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Hätte er nur gewartet
Man sagt, dass die Zeit alle Wunden heilen würden. Das trifft auch zu. Jedenfalls für die meisten Menschen. Nicht aber für mich. Denke ich zumindest. Es ist wahrscheinlich eher so, dass der Schmerz bei manchen Menschen einfach langsamer vergehen will. Ich gehöre bestimmt zu diesen Menschen. Oder besser gesagt muss ich logischerweise zu denen gehören. Mein Kummer müsste von Jahr zu Jahr abnehmen, wenn auch nur langsam und ich sollte mich eigentlich, je weiter ich mich von den Ereignissen von damals entferne, besser fühlen. Aber trotz allem fühle ich mich nicht so. Ich fühle mich schlecht. Bin traurig. Habe alle Hoffnung verloren. Sehe kaum mehr einen Sinn, in dem was ich tue. Obwohl schon zehn Jahre vergangen sind, seit er von mir gegangen ist.
Noch heute mache ich mir Vorwürfe. Ich hätte ihn doch irgendwie umstimmen müssen. Ihm mehr Liebe geben sollen als ich ihm gab. Mit ihm noch mehr reden müssen. Ihn mehr unterstützen. Einfach alles besser machen sollen. Alles anders.
Meine Therapeutin meinte, dass ich keine Schuld an seinem Tod habe. Dass nur er alleine dafür verantwortlich war. Das es nur seine Entscheidung gewesen ist. Meine Freunde und meine Familie sagen das auch. Und es mag vielleicht auch richtig sein. Aber es ändert nichts an dem was ich fühle. Selbst die besten Argumente schlagen bei mir nicht an. Jeden Morgen schaue ich in den Spiegel und sage mir, dass die Schuld nicht bei mir liegt. Aber wie ich bereits erwähnte, fühle ich mich so, als wäre es gestern gewesen. Als wäre die Wunde genauso weit offen wie am ersten Tag.
Alles ist so zwecklos. Mein Leben ist zerstört. An mir vorbei gegangen. Habe einfach den Anschluss verloren.
Und dabei hätte alles anders kommen können. Wenn ich mich doch nur anders, besser verhalten hätte. Hätte ich alles richtig gemacht. Und vor allem wenn er nur gewartet hätte. Nur noch ein wenig.
In meinen Träumen sehe ich ihn noch vor mir. Wie er sich auf den Weg macht. Irgendwo Richtung Dunkelheit. Ich rufe ihm immer wieder zu: „Warte doch bitte. Die Sonne geht bestimmt bald auf. Du darfst nicht gehen. Ach, bitte warte doch. Lass mich nicht alleine!“. Und ich knie mich immer wieder hin bettele, schreie und weine aber er hört nicht auf mich, selbst als ich wie ein kleines Kind auf den Boden liege und mit meinen Fäusten dagegen schlage. Er hört einfach nicht. Er will es nicht. Und so macht er sich auf den Weg, bis ich ihn kaum mehr sehen kann. Dann ruft er mir, kurz bevor er in der Dunkelheit verschwindet, von weitem zu:
„Es tut mir Leid aber ich muss gehen. Ich kann nicht länger warten bis die Sonne aufgeht. Ich muss ihn suchen. Ich muss den Sonnenaufgang suchen gehen. Habe keine Angst. Mir wird es bestimmt besser gehen und wir werden uns wieder sehen. Ich komme zurück.“
Aber er kam niemals zurück und wahrscheinlich werde ich ihn auch nie wieder sehen. Denn ich glaube heute an nichts mehr. Nicht an Gott und nicht an das Glück oder an die Liebe. Es gibt für mich nur noch den Schmerz, den er mir hinterließ. Es hätte nie soweit kommen müssen.
Ich lernte Mark im Zug kennen. Es war die erste Fahrt zu meiner neuen Schule. Er saß mir gegenüber und schaute aus dem Fenster. Sein Gesicht werde ich wohl niemals vergessen können. Dieser träumende Blick, diese ungemeine Sehnsucht in den Augen. In den Jahren, als wir zusammenlebten hatte er diesen Blick des Öfteren. Noch heute kann ich nicht mit Sicherheit sagen, nach was er sich sehnte. Früher dachte ich, dass es Geborgenheit wäre. Aber was weiß ich denn schon?
Ich war fasziniert von seinem Anblick. Natürlich kannte ich bereits einige Träumer, auch ich war eine Träumerin, aber er war anders. Es schien so, als würde er eine tiefe Trauer oder eine Last in sich tragen. Einen Schmerz. Nie hatte er von sich aus darüber gesprochen. Als ich ihn einmal darauf ansprach, konnte er mir nicht sagen warum es so war. Vielleicht wusste nicht einmal er selbst warum.
So schaute ich ihn einige lang Zeit an. Schließlich drehte er sich in meine Richtung und sah mir tief in die Augen und ich in die seinen. Sie waren dunkelbraun, fast schwarz. Einnehmend. Und ich verlor mich in ihnen. Er lächelte. Und ich tat das Gleiche.
„Mark“, sagte er und reichte mir die Hand.
„Maria“, antwortete ich und bemerkte dabei, das meine Stimme nicht mehr als ein hauch war.
Von da an sahen wir uns so gut wie jeden Tag im Zug. Unterhielten uns und erzählten von einander. Zuerst waren es nur Oberflächlichkeiten die wir austauschten. Redeten über die Schule, Arbeit, Familie und Zukunftspläne. So viele Hoffungen und Träume hatten wir. Aber es wäre jetzt zuviel genaueres darüber zu berichten und ich ehrlich gesagt möchte ich das auch nicht. Diese Zeit, diesen Teil von ihm möchte ich in mir bewahren. Diese kostbaren Erinnerungen, das Lachen, die Wärme, die ich bei unseren Gesprächen gespürt habe. Diese Dinge gehören mir, auch wenn das egoistisch klingen mag. Ich möchte sie unangetastet ruhen lassen. Aber zumindest kann ich sagen, dass er gerne malte. Was heißt gerne? Er liebte es mehr als alles andere, vielleicht sogar mehr als mich. Und er hatte unglaubliches Talent. Nicht nur ich sah das so. Auch Familie, Freunde und seine Lehrer. Wettbewerbe hatte er bereits gewonnen. Er war ein Freigeist, nahm das Leben so wie es kam, mit einer Leichtigkeit, die ich bis dahin nicht kannte.
Jedenfalls kam eines nach dem anderen, wir lernten uns kennen und lieben, zogen nach der Schulzeit zusammen und heirateten. Wir hatten nie viel Geld. Ich war nur eine einfache Angestellte im Büro und er. Er war Maler. Das war alles was er wollte, alles was zählte. Natürlich stand er erst am Anfang und konnte von daher nur selten damit Geld verdienen, doch das machte mir nichts aus. Für mich gab und gibt es wichtigere Dinge. Trotz allem empfand er immer eine fürchterliche Trauer, wenn seine Bilder von den Galerien abgelehnt wurden. Ich konnte es ihm ansehen, auch wenn er es nicht zugab. Ich sagte ihm immer wieder, dass er Geduld haben müsse, dass das was er hatte eine Gabe war, die bald auch andere erkennen würden. Er danke mir, doch ich wusste, dass er an meinen Worten zweifelte.
Die Jahre vergingen und der Erfolg blieb aus. Und das zerbrach ihn. Noch immer redete ich ihm gut zu, aber es brachte nichts. Wir begannen uns wegen jeder Kleinigkeit zu streiten. Er war frustriert über seinen fehlenden Erfolg und ich darüber, dass ich ihm einfach nicht helfen konnte. Wie sich jeder denken kann, kam es wie es kommen musste. Er starb. Hatte sich im Wald erhängt. Das Leben ist einfach nicht so gelaufen wie er sich vorgestellt hatte. Plötzlich war ich alleine und er hinterließ mir nur einen Brief und seine Bilder. Er schrieb, dass es ihm Leid täte und er nicht anders konnte. Er liebte mich, doch sah er keine Perspektive mehr, konnte sich nicht vorstellen seinen Traum einfach fallen zu lassen.
Lebe dein Leben, irgendwann werden wir uns wieder sehen, an einem besseren Ort.
Das waren seine letzten Worte. Ohne meine Familie, wäre ich ihm wohl schon gefolgt. Ich konnte nicht mehr schlafen, hatte ständig Albträume, weinte oft die ganze Nacht hindurch, aß nur wenig, verkroch mich zuhause und schließlich gab ich meinen Beruf auf. Das schlimmste an allem war, dass nur wenige Tage später jemand vorbeikam und ein Bild kaufte. Er war ein Kunstliebhaber und ihm gefielen die Bilder. Plötzlich sprach sich Marks Talent um. Und da war nun der Erfolg, den er sich immer ersehnt hatte. Hätte er nur gewartet.
Lebe dein Leben, schrieb er, doch ohne ihn sehe ich keinen Sinn mehr darin. Manchmal bin ich wütend auf Mark, weil er nicht erkannte, dass ich so nicht leben können würde. Alleine. Als er starb, nahm er einen Teil von mir mit.
Heute habe ich durch das Geld, das die Bilder einbrachten, ausgesorgt. Aber Geld bedeutet mir nichts. Geld kann mir nicht die Zeit zurückgeben, die ich verlor. Und ich wünschte ich könnte zurück. Zurück zu dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal trafen. In die Zeit als wir noch Träume hatten und das wirkliche Leben in weiter Ferne lag.