ich bin nicht nicht ganz vorne, nicht unter allen den kreischenden Fans, ich sitze nun am Rand der angeheizten Masse.
Er singt leise Eisbären müssen und küßt mir links eine Träne von der Wange, und mit nie weinen finden seine Lippen auch auf der rechten Wangenseite eine Träne zum Auffangen.
Mein Herz lacht und mittendrin in mir macht sich ein Gefühl breit, was noch viel schöner zu werden scheint als nur eine abgefahrene Konzertstimmung.
Wörterbörse: Himbeergrütze Morgennebel Eisbär lachen erkältet