Gute Nachbarn
Petra war froh als sie die Tür hinter sich schloss. Erschöpft lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen. War das eine Party gewesen. Mühsam begann sie ihre Schuhe auszuziehen. Als der erste dann endlich mit viel Schwung über den Laminatboden bis ins Badezimmer schoss, kichert sie beschwipst. Hinkend wandte sie sich der Küche zu. Bevor ihre suchenden Hände den Lichtschalter fanden, warf sie noch einen Blick auf die gegenüberliegende Häuserfront. Ah Meister Glatze sitzt am Fenster, dachte sie als das Licht aufflammte. Der merkt wohl gar nicht, dass seine Glatze über die Storegardine herausragte. Sie kicherte erneut als sie an eine Zeichnung aus ihrer Schulzeit dachte. "Kilroy was here" Fehlten nur noch die Hände. Was guckt der sich um die Zeit wohl noch an. Petra schaltete das Licht aus und setzte sich ans Fenster. Durch ihre Gardine hindurch beobachtete sie den Beobachter. Vielleicht ist der ein Spanner? Sie blickte auf die Uhr. Die ersten fünf Minuten Ewigkeit waren vergangen, ohne das sich etwas bewegt hätte. Sie stützte ihren Kopf mit ihrem Arm auf den Tisch. Aber was sollte es hier schon zu spannen geben. Auf der Vorderseite des Hauses lagen doch nur die Küchen. Vielleicht das junge Paar von oben? In der Küche? Petra kicherte erneut und wäre fast mit dem Kopf auf die Tischplatte geknallt, als ihr Arm abrutschte. Die Zeit kroch dahin und langsam wurde ihr langweilig, zumal der beobachtete Beobachter sich nicht bewegte. Gebückt schlich Petra aus der Küche, damit Herr Glatze, wie sie ihn insgeheim nannte, nicht bemerkte, dass sie ihn beobachtet hatte. Im Flur richtete sie sich dann auf, drehte sich um und betrat aufrecht die Küche. Sie knipste das Licht an. Es sollte so aussehen als hätte sie in der Küche zu tun. Sie ging auf den Kühlschrank zu und durch ihren Schwips, wirkte ihr Gang hölzern. Mit einem Seitenblick, bei dem sie sich fast den Kopf an der Kühlschranktür gestoßen hätte, registrierte sie , dass ihr Gegenüber seine Stellung nicht verändert hatte. Sie nahm die Flasche Spätburgunder aus der Tür und schenkte sich ein Glas ein, nachdem sie marionettenhaft zum Geschirrschrank getippelt war. Das gibt's doch nicht, entrüstete sie sich innerlich. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass der Nachbar seit über einer halben Stunde am Fenster saß. Nachts - und schlecht getarnt - hinter der Gardine. Während sie den Wein trank beobachtete sie ihn weiter, bis der Fuß des Glases die Glatze zu einem Sonnenaufgang verformte. Sie kicherte und verschluckte sich. Die Drehung, um den überschüssigen Wein ins Waschbecken zu befördern, schaffte sie blitzartig. Nur stoppen konnte sie ihren Schwung nicht mehr rechtzeitig und so spuckte sie den Wein, unter Einhaltung der Flugkraft, auf die Tapete neben der Spüle. Glatze wird sich jetzt über mich amüsieren. Petra spürte wie Wut in ihr aufstieg. Na warte. Möglichst locker und cool ging sie zum Fenster hinüber und winkte ihrem Nachbarn zu. Doch nichts passierte. Wen beobachtet der bloß? Der muss mich doch sehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blieb alles so, wie vor einer halben Stunde. Der beachtet mich gar nicht. Wütend ging Petra zum Lichtschalter. AUS,AN,AUS,AN,AUS,AN,AUS,AN. Mit einem siegessicheren Lächeln ging sie wieder zum Fenster und winkte erneut. Verdammter Spanner! Jetzt stellt er sich schlafend. Wütend wandte sie sich um. Ein Blick auf die Uhr. Seit über einer Stunde beobachtet der mich jetzt und wartet wohl darauf, dass ich mich ausziehe. Den Spaß werde ich dir verderben. Sie ging ins Wohnzimmer und rief die Polizei an. Dann stellte sie sich wieder ans Küchenfenster und wartete. Es dauerte genau zwölf Minuten, bis der Streifenwagen vor dem Haus hielt. Die Beamten stiegen aus und setzten sich dienstmässig ihre Mützen auf. Petra öffnete die Tür und führte die beiden in die dunkle Küche.
"Der Glatzkopf, aus dem Erdgeschoss gegenüber, beobachtet mich schon seit über einer Stunde. Das ist bestimmt ein Spanner."
Die beiden Beamten schauten aus dem Fenster und der Jüngere beschloss rüber zu gehen und an die Scheibe zu klopfen. Petra sah wie er das Haus verließ, die Straße überquerte und vor dem Fenster des Nachbarn stehen blieb. Dann meldete sich das Funkgerät des Beamten in der Küche: "Paul. Entwarnung. Es ist ein Globus." Petra's Gesicht nahm die Farbe des Spätburgunder an.