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Guten Tag.

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20.10.2004
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Guten Tag.

Ich stamme aus einer ehemals aufstrebenden Bergarbeiterstadt im Bezirk Halle.
Es war oberstes Planziel der Stadt, dass sich die Leute fleißig vermehrten um schließlich eine möglichst große Menge Müll zu machen – zur Errichtung des Berges, der zu Füßen unserer Stadt, nahe einem fast noch ländlichen Vorort, wuchs und wuchs und wuchs.

Wer sich das mit dem Bergbau wohl mal ausgedacht hatte?
Vielleicht sagte jemand eines Tages: „Also, hier haben wir eine unbebaute Fläche, na ja, oder eine sanfte Erhabenheit im Flachland (der Redner mag gedacht haben: Wie das erstarrte Atmen des Waldes, dem unvermittelt mitgeteilt wird, dass demnächst die Holzfäller kommen würden), ja, und auf dieser kaum merklichen Erhebung soll nun ein Berg gebaut werden, nennen wir ihn den Scherbelberg.“

Und also zogen aus nah und fern Menschen in unsere schöne Stadt, ließen sich nieder und wurden Bergarbeiter.
Ihre wichtigste Aufgabe war, wie schon gesagt, das Produzieren von Müll, damit man jeden Tag neue Mengen bunter Fetzen, staubiger Schuttmassen, klebriger Schlämme und verträumter Antiquitäten auf den Berg bringen konnte. Täglich rumpelten schmutzige graubraune Müllautos durch die Straßen, um all die in schmutzige graue Metalltonnen geworfenen Dinge, Reste von irgendwas, den Kehricht tausender Haushalte – die Hinterlassenschaften der ganzen städtischen Gesellschaft, in ihren dicken Bäuchen verschwinden zu lassen, und es wenig später über die Hänge des wachsenden Berges zu erbrechen.

Es hätte so ein schöner Berg werden können!
Man munkelte zeitweilig, vielleicht irgendwann darauf ein Wintersportzentrum zu errichten. Möglicherweise mit einer alten ausgedienten Schneekanone wie der aus Sankt Petersburg, welche jenes unvergessene Silvesterfest zwischen Zarismus und Sozialismus einböllerte.

Das wäre was geworden! Unsere Oberbürgermeisterin sitzt in ihrem roten Kunstledersessel im Rathaus, das rote Telefon läutet, „...flüsterflüsterflüster, ...ah, ...ja, Genosse Müller, mh, ja, wird erledigt!“, und mit einem Lächeln zum ersten Chefsekretär der Kreisleitung, welcher gerade zu einem Plausch über die Planerfüllung der Zulassung moderner Zweitaktottomotorpersonenkraftwagen bei ihr weilt: „Das war der Genosse Müller von der Bezirksleitung. Morgen mittag kommt eine Delegation mit Genossen aus dem Ural, dem Kaukasus und weiterer befreundeter Hochgebirge zu uns; wir sollen doch schon mal die Kanone flott machen, damit sich die Genossen bei einem zünftigen Prasdnik ein Bild von unseren Möglichkeiten machen können und sich an unserer Sprungschanze wie zuhause fühlen. Na, das kriegen wir doch hin, oder?“
Dann hätte sie wohl nach dem grauen Telefon mit der Aufschrift „WSZ“ gegriffen, auf welches der erste Chefsekretär der Kreisleitung in einem Anflug kindlicher Naivität irgendwann einen bedeutungsvollen dickbäuchigen Papierschneemann geklebt hatte. Ein kurzes Gespräch mit dem verantwortlichen Leiter des WSZ, und schon wäre man einem kleinen Sieg im langen Kampf für den Sieg des Sozialismus wieder näher gewesen.

Nun, so weit kam es leider nicht. Das Erdbeben von 1989 hat die wunderbaren Träume von einer Winterolympiade am Rande Dessaus zunichte gemacht.
Die Stadt, wie auch der Bezirk und die anderen Bezirke der DDR haben sich von der Naturkatastrophe nie wieder erholt und leben jetzt am Tropf der blutsverwandten Bundesrepublik, auch kurz Deutschland genannt, die jedoch andere Wege zur Winterolympiade verfolgt.

Ich selbst habe meine Heimatstadt seit 1990 nicht mehr gesehen, ich ergriff die Flucht, nachdem ein vermeintlicher Rosinenbomber, den nach ihrer Auflösung führungslos gewordene, umherirrende Freischärler der StaSi beschossen hatten, auf dem Romajukplatz notlandete und sich als transportables Massa-Einkaufszelt herausstellte. Die Folgen waren verheerend, ich möchte aber nicht weiter darauf eingehen. Die darauf folgende Entwürdigung unserer Einwohner, die stundenlang anzustehen bereit waren, nur um das Innere zu sehen, hat sich tief in die kollektive Erinnerung eingebrannt und ist mittlerweile ein Tabuthema, an welches man nicht rühren sollte.

Ich hoffe, dass Sie nie in das zweifelhafte Vergnügen eines Besuchs in Dessau gera-ten, denn von dort höre ich nur Schlimmstes. Wer sich jedoch näher dafür interessiert – der STERN weiß am besten, wie es den armen Menschen dort geht. 120 % Arbeitslosigkeit, ein mittlerweile bedrohlicher Ausländeranteil von gut 2 % mit all den daraus resultierenden Problemen, wie Kriminalität, Drogenkriminalität, Fremdenfeindlichkeit, Drogen, Kriminalität, unsichere Bereiche, wie der Stadtpark, Kriminalität, Drogen, Handtaschendiebstähle und Kriminalität, und schließlich Mischehen zwischen einheimischen weißhäutigen Frauen mit fremdländischen dunkelhäutigen Männern und daraus resultierende buntgescheckte Kinder mit daraus resultierender Kriminalität und Fremdenfeindlichkeit. Furchtbar. Alles nachzulesen in der journalistischen Studie des STERN über die unerträgliche Schwere des Seins in Dessau, im Vergleich zum beschwingten freudvollen Dasein in westlichen Provinzstädten entlang sonniger Weinberge.

Ja, wie schon gesagt flüchtete ich 1990 und lebe seither in einer mittleren Mittelstadt oder einer klitzekleinen Großstadt oder in einem beschaulichen Provinzstädtchen oder in einem nicht ganz weltoffenen Riesen-Global-Village oder in einer größenwahnsinnigen KulturSportTheaterHallenhochsprungGartenreichFachhochschulInnovationsGastronomieBrückenbauBildungsInvestHotelKonferenzFDP-Metropole mit einer eigenen Charterflug-Start-und-Lande-Bahn, die direkt vors Rathausportal führt.

Nun, ich bin seit meiner Flucht vor fast vierzehn Jahren nicht mehr in Dessau gewesen und halte mich jetzt in diesem, eben von mir unsicher beschriebenen Ort, südlich von Roßlau an der Elbe, versteckt, um mich in Ruhe meiner schriftstellerischen Lebensaufgabe zu widmen.


Nun wissen Sie, woher ich komme und was ich so treibe.

 

Hallo Pavarotti,

ich fand deine Geschichte ganz nett, was für zwischendurch. Aufgrund der ganzen Übertreibungen eigentlich eine Satire.
Zu Beginn war ich etwas irritiert, da ich bei Bergarbeiter und Bergbau an Kohlebergbau und Zechen gedacht habe - wenn die Irritation Absicht war bzw. du den Begriff auf humorvolle Art und Weise kritisch hinterfragen wolltest, okay, ansonsten würd ich das ändern. Ich hab etwas gebraucht bis ich begriffen hatte, dass es tatsächlich um den Bau eines Berges geht.

Kleinigkeiten:

ch hoffe, dass Sie nie in das zweifelhafte Vergnügen eines Besuchs in Dessau gera-ten
geraten
Nun, ich bin seit meiner Flucht vor fast vierzehn Jahren nicht mehr in Dessau gewesen
das sagst du hier glaube ich zum dritten Mal. An einigen Stellen fand ich die Wiederholung als Stilmittel passend, bei der Kriminalität z.B., hier fand ich´s überflüssig.
Nun wissen Sie, woher ich komme und was ich so treibe.
Ich würd den letzten Satz weglassen.

Liebe Grüße
Juschi

 

Danke, Juschi, für das intensive Durchgehen eines Textes "für zwischendurch".
Die Trennungsstrich- und sonstigen Kleinfehler ergeben sich natürlich durch ungenügende Konzentration beim Verschicken von Festplatte ins Forum. Ärgert mich bei anderen auch immer, muss ich zugeben. Also danke für diese Hinweise!
Die Wiederholungen sind bei mir Masche. Stricke ich immer wieder mal mit rein. Das kommt daher, dass ich relativ viele Lesungen mache, und in Lesungen funktionieren derartige Spielereien oft, wenn gut vorgetragen wird. Zum Lesen ist das oft weniger geeignet, sehe ich ein.
Und der von dir monierte letzte Satz ist hier wirklich überflüssig. Der ganze Text war von mir als Einstiegstext für eine Lesung geschrieben, so als Aufwärmer. Daher.
Ach ja, der "Bergbau". Ein Spiel mit eben jenem Wort, eine satirische Umdeutung und ein Aufhänger für den ganzen bei mir darauf folgenden realsozialistischen Nonsens.
Aber immer wieder die Flucht vor vierzehn Jahren zu erwähnen, ist sicher etwas haarig. Ich arbeite dran, falls ich mit dem Text noch irgendwas machen will.

 

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