Gudrun - Eine wahre Geschichte
Als Gudrun fünfzehn Jahre alt war ließen sich ihre Eltern scheiden und sie musste mit ihrer Mutter von Engelskirchen nach Köln ziehen. Sie kam auf eine andere Schule und kannte, wie das so ist, niemanden mehr. Deswegen war Gudrun froh in Jennifer eine neue Freundin zu finden. Und noch dazu eine so coole und hübsche wie sie. Jennifer war eine sehr aktive Persönlichkeit mit ihren fünfzehn Jahren schon politisch interessiert. Sie engagierte sich in der Umwelt-AG und ging mit ihren Eltern auf Anti-Atom-Demonstrationen. Auch um ihrer Mutter eins auszuwischen, wegen der sie ihren Vater nur einmal im Monat sehen konnte, engagierte sich Gudrun von nun an ebenfalls für die Umwelt und ging auf Demos. Über Jenny lernte sie immer mehr Leute kennen und probierte mit 16 zum ersten Mal einen Joint. Sie hörten Reggae, bemalten sich die Hände mit Henna, machten sich Dreadlocks und gingen zu Festivals. Gudrun fand die Zeit toll und bewunderte Jennifer, die auf jeder Party im Mittelpunkt stand.
Als Gudrun und Jennifer achtzehn wurden, lernte Jennifer auf einer Party Holger kennen. Die beiden waren ein tolles Paar. Holger war ebenfalls politisch sehr aktiv. Er war schon 20 und hatte im Jugendclub schon einige Reden gehalten. Außerdem machte er Musik und half bei Festivalorganisationen. Holger war wie Jenny und Gudrun gegen Krieg, für die Umwelt, für Hanfklamotten, gegen Bullen, gegen Schlagermusik und für unehelichen Sex.
Gudruns Mutter rastete aus, als sie davon Wind bekam und brüllte sie mit rotem Gesicht an. Nie würde sie zulassen, dass ihre Tochter eine solche Schlampe werden würde. Eher würde sie sie einsperren. Aber was sollte sie machen, ihre Tochter war schon achtzehn. Von nun an sprachen Gudrun und ihre Mutter kaum noch ein Wort miteinander. Mit ihrem Vater hatte sie auch nur noch wenig Kontakt. Er hatte wieder geheiratet und zwei neue Kinder bekommen.
Als Gudrun mit der Schule fertig war, zog sie mit Jenny zusammen in Holgers WG ein. Sie wohnten zu fünft. Holger studierte Politikwissenschaften, Peter und Arnold, die beiden Mitbewohner, studierten Philosophie und Theologie und Physik. Gudrun begann Chemie zu studieren und Jenny fing an in einem Kaufhaus zu arbeiten. Holger stand nicht auf intellektuelle Frauen. Er fand zwar, dass Männer und Frauen gleich seien und das gleiche studieren dürfen sollten, aber bumsen wollte er keine Akademikerin. Das sagte er so natürlich nicht. Das sagt Jenny Gudrun im Geheimen. Als Holger seine Zwischenprüfung fertig hatte, fand er, dass man den Kapitalismus nicht unterstützen dürfe und deswegen hörte Jenny auf im Kaufhaus zu arbeiten. Kurz darauf wurde sie schwanger. Der Vater war wahrscheinlich Holger. Vielleicht aber auch Peter, denn Jenny nahm das nicht so genau. Als Holger mitbekam, dass Jenny und Peter in der Kiste waren, rastete er aus, er schlug Jenny und warf alle vier aus der Wohnung: Jenny, Gudrun, Peter und den kleinen Peter oder Holger, genannt Björn.
Alle vier zogen zusammen in eine neue WG. Nun wohnten sie zu siebt und Jenny kam mit Peter zusammen. In der neuen WG lebte auch Greta, mit der Gudrun von nun an heimlich zusammen war, obwohl Gudrun eigentlich noch in Jenny verliebt war. Aber das sagte sie niemanden. Neben Gudrun, Jenny & Björn, Peter und Greta wohnten noch Isabella und Antonia in der WG. Ein Jahr später bekam Antonia eine Tochter. Peter nahm es halt auch nicht so genau. Aber man konnte es ihm auch nicht übel nehmen. Gudrun fand Peter nett, er war aufgeschlossen und sehr verständnisvoll. Er trat immer in Diskussionen für die Rechte von Frauen ein und würde nie eine Frau schlagen. Er konnte schön Klavier spielen und sah gut aus. Er war intelligent und belesen, man konnte mit ihm lachen und er war ein toller Vater. Hätte Gudrun auf Männer gestanden, wäre sie wahrscheinlich in ihn verliebt gewesen. Als noch zwei weitere Frauen in die WG einzogen, beschwerten sich die Spießer-Nachbarn, wie Peter sie nannte und schwärzten Jenny und Antonia beim Jugendamt an. Aus Angst ihre Kinder zu verlieren, zog die ganze WG in ein kleines Häuschen am Rande von Köln. Es hatte sogar einen Garten, indem sie von nun an ihr eigenes Gemüse und ihre eigenen Kräuter und ihr eigenes Gras anbauten. Eigentlich passte es Gudrun gar nicht, aus Köln wegzuziehen, denn nun musste sie fast eine Stunde zur Uni fahren. Aber nach ein paar Wochen fand auch sie es sehr entspannt auf der „kleinen Farm“ mit all ihren Freunden. Außerdem hatte sie Angst den Kontakt zu Jenny zu verlieren und sonst hatte sie keine richtigen Freunde.
Nachdem Gudrun auf einer der häufig stattfindenden Partys Greta mit einem achtzehnjährigen in der Hängematte erwischte, machte sie Schluss. Greta meinte Gudrun sei eine Spießerin und die beiden redeten von nun an nicht mehr miteinander. Weil ihre Beziehung aber für alle geheim war, wusste auch niemand von ihrer Trennung.
Eines Abends als fast alle aus waren und nur Gudrun, wegen ihrer bevorstehenden Zwischenprüfung und Peter zu Hause waren, der auf Björn und Lisa (Antonias und Peters Tochter) aufpasste, kam Peter in Gudruns Zimmer und fragte, ob sie ein Glas Wein mit ihm trinken wolle. Gudrun lehnte ab, da sie definitiv noch lernen musste. Daraufhin setzte sich Peter auf Gudruns Schreibtisch und meinte, dass sie sich mal unterhalten müssten. Als Gudrun hörte, was Peter ihr zu sagen hatte, lief es ihr eiskalt den Rücken runter. Sie musste wohl träumen oder verlangte der Freund ihrer besten Freundin wirklich von ihr mit ihm zu schlafen. Konnte es wirklich wahr sein, dass alle Frauen aus der WG mit ihm im Bett waren? Einschließlich Greta? Gudrun wurde schlecht und wie im Taumel versuchte sie sich aus seiner Umarmung zu lösen. Mehr versehentlich als beabsichtigt stieß sie ihm ihren Ellenbogen gegen die Nase. Peter fing an zu bluten und rief irgendetwas von Gemeinschaft. Als er das Zimmer verlassen hatte, verrammelte Gudrun zitternd die Tür mit einer Kommode. Schlüssel gab es im Haus nicht. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und Gedanken rasten durch ihren Kopf. Was sollte sie bloß tun? Sie musste es Jenny sagen. Aber wie? Es würde ihrer besten Freundin das Herz brechen. Wo sollten sie nun wohnen oder wäre es einfacher Peter rauszuwerfen. Was würden die anderen Mädels sagen, oder würde Jenny nicht wollen, dass sie es auch erfahren…
Irgendwann früh morgens schlief Gudrun ein und wachte erst gegen Mittag wieder auf. Als sie in die Küche kam, saßen alle am Tisch. Gudrun wurde schlecht bei Peters Anblick. Wie konnte so ein netter Mann plötzlich so widerlich erscheinen. Oder andersherum.
„Gut, dass du kommst“ hörte Gudrun Jenny sagen, „wir müssen mit dir reden. Peter hat uns erzählt was gestern Abend passiert ist.“ Gudrun war verblüfft. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Und sie wurde noch weiter überrascht. Sie hatte nun das Gefühl, dass ihr jemand eine Pfanne gegen den Kopf schlägt. Hatte Jenny vor allen anderen grade gefragt, warum sie nicht mit ihrem Freund schlafen wolle. Wurde ihr grade vorgeworfen spießig zu sein, konservative Werte zu vertreten, engstirnig und verbohrt zu sein. Konnte das alles hier wahr sein.
Alle WG-Mitglieder redeten auf Gudrun ein, ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Zum Schluss hieß es, sie solle drüber nachdenken. Gudrun fuhr mit einem Stein im Magen zur Uni. Sie wünschte sich, die Vorlesung würde ewig dauern. Am liebsten wäre sie nie mehr zurückgefahren, aber wo sollte sie hin, zu ihrer Mutter, mit der sie seit 2 Jahren kein Wort mehr gesprochen hatte? Oder zu ihrem Vater, den sie auch nicht mehr sah. Sie fuhr in einer Endlosschleife mit der Straßenbahn. Vielleicht hatten die anderen Recht. Vielleicht ist sie verklemmt und von den Spießerwerten ihrer Spießereltern beeinflusst, vielleicht muss sie sich davon lösen um wirklich frei zu sein. Sie muss ihrer Sexualität freien Lauf lassen und falsche antifeministische Moralvorstellungen ablegen, die ihr das System aufdrückt. Die anderen haben wahrscheinlich Recht, dass man erst ein frei denkender Mensch ist, wenn man sich von vorgefertigten Konventionen freimacht und nicht mehr dem Willen anderer untersteht. Vielleicht würde sie ja auch danach auf Männer stehen und irgendwann ein normales Leben führen und Peter war immerhin ein attraktiver Mann, sie hätte es schlimmer treffen können. Also fuhr sie, fest entschlossen mit Peter in die Kiste zu steigen, nach Hause und fühlte sich sogar irgendwie erleichtert.
Während dem Sex mit Peter lag sie einfach nur da und ging im Kopf das Periodensystem durch. Sie fühlte gar nichts. Außer einem Ekelgefühl, das sie versuchte zu unterdrücken. Als es vorbei war, versuchte sie so schnell wie möglich unter die Dusche zu kommen. Aber auf dem Flur standen die anderen Mädels und umarmten und beglückwünschten sie. Irgendwie fühlte sie sich wieder erleichtert. „Wie nach einer Zahnbehandlung“ dachte sie. Aber Peter reichte die eine Beweisprobe nicht, er wollte ihre „Hemmungen abbauen und sie von gesellschaftlichen Zwängen befreien“, wie er sagte. Gudrun machte mit, was sollte sie tun. Peter drohte damit, sie aus der WG zu werfen, wenn sie die Ideale und Prinzipien nicht akzeptieren und vertreten könne. Einmal hatte er mitten in der Nacht Gudruns Sachen gepackt und wollte sie vor die Tür setzen. Gudrun war wie gelähmt, sie wollte nicht allein sein, sie wollte ihre Freunde nicht verlieren.
Das ganze ist nun schon zwanzig Jahre her. Gudrun hatte Glück und lernte ein Mädchen aus Berlin kennen. Paula machte in Köln am Institut für Physik und Chemie ein Praktikum. Sie wurden ein Paar. Und nachdem Peter von Gudrun verlangte auch mit Thorsten einem Freund von ihm zu schlafen, um ihren Freigeist unter Beweis zu stellen, verließ Gudrun bei Nacht und Nebel mit Paula Köln und zog nach Berlin. Sie erzählte lange nicht von dem, was sich in Köln abgespielt hatte, auch Paula nicht. Erst als es fast zu spät war und die Beziehung zu Paula in die Brüche zu gehen drohte, arbeitete Gudrun die Vergangenheit zusammen mit einer Therapeutin auf. Seit einiger Zeit arbeitet sie nun bei einem Verein, der sich um Ex-Mitglieder von Sekten kümmert. Sie sei zwar nie in einer Sekte gewesen, aber sie kann durch ihre Erfahrungen gut nachvollziehen, welchen Druck eine Gemeinschaft auf ein Mitglied ausüben kann. Vor allem kann sie die Angst der Mitglieder aus der Sekte auszutreten und danach kaum noch soziale Kontakte zu haben, oder von der Sekte fertig gemacht zu werden und alleine zu sein, nachvollziehen. Sie weiß, was es bedeutet unter dem Willen und Gedankengut einer einzelnen Person zu stehen. Jemand der dies noch nicht am eigenen Leib erfahren hat, kann sich kaum vorstellen, wie die eigenen Gedanken manipuliert werden können, vor allem, wenn alle im Freundeskreis die gleiche Meinung vertreten und Kritik nicht zugelassen wird. Äußert man Kritik oder nur Bedenken, wird man als Feind der Ideologie betrachtet und unter Druck gesetzt seine Meinung zu ändern. Im Schlimmsten Fall werden Sanktionen angedroht. Haben alle Freunde die gleiche Meinung, fängt man an, an seinem eigenen Verstand zu zweifeln und seine eigenen Gedanken den Idealen der Gemeinschaft anzupassen, um nicht abzuweichen und weiterhin dazuzugehören. Gudrun ist ein hartes Beispiel, aber steht exemplarisch für das, was in vielen Gruppen, selbst in Cliquen in der Schule, vor sich geht. Sobald eine Gruppe nicht zu Selbstreflexion fähig ist und Kritik ausblendet oder niedermacht, wird sie totalitär und manipulativ. Dazu muss keine religiöse oder politische Ideologie vorhanden sein. Gudrun weiß wovon sie spricht, auch wenn sie einer Gruppe angehörte, die allgemein nicht als Sekte bezeichnet werden würde.