Greenoak Hills
Greenoak Hills
© 2004 by Shade
Den ganzen Abend hatte es bereits geregnet und als wir zu ihr fuhren. Dunst und Nebel hingen zwischen den Bäumen. Die alte Straße mit den vielen Schlaglöchern hatte sich in einen flachen Bach verwandelt. Äste und Blätter schwammen dahin im Scheinwerferlicht meines alten Jeeps. Es war wieder einer dieser Momente, an denen ich mich beglückwünschte dieses Gefährt zu besitzen. Wir waren unzertrennlich schon seit meiner Dienstzeit. Auch wenn der Sitzkomfort zu wünschen übrig ließ, so hat er mich doch noch niemals im Stich gelassen. Meine Begleiterin schien es gar nicht zu bemerken, daß wir bei jedem Schlagloch ordentlich durchgeschüttelt wurden. Sie saß in ihrem dünnen Baumwollkleid neben mir und musterte mich mit ihren hellen Augen.
Wir hatten uns erst vor ein paar Stunden in der Bar an der Kreuzung zur Bundesstraße kennengelernt. Ich war eigentlich nur auf der Durchreise nach zu meiner Schwester. Sie hatte mich vor ein paar Tagen daran erinnert, daß ich sie besuchen wollte. Ich hatte es aber nicht allzu eilig. Einer dieser Pflichtbesuche, die ich schon seit Monaten vor mir herschob. Also hielt ich bei jeder Gelegenheit und vertrieb mir die Zeit nur um nicht anzukommen.
Ich hatte schon ein paar Bier getrunken, als sie eintrat. Was für eine Frau – na, sie wissen schon, eben so eine, bei der alle gleich aufschauen. Sie sah gut aus, ungefähr 25 und hatte ihr langes braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Baumwollkleid war kurz und betonte den schlanken Körper und die langen Beine. Sie war allein. Männliche Blicke huschten umher. Keiner begrüßte sie. Von irgendwo kam einer dieser Pfiffe, die man hübschen Mädchen nachpfeift. Als sie an einem Tisch vorbeiging, fiel ein Arbeiter vom Stuhl. Er hatte sich weit vorgebeut, um ihr in den Ausschnitt zu gaffen. Im letzten Moment hatte Carol, wie sie sich mir später vorstellte, ihn aufgefangen. Die ganze Bar hatte daraufhin gelacht. Es hat auch zu komisch ausgesehen, wie ein 130 Kilo Mann von einer schlanken Frau aufgefangen wird.
Sie setzte sich an die Bar und bestellt einen doppelten Scotch, den sie in einem Zug trank. Mein Aufhänger! Die abgedroschene Masche mit den schottische Vorfahren. Ich lud sie zu einem weiteren Drink ein. Für einen Moment blickte sie mir direkt in die Augen. Ihre waren von tiefem Grün und groß. Dann fuhr ihr Blick an mir abschätzend hinunter. So was macht ein braves Mädchen nicht. Irgendwie irritierte mich ihr Verhalten. Sie nahm den Drink an. Ich nutzte die Gelegenheit und setzte mich neben sie.
Wir kamen ins Gespräch und redeten über dies uns das, an was genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Im Laufe des Abends stellte Carol einen Haufen von Fragen. Ich redete und redete, erzählte ihr alles von mir. Als sich die Kneipe leerte, rückten sie näher. Dann erzählte sie mir, daß sie alleine wohne, weil ihre Eltern tot seien, und daß sie noch eine Mitfahrgelegenheit nach Greenoak Hills suchte. Verdammt, diese Augen, in denen brannte ein Verlangen, daß ich dachte: ‚Junge, sei nicht dämlich. Die Braut steht auf dich und du bist solo!‘.
Carols Hand wanderte von meinem Knie den Oberschenkel hoch und riß mich auch meinen Gedanken. Ich verriß fast das Lenkrad deswegen; ich mußte besser auf die Straße achten. Die erste halbe Stunde hatte sie kaum etwas gesagt bis auf kurze Anweisungen, wo ich entlang fahren sollten. Je näher wir ihrem Dorf kamen, um so aufgeregter wurde sie. Sie rutsche auf ihrem Sitz hin und her.
„Du wohnst also allein hier draußen in dem Kaff? Ist das nicht langweilig? Gibt’s hier viele Bären?“, wollte ich wissen, mehr um das Schweigen zu durchbrechen. Sie lächelte und begann wieder sich meinem Oberschenkel zu widmen. „Ach, nein. Du brauchst Dich nicht zu fürchten! ICH bin ja bei Dir.“ Zuerst wollte ich lachen, aber sie betonte das ICH so besonders, daß ich mir keine passende Antwort einfiel. Stumm fuhren wir weiter.
Ich kämpfte, um den Wagen auf der Straße zu halten und beschloß ihre Hand zu ignorieren, was mir schwer fiel. Ein paar Minuten später, kamen wir an den ersten Häusern vorbei, die alle im Dunkel der Nacht lagen. ‚Greenoak Hills‘ verkündete ein Schild am Straßenrand. Eine einsame Laterne erhellte mehr schlecht als recht die einzige Kreuzung des Dorfes mitten im Ort. Carols Haus lag auf der anderen Seite am Waldrand.
Wenig später parkte ich den Wagen in der Einfahrt zum Hof. Es war eines dieser typischen Landhäuser mit überdachter Verranda, die man häufig im mittleren Westen sieht. Als die Scheinwerfer des Jeeps ausgingen wurde es dunkel. Wir stiegen aus.
„Fang mich!“, Carol rannte einen Weg zum Haus. Mit einem Grinsen folgte ich ihr, aber sie war verdammt schnell und entwischte mir. Gerade als mich fragte, wie sie nur in dieser Dunkelheit überhaupt etwas erkennen konnte, knallte ich mit dem Kopf gegen einen Pfosten, der mitten im Weg stand, stürzte und riß mir die Hand auf. Was für ein Held!
Wenn mein Sergeant mich jetzt sehen könnte, der würde mich zusammenschreien, was für ein beschissener Marine ich sei, und würde mich bei dem Wetter die ganze Strecke zurück zur Kaserne laufen lassen. Aber der konnte mich nicht sehen, denn ich war vor drei Monaten aus der Armee entlassen worden. Ich hatte meine Dienst fürs Vaterland getan. Jetzt waren andere dran. Ich rappelte mich auf. Im fahlen Licht stakste ich vorwärts auf das Haus zu.
Carol wartete bereits ungeduldig auf der Veranda. „Du hast Dich gestoßen. Komm her.“ Das war keine Frage. Begierig zog sie mich zu sich und küßte die kleine Beule an meiner Stirn und dann nahm sie meine Hand und küßte die Wunde, Carol fuhr mit ihrer Zunge über die Wunde und zog mich heftiger zu sich heran. „Ich will Dich für mich!“, hauchte sie und zog mich mit sich zur Tür. Ich hatte schon einige Frauen erlebt, aber Carol war irgendwie anders als die anderen – bestimmter, wilder. Sie öffnete die unverschlossene Tür und zog mich ins Wohnzimmer. Ich lies es mit mir geschehen.
Doch plötzlich hielt sie inne und lies von mir ab. Ich hörte Carol die Luft durch die Nase einziehen, sie machte ein paar schnelle Schritte von mir weg in den Raum. Es lag ein komischer Geruch in der Luft. Ich tastete nach einem Lichtschalter. Meine Finger fanden schließlich einen hinter der Gardine bei der Tür. Das elektrische Licht flammte auf und ich blinzelte durch die Finger einer Hand in den Raum. Carols blinzelte ebenfalls. Sie stand in vor dem Kamin vor einem Tierkörper, der am Boden vor ihr lag. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah ich, daß es ein Reh war. Offensichtlich war das Reh vor kurzem erst getötet worden mit roher Gewalt. Dem Tier war der Hals aufgerissen war. Blut war aus dem Körper des Rehs in den Teppich gesickert. Carol schüttelte es. Ich ging zu ihr und versuchte sie zu beruhigen und wegzuziehen. Erstaunt bemerkte ich, daß Carol Geräusche machte, als kicherte sie. Einen Moment stand ich unschlüssig neben ihr. Auf einmal murmelte sie ohne mich anzusehen mit einer Stimme, als habe sie sich verschluckt: „Ohhh, Ned, immer noch für eine Überraschung gut."
Ne? Ich wußte nicht wer Ned war, wußte nicht was dieser Kadaver zu sagen hatte. Aber ich spürte sofort in mir Verärgerung und dann Eifersucht aufkommen. Wer war Ned? Was fiel diesem Ned ein, mir mein Rondevous zu versauen? Ich mußte das Tier rausbringen, von ihr weg. Ich faßte mir ein Herz und packte das Tier und zog es vor die Tür auf die Veranda. Durch die Fenster fiel genug Licht, daß ich einen Schuppen ausmachen konnte. Ich schleppte das Reh dorthin und warf es auf einen Holzstoß. Sollte es dort bleiben.
Der Regen hatte ausgehört. Die Wolken begannen sich zu verziehen und durch das Mondlicht wurde es etwas heller. Carol war herausgetreten und stand in der Tür. Sie sah mir zu. Als ich zu ihr zurückkam, atmete sie tief. Mit der vollen Kraft ihrer Lungen zog sie die Luft durch die Nase ein. Ein Schock, bestimmt.
„Ich könnte jetzt was zu trinken brauchen!“, versuchte ich uns abzulenken und blieb direkt vor ihr stehen. Sie reagierte nicht und ließ ihren Kopf hängen. Ihre Brust bebte, die Hände begannen zu zittern. Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Seit ein paar Minuten fühlte ich mich wieder völlig nüchtern und fing an mich zu fragen, was ich hier eigentlich machte. Eine wildfremden Frau nachts in ein abgelegenes Dorf fahren, nur um eine Rehkadaver aus dem Wohnzimmer zu schleppen, den irgendein Kerl ihr dorthin gelegt hatte. Und jetzt bekam die Braut womöglich noch einen Nervenzusammenbruch. Abhauen kam nicht in Frage. Ich nicht.
Ich würde nicht einfach so hier verschwinden und Carol irgendeinem Spinner aus diesem Hinterweltlerdorf überlassen. Der Beschützerinstinkt in mir kam hoch.
Wir mußten weg hier. „Komm, Carol! Wir müssen das der Polizei melden! Wir fahren am besten mit meinem Jeep hin!“ Carol schüttelte den Kopf, sie atmete jetzt durch den Mund und keuchte. „Carol, Du solltest vielleicht wirklich einen Whiskey trinken! Aber dann fahren wir los! Carol? Alles noch in Ordnung mit Dir?“
Der Mond war inzwischen hinter den Wolken hervor gekommen und leuchtete mit voller Kraft. Ihre Haut leuchtete wie Alabaster. „Keine Zeit mehr.,.“ keuchte Carol und sank auf die Knie. Ich beugte mich zu ihr herunter, Speichel hing ihr aus dem Mund. Ich zog mein Taschentuch aus der Tasche und versuchte ihn wegzuwischen. Da geschah es.
Mit einer blitzartigen Bewegung drehte Carol den Kopf und biß zu. Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Hand, dann fühlte ich Knochen brechen. Im Mondschein konnte ich jetzt Carols Augen sehen, sie waren gelb , unmenschlich und durchdringend. Sie erhob sich und riss mich mit sich hoch. Mich überkam Panik, die mir den Hals zuschnürte. Ich konnte nicht schreien. Mit schier unmenschlicher Kraft packte Carol mich und schleuderte mich über die halbe Veranda, bis ich irgendwo gegen krachte. Ein Grollen kam aus ihrer Kehle, während ihr Körper anfing zu pulsieren. Haare brachen durch ihre Haut hervor. Ihr Körper dehnte sich. Mit zwei Sätzen war sie über mir und riß mir mit ihren zu Klauen geworden Händen die Brust auf. Tief schnitten die Krallen in meine Haut. „Meeeeinnnnnn!“ grollte sie. Schmerzen. Ich fand meine Stimme wieder und schrie. Sie konnte mich jetzt leicht töten.
Sie hielt inne. Irgendwo in der Ferne ertönte ein langgezogenes Wolfsgeheul. Sie sprang von der Veranda und antwortete halb menschlich, halb animalisch mit einem langen Geheul.
Jetzt oder nie. In meinem Kopf dröhte die Stimme meines Sergeants. „Auf, auf! Stellung wechseln!“. Adrenalin pulsierte durch meine Adern. Ich sprang auf, hastete hinter der Kreatur vorbei, stolperte durch die Tür und warf sie zu. Es gab nur einen Riegel, den ich hastig zuschob. Für einen Moment wurde es ruhig. Ich hörte nur meinen Puls in den Adern. Mein Blick huschte herum auf der Suche nach einer Waffe, aber ich fand keine. Draußen bewegte sich etwas. Aus Reflex löschte ich das Licht. Jetzt würde sie kommen.
Nichts geschah. Ich faßte meinen ganzen Mut zusammen und spähte hinaus. Durch das Fenster beobachtete ich wie der inzwischen völlig verwandelte Werwolf über das Reh auf dem Holzstoß herfiel. Ich war in Sicherheit, für den Moment. Mir sackten die Knie ein. Ich hatte bereits zufiel Blut verloren. Es wurde dunkel um mich. Verloren.
Ich erwachte in einem Bett. Höllische Schmerzen wie nach zuviel Alkohol hämmerten in meinem Kopf. Ich versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Wo war ich? Was machte ich hier? Ich konnte mich nicht erinnern. Kurz erblickte ich eine weiße Decke. Irgendeine Lampe aus den 70er begann sich vor meinen Augen zu drehen, dann verfiel ich wieder in einen traumlosen Schlaf.
Als ich wieder erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel und leuchtete mir ins Gesicht. Mein Mund hatte einen komischen Geschmack im Mund, säuerlich wie von zuviel Steaks. Ich kniff die Augen zu und hob meine Kopf. Ich erblickte meine Hand. Sie war bandagiert bis zum Ellenbogen, meine Brust war ebenfalls bandagiert. Warum? Minuten vergingen. Während sich die Augen langsam an das Licht gewöhnten , formte sich ein Bild in meinen Kopf. Nacht, Jeep, Regen, Wunden... . Langsam begann ich mich zu erinnern. Ich mußte alles nur geträumt haben. Die Wunden schmerzten nicht. Das konnte nicht sein. Ich hatte wahrscheinlich nur einen Unfall und dann einen schlechten Traum. Ja so muß es gewesen sein.
Die Tür ging auf und ein freundlicher Mann mit hellem blonden Haar und Vollbart kam herein. er trug einen weißen Kittel. „Na, ist unser Patient schon wach? Wie geht es dir?“ Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
Ich starrte ihn an. Ich versuchte zu sprechen. Meine Zunge löste sich nur schwer vom Gaumen. Mühsam brauchte ich meine Antwort hervor. „Wo ... bin ich?“
„Du bist im Krankenzimmer von Greenoak Hills. Ruhe Dich erst einmal ordentlich aus. Du hast ganz schön war abgekriegt.“ Dabei lächelte er vielsagend und zwinkerte mir mit den linken Auge zu. Ich begann mich an die Nacht zu erinnern. Angst keimte wieder auf. Der Werwolft, Carol! Wußte der Doktor gar nicht, was hier passierte?
„Doktor, Sie müssen unbedingt sofort die Polizei verständigen. Da gibt es ein Haus am Ende des Dorfes...“
Aber er unterbrach mich gleich darauf „Nein, wir wollen uns nicht aufregen. Es wird alles wieder gut. Du wirst noch ein wenig Ruhe benötigen, aber Carol kommt bald und holt Dich ab.“
Carol? Panik stiegen in mir hoch. SIE kommt hierher? Sie ist doch ...? Diese Augen, diese gelben Augen.
Ein Gedanke: Weg und zwar schnell.
Ich versuchte aufzustehen, mußte aber feststellen, daß ich ans Bett gefesselt war. Der Mann im Kittel, der mich so brüderlich begrüßt hatte, grinste mich jetzt breit an. „Hab keine Angst. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, damit Du Dich nicht verletzt. Ich werde Dir was zu essen kommen lassen, dann geht es Dir bald wieder besser.“ Da draußen gab es eine Werwölfin und der Typ sprach von Essen. Der hatte ja keine Ahnung. Ich mußte weg hier. Eine Weile kämpfte ich mit den Fesseln, mußte aber schließlich einsehen, daß sie aus solidem Stahl waren. Er sah die ganze Zeit mitleidig zu. Irgendetwas kam mir bekannt an ihm vor.
Kopfschüttelnd ging er wieder zur Tür und öffnete sie, dann wandte er sich nochmals um.
„Du wirst Dich bald viel wohler fühlen, glaube mir. Viele beneiden Dich jetzt schon. Carol ist eigenwillig, aber eine gute Frau. Sie hätte hier jeden haben könne, aber sie wollte unbedingt einen Mann von außerhalb. Ich bin froh, daß sie nicht so einen Juppie-Penner angeschleppt hat, die hier in der Wildnis nicht klarkommt. Schätze Du bist in Ordnung. Du kannst mich übrigens Ned nennen. Ich bin ihr Bruder.“ Damit machte er die Tür zu und ging.