- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Große Stadt - Kleiner Mensch; Der erste Eindruck
Ich glaube den Lärm der vorbeifahrenden Autos hören zu können. Ich sehe die überfüllten Straßen und hektisch eilende Passanten, vermutlich auf Ihrem Weg zur Arbeit. Den Puls der Stadt kann ich spüren, der mit fortschreitender Stunde und dem sich nähernden Arbeitsbeginn weiter anschwillt.
„Düsseldorf – Du schöne Stadt am Rhein. Wie magst du noch, engelhaft schlafend, vor wenigen Stunden in deinem Bett gelegen haben.
Langsam füllen sich die Adern mit Menschen, die Arterien mit Fahrzeugen aller Art. Leben kehrt ein. Der Kreislauf stabil, die Welt dreht sich.
Auch mein Zug nähert sich deinem Herzen. Er kämpft sich seinen Weg durch die Krampfadern der wirren Schienenstränge. Ungeduldig stehen die ersten Mitreisenden auf. Sie können es kaum erwarten, ihre Füße auf deinen Boden zu stellen, um dann, sich in den Pulk mischend, ein Teil deines Pulsschlages zu werden.
Wie Millionen kleiner Bakterien fallen wir über dich her. Doch nicht etwa, um dich zu quälen, oh nein, meine Schöne. Wir wollen dir Gutes tun. Ja, das ist es. Lass deine müden Straßen durch unsere geschwinden und doch zärtlichen Fußtritte massieren. Lehn dich zurück, schließe die Augen und genieße die Musik unserer motorisierten Hilfsmittel, welche wir benötigen, um deine üppige Landschaft zu erkunden. Lausche meditierend den Hup- und Stimmkonzerten, kehre in dich beim Klang unserer laut singenden Chöre.“
Ich steige aus meinem Zug. Mit klopfenden Herzen betrete ich den Düsseldorfer Hauptbahnhof. Eine kleine Stadt für sich, wie ich finde.
Hektisch, dennoch zielsicher treiben die Menschen zu den Treppen, welche auf die Bahnhofsarkaden führen. Dort kauft sich ein Passant noch einen Bagel, mit Gurke, Tomate und einem dekorativen Salatblatt belegt. Ein wenig Natur auf einem Frühstücksbagel. Er trägt seine kleine Oase des Grünen in der Tasche und schreitet nun weiter voran, um in einem der zahlreichen Betonmonumenten seinen Alltagsgeschäften nachzugehen. Für ihn kann der Tag endlich beginnen. Er ist auf alles vorbereitet.
Von allen Bahnsteigen und Treppenabgängen strömen Menschen auf die Arkaden zu. Beeindruckt bleibe ich einen Moment stehen und werde von einem Bahnreisenden angerempelt. Ein kurzes „Pardon“ von ihm, schon eilt er, seinen Trolly hinter sich herziehend als würde er einen widerspenstigen Hund Gassi führen, weiter gen Ausgang.
Ich bin verunsichert zu welchem der Ausgänge ich eilen soll. Es ist unmöglich, einfach stehen zu bleiben. Also folge ich, wie von einem Sog aufgenommen, gehorsam der breiten Masse.
Ich hoffe inbrünstig, dass niemand in mir das nervöse „Kleinstadtmädchen“ sieht. Innerlich zerrissen, ob diese Großstadt Gutes mit mir vor hat oder böse und gemein über mich herfällt, mich vierteln und durch einen Fleischwolf drehen möchte. Äußerlich zielsicher wie all die Anderen, bahne ich mir meinen Weg durch die Menge.
Um mich herum Menschen, Menschen und noch mehr Menschen. Wo wollen sie alle hin? Wird noch Platz für mich sein?
Sie flößen mir Respekt ein, in ihren eleganten Anzügen, fein in Schlips und Kragen. Ich lasse es mir nicht anmerken. Sie sind Menschen, wie du und ich. Am frühen Morgen verwandelten sie sich in das, was sie nun darstellen. Sie schlüpften träge und verschlafen aus ihren Pyjamas und Nachtgewändern und legten nach der Morgendusche frisch und lebendig ihre Business-People-Rüstung an. Da eilen sie nun umher, die Geschäftsleute mit ihren Aktentaschen, Koffern und Trollies, gefüllt mit ach so wichtigen Geschäftsunterlagen, die sie in ihrem trauten Heim noch einmal überfliegen wollten und dann doch von einem noch wichtigeren Telefonat abgehalten wurden.
All diese Investor Relations Manager, Interim Projekt Manager, Key Account und Channel Account Manager. Ich frage mich nach dem Sinn der modern englischen Berufsbezeichnungen. Geht es darum, den Stellenwert ihrer Arbeitskraft hervorzuheben? Erzielen sie englisch betitelt bessere Arbeitsergebnisse? – Es mag so sein. Doch was wären diese Manager ohne ihren Business Controller Assistenten, Telemarketing Assistenten oder Productmanagement Assistent.
Im heimischen Dinslaken wäre ich kein QA Assistent, sondern würde als kaufmännische Fachkraft für die Qualitätssicherung zuständig sein. Nun gut, ich gestehe, dass auch mir die Bezeichnung QA Assistent besser gefällt. Sie klingt irgendwie aufregender, wichtiger – auch wenn das Aufgabengebiet sich dadurch nicht verändert.
Mit einer gewaltigen Woge zielstrebiger Geschäftsleute verlasse ich den Hauptbahnhof. Mir ist, als würde ich in die Arena eines Amphitheater getrieben. Sind wir die Gladiatoren oder die wilden Tiere, die es zu bezwingen gilt? Wo ist das erwartungsvolle Publikum, welches blutlüstern auf die ersten Kämpfe wartet, um dann in Euphorie laut schallend die ersten Toten applaudierend zu feiern?
Ich wage es nicht, noch einmal anzuhalten, um das turbulente Treiben an den Straßenbahnhaltestellen zu beobachten. Wer stehen bleibt wird mitgerissen, fortgeschwemmt. Wie ein Abenteurer eile ich durch diese fremde, viel zu große neue Welt.
Die Woge der Reisenden zerschellt an einem kleinen Fels namens Hubertus und zerteilt sich in zwei reißende Ströme. Wer wagt es da, sich uns in den Weg zu stellen?
Hubertus ist ein Obdachloser, hoch gewachsen und von magerer Statur. Erhaben, beinahe stolz, steht er da an seinem Platz und lädt die geschäftigen Menschen ein, einen Blick in sein Leben und das der Seinen zu werfen, indem er ihnen wortlos die Obdachlosenzeitung Fifty-Fifty anbietet. Er sagt nichts. Seine Blicke scheinen ziellos über das Meer der Reisenden zu gleiten. Er drängt sich nicht auf. Er steht einfach da, wie ein massiver Fels, ruhig und sicher. Mit ungläubigem Erstaunen nehme ich wahr, dass ein eben noch unter chronischem Zeitmangel Leidender, sich nun aus seiner geschäftigen Betriebsamkeit löst, um in einem kurzen Gespräch mit dem Obdachlosen zu verweilen und um eine Zeitung zu erwerben.
Ich treibe in der reißenden Strömung an ihnen vorbei und erreiche meine Straßenbahnhaltestelle. Ein Gedanke, dass sich die Großstadt möglicherweise doch nicht so anonym und gleichgültig den Mitmenschen gegenüber verhält, breitet sich zögerlich in meinen wirren Hirnwindungen aus.
Nur mit Mühe kann ich mich von dem wuseligen Durcheinander zahlreichern Menschenmassen abwenden und mich auf meine Weiterreise konzentrieren. Alles wirkt so surreal, so gewaltig auf mich.
Meine Bahn windet sich wie ein Wurm durch das Straßenbahnnetz. Mein Herz pocht. Ich sitze ruhig da und starre gebannt aus dem Fenster. Häuser reihen sich zur linken und ebenso zur rechten Seite aneinander. Mir ist, als fahre die Straßenbahn durch einen nie enden wollenden Tunnel. Doch über mir der Himmel, blau und klar.
Menschen steigen zu, andere haben ihre Endstation bereits erreicht und steigen aus. Das Leben ist ein Kommen und Gehen. Die ganze Stadt scheint unterwegs zu sein. Wie Nomaden treiben die Menschen durch die Straßen. Sie sind auf der Nahrungssuche, pflücken gierig die Früchte ihrer Arbeit und laben sich an der Wasserquelle, um ihre Krüge mit Ruhm und Ehre zu füllen.
Auch meine Reise geht zu Ende. Ich verlasse die Straßenbahn, gemeinsam mit zahlreichen Geschäftsmenschen. Mein Alltag beginnt. Ich folge dem Ruf der Arbeit.
Ein Tag verfliegt und neigt sich dem Ende. Ehe ich mich versehe, ist im hektischen Alltagsgeschehen die Woche vergangen. Stunden und Tage breiten ihre Schwingen aus und gleiten voller Hochmut über unseren Köpfen, verneigen sich noch einmal und entschwinden dann in die Vergangenheit. Aus Hochmut wird Schwermut – und dann werden Tage und Wochen in die Erinnerung verbannt, ehe sie dann verblassen.
Mit einer Handvoll meiner neuen Arbeitskollegen erstürme ich die Düsseldorfer Altstadt. Belustigt erzähle ich ihnen von dem kläglichen Versuch, mit einer Freundin aus Bedburg-Hau stammend, die Altstadt überhaupt zu finden. Wir wagten es kaum, uns allzu weit vom Hauptbahnhof zu entfernen, da wir fürchteten, den Weg zurück nicht finden zu können. Hoffnungslos verloren im Netz der Straßenkreuzungen, Biegungen, Kurven und Plätze suchten wir uns ein Bistro in der Nähe des Bahnhofes aus, nachdem wir, trotz mit einem Stadtplan bewaffnet, uns im Kreis drehten.
Doch nun bin ich hier, endlich wieder mitten im lebhaften Geschehen. Ich bin nicht nur dabei, oh nein, ich bin im wirklichen, tatsächlichen Herzstück dieser wundervollen fremden Stadt angelangt.
Ich frage mich, wann sie endliche zur Ruhe kommt, wann sie sich schlafen legt, diese große Stadt, dieses Mekka der strebsamen, fleißigen kleinen Menschen. Denn auch jetzt noch, in den Abendstunden, steht sie nicht still. Sie dreht sich, sie bewegt sich und windet sich wie ein betörendes Weib, das um seine Schönheit weiß. Sie verführt, legt ihre Arme um uns und zieht uns in den Sog ihrer Leidenschaft und Sehnsucht. Oder bin ich es nur, die so empfindet?
Ich liebe, ich lebe – und ich bin hier, im Herzen dieser herrlichen Stadt. Ich möchte sie erkunden, erobern, mein Eigen nennen dürfen. Bin ich zu klein? Ist sie zu groß? Egal, ich begebe mich ins Abenteuerland.
Ich sehe Menschen, die durch die Altstadt schlendern. Sie haben die Hektik des Alltags abgelegt. Sie üben sich im Müßiggang. Der Manager, der am frühen Morgen noch zielstrebig und pflichtbewusst seinen Aufgaben und Anweisungen entgegeneilte, führt nun ruhig und repräsentativ sein Frauchen aus. Seine Untergebenen scheinen es ihm gleich zu tun. Ich erkenne den Unterschied zwischen Manager und Assistenten nicht. Die Grenzen, die Differenzen, die Rangordnungen, sie verschwimmen, verwischen, lösen sich in Wohlgefallen auf. Sie sind Eins. Sie sind Menschen, die das Leben auskosten wollen.
Kleine Restaurants, Bistros, Cafés und Pubs reihen sich aneinander. Jede Lokalität scheint ihren eigenen Charme zu versprühen und schenkt dem städtischen Leben einen Flair, der verzaubert und den Abend vollkommen macht.
Gemeinsam mit meinen Arbeitskollegen sitze ich in einem der Straßencafés. Wir reden, wir beobachten, wir werden gesehen.
Ein Junkie schleicht bettelnd um die Tische. Er sieht verlebt und heruntergekommen aus. Ich habe den Eindruck, seine dunklen Augenringe bedecken sein ganzes Gesicht. Er passt nicht ins Bild der fröhlichen Unbefangenheit, und doch scheint er genau hier her zu gehören.
Ein Straßenmusikant gibt mit seiner alten Gitarre Balladen und Countrysongs aus seinem Repertoire zum Besten. Er hat eine kräftige, klangvolle und doch verträumte Stimme, in der soviel Sehnsucht mitschwingt, dass ich Heimweh bekomme. Nach seiner Darbietung sucht auch er bettelnd die Gäste in den Straßencafés auf. Die einen sehen beschämt weg, offensichtlich in der Hoffnung, sie würden unsichtbar und er ginge stur an ihnen vorbei. Er spricht sie an, sie winken ab. Andere zahlen schnell ihre Rechnung und erheben sich, um fluchtartig das Weite zu suchen und sich in sparsamer Sicherheit zu wiegen. Doch gibt es auch noch die Menschen, die sitzen bleiben, ihm für seinen musikalischen Vortrag danken und ein paar Taler auf seinen Teller nieder fallen lassen.
Ein Obdachloser kommt die Kneipenstraße entlang. Sein Hab und Gut transportiert er auf einer alten Karre, bei der mir der Gedanke kommt, diese müsse gleich zusammenbrechen. Er scheint verwirrt, spricht zu sich selbst. Oder hat er einen imaginären Freund dabei, den nur wir in unserer Borniertheit nicht wahrnehmen können? Er mag für uns unsichtbar sein, der Wegbegleiter dieses Obdachlosen, doch er versteht sich prächtig mit ihm und erzählt von seinem erfüllten Leben. Für ihn und seine Welt scheinen wir unsichtbar zu sein. Er hat seinen geheimnisvollen Freund bei sich und der genügt ihm.
Ich sitze in meinem Zug. Ich glaube noch immer den Lärm der vorbeifahrenden Autos hören zu können. Ich spüre die Hektik des Alltages und erfühle den Puls der Stadt. Ich bin ein Teil dieses Pulsschlages geworden. Nun weiß ich, dass sie nicht kratzt und beißt, mich vierteln und durch einen Fleischwolf drehen möchte. In dem ich die Luft dieser Stadt einatme, werde ich ein Teil ihres Atems.
Ich füge mich in die Menschenmasse ein und verlasse gemeinsam mit ihr den Hauptbahnhof. In diesem Sog treiben wir an Hubertus vorbei und teilen uns in zwei reißende Ströme. Er steht da, wie jeden Morgen. Das Leben verläuft in seinen gewohnten Bahnen. Schüchtern wünsche ich Hubertus einen guten Morgen, ehe ich weiter zur Straßenbahnhaltestelle geschwemmt werde.
Die Welt dreht sich weiter. Das Leben in der Großstadt pulsiert. Mit aller Farbenpracht und Vielfalt lädt sie uns ein, daran teilzuhaben. Sie ist keine Bestie die uns verschlingen will. Sie ist das, was wir ihr schenken. Wir können sie mit Leben, Licht und Hoffnungen füllen. Wenn wir uns von ihr und dem Leben darin nicht abwenden, so wird sie sich uns zuwenden und keines ihrer Kinder vergessen.