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Groß statt
Lichterbänder zogen sich durch die grauschwarzen Schluchten des Molochs. Flirrende Leuchtreklamen, erleuchtete Fensterreihen, Lärm aus den Straßenschluchten, aus den Kneipen, den Diskotheken, aus Fenstern der Wohnsilos. Brüllende Kinder, geifernde Weiber, Liebesgestöhn. Zufallende Türen und knarrende Tore. Alles eine einzige krachende Faust auf das Ohr, auf ein Ohr, das sonst nur Ruhe, nur zarte, leise Töne wahrzunehmen im Stande war, das gar nicht wußte, wie es diesen Tumult ausschalten und nicht an das Gehirn weitergeben sollte. Alles war beängstigend für Groß. Er kannte sich nicht aus, er war fremd, er war ein kleines dünnes Stückchen Holz im Wildwasser. So mußten sich diese Zweige gefühlt haben, wenn sie denn etwas gefühlt haben, die er als Kind in das Wasser des Flüßchens vor dem Haus seiner Eltern geschleudert hatte. Sein Haus jetzt, das man ihm wegnehmen wollte, das bedroht war. Er war bedroht, er war in seiner ganzen Existenz gefährdet. Das Haus stand an der Grenze zu einem Areal, das man an einen Unternehmer verkauft hatte, der nun eine Feriensiedlung errichten wollte, der seine Idylle zerstören wollte, der ihm ein Angebot gemacht hatte, das Groß abgelehnt hatte. Der Unternehmer, Walter hieß er, hatte ihm noch hinterhergerufen, daß es ihm leidtun werde. Groß war schnell in seinem Haus verschwunden, wollte nichts mehr hören, nur die Stille genießen, nur die Ruhe, seine Ruhe. Monatelang war es ruhig geblieben, nun kamen die Baumaschinen, pflügten den Boden um, demolierten aus Versehen seinen Zaun, schütteten Dreck in das Bächlein, häuften Schutt vor seinem Haus und der Zufahrt auf. Sie machten ihm das Leben zur Hölle, es brannte sein kleiner Schuppen, sein Kater wurde überfahren, sein Gemüsebeet planiert. Groß kannte sich nicht in juristischen Fragen aus, er wollte keinen Anwalt, er wollte keine gerichtliche Auseinandersetzung. Er verstand auch nicht, warum ein Mensch einem anderen das Leben schwer machen konnte. Er wollte Ruhe, statt dessen war der Lärm in sein Leben eingezogen, war Wut in Groß aufgekeimt.
Groß, statt diesen Gefühlen zu widerstehen, statt sich mitzuteilen, statt um Hilfe zu bitten, war in die ferne Hauptstadt aufgebrochen, wollte Walter sprechen, wollte ihn auffordern, ihn in Ruhe zu lassen, wollte Frieden, nichts als Frieden.
Der Lärm und der Gestank dieser Stadt entsetzten ihn. Ihm war klar, daß Menschen so werden müßten, die diesen Bedingungen ausgesetzt wären. Unfreundliche Menschen, ein Stoßen, ein Geschiebe und Gedränge. Er war vollständig umgeben von Hast, von Eile und Oberflächlichkeit. Ein schwarzes, tiefes, kaltes Gewässer, ein Strudel. Überall lockte die Versuchung. Er sah Geschäfte, sah deren Auslagen und hatte von den Dingen noch nie etwas vorher gehört. Feinkostläden, Geschäfte, die ausschließlich Parfüms anboten, Lampenläden, Anglerbedarfsartikel und Sex-Shops. Er wurde von Frauen angesprochen, die ihm eindeutige Angebote machten, die ihn bedrängten und die ihn auslachten, als er sich losmachte, wie man sich von einer Schlingpflanze befreien müßte. Er mußte sich ein Zimmer nehmen, um zu übernachten, da er Walter jetzt am Abend unmöglich noch stören konnte. Sein Zimmer war billig, die Gegend mies und um ihn herum war die stundenweise Vermietung des Ortes die Regel.
Groß, statt aufzubrechen, sich loszureißen, seine Angelegenheiten zu überdenken und einen anderen Weg einzuschlagen, blieb.
Er würde Frieden schaffen, keine Frage. Nach durchwachter Nacht und einem schlechten Frühstück betrat er erneut die Szene. Das Gedränge war genauso groß, die Geräuschkulisse eher noch gewaltiger, weil die Baumaschinen, die Preßlufthämmer, die Flugzeuge über seinem Kopf das Toben noch steigerten. In seinen Ohren hämmerte es, es war sein Herzschlag, er war aufgeregt, er hatte Angst vor dem Zusammentreffen mit Walter. Groß mußte in die Außenbezirke fahren, Walter wohnte nahezu im Wald, es war hier ruhig, zum ersten Male seit er in die Stadt gefahren war, hörte er das Tschilpen und Zwitschern der Vögel, er sah ein Schmetterlingspärchen durch die laue süßliche Luft gaukeln, er war nun vollständig verwirrt. Eben noch das Dröhnen der Stadt, nun die Ruhe der Natur. Groß, statt umzukehren, statt einen anderen Weg zu wählen, ließ sich bei Walter melden. Der ließ ihn warten, ließ ihn in einem kleinen Raum sitzen und brüten. Als er dann schließlich vorgelassen wurde und sein Anliegen vortrug, erntete er Spott, Gelächter und Hohn. Er wurde hinausgeschmissen, man benötige sein Grundstück nicht mehr, er solle ruhig bleiben, er störe Walter nicht. Schäden seien entstanden, dafür sei Walter versichert, kein Problem, kein Problem.
Groß, statt nunmehr zu gehen, vielleicht noch einen letzten Fluch diesem Monster zuzuschreien, sah die Figur, Hermes darstellend, aus Bronze auf dem Kaminsims, sah die lachende Fratze von Walter und fühlte im nächsten Moment warme Flüssigkeit auf seinen Händen, auf seinem Gesicht. Er hörte eine Stimme stöhnend und röchelnd, eine andere, die um Hilfe schrie, wieder Drang dieser Lärm, dieser kakophone Krach an sein Ohr und er hielt sich die Ohren zu, er taumelte aus dem Haus, verfolgt von einem Mann und einem kläffenden Hund.
Groß, statt stehen zu bleiben, lief weiter, statt nachzudenken, brachen seine Gedankenfetzen, wie Wasser durch Ritzen, aus seinem Gehirn.
An der Bushaltestelle ließ er sich von der Polizei abführen, er wehrte sich nicht, er hörte nicht auf das, was man ihn fragte oder zu ihm sagte, er wollte den Lärm aussperren, er wollte sich in sich zurückziehen, wie die Schnecken in ihre Häuschen. Blaulicht, Blitzlichtgewitter, Gedränge der Reporter um ihn, Wortfetzen, Geschrei und dann war es Nacht um ihn.
Groß, statt zu kämpfen, hatte aufgegeben.