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- 04.08.2001
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Häuserkampf
Jawohl, Sir. Wir waren dort und wir waren direkt an der Front. In vorderster Linie. Ich kann Ihnen sagen, schlimm sieht es aus. Sheffield haben wir verloren, das steht fest. Was man Ihnen auch erzählen will, Sheffield ist eine verkohlte Wüste. Wir mussten fast alle Häuser vernichten. Sie wissen ja, wie schnell das Virus um sich greift; wenn es eine Ansiedlung hat, kann man sie abschreiben, sobald sie infiziert ist. Keine Chance.
Bitte, Sir? Ja, Carrington Hall liegt in der Nähe von Sheffield, ich weiß. Ja, Sir, ich weiß auch, dass Sie Verwandte dort haben. Nein, es tut mir Leid, wir konnten nichts...Wir kamen zu spät.
Carrington Hall liegt auf halber Strecke zwischen Sheffield und Yernshire, wie Sie wissen. Und da war es unabdingbar, sicher zu sein. Um jeden Preis mussten wir eine Ausbreitung der Epidemie auf Yernshire verhindern, ein Überspringen des Virus’ auf das Dorf hätte bedeutet, dass wir den Kampf an der gesamten Ostküste hätten verloren geben müssen.
Sir, wir hatten gehofft, es retten zu können, doch als meine Truppe bei Carrington Hall anlangte, sahen wir, dass es zu spät war. Sie kennen ja die Symptome infizierter Häuser: Uns kam schon von Weitem das Getier entgegen, das aus dem Gemäuer geflohen war. Die Mäuse und Ratten, später die Spinnen und Asseln. Sie hatten es geschafft, sie waren entkommen.
Als wir näher kamen, erblickten wir den blutroten Qualm aus dem Abzug. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Haus unrettbar verloren ist.
Also nahm ich mir zwei meiner besten Männer – Jones und Challenger – wir zogen die Schutzanzüge an und dann gingen wir rein.
Normalerweise ist eine Gruppe von drei Mann ideal für eine Austreibung. Einer kümmert sich um das Zentrum, sucht Anzeichen dafür, wo es sich befindet – zählt zwei und zwei zusammen. Die Kopfarbeit, sozusagen, Sir. Die schwierigste Aufgabe, im Allgemeinen übernehme ich sie. Jones und Challenger sollten mir den Rücken freihalten, Viehzeug aufspüren und beseitigen, alles, was das Haus zu bieten hatte. So war unsere Arbeitsteilung gewesen, seit wir in Milchester diesen verdammten Kampf aufgenommen haben. Und wir haben noch jedes Haus gereinigt, auch wenn wir die meisten letztendlich niederbrennen mussten. Es war eine gute Methode.
Die Jungs nahmen jeweils eine Uzi, verschiedene Handfeuerwaffen und eine größtmögliche Anzahl Munition mit hinein. Ich schnallte mir den Flammenwerfer auf den Rücken, so dass er nicht störte.
Ein Hauptkriterium für den Erfolg einer solchen Mission ist die Mobilität bei der größtmöglichen Bewaffnung.
Natürlich könnten wir die Häuser von außen vernichten, einfach in die Luft sprengen, aber es kommt vor, dass sich Überlebende drinnen aufhalten. Und jeder gerettete Bürger ist ein Sieg für die Moral der Truppe. Außerdem kommt es vor, dass wir Häuser befreien können, das Zentrum zerstören und den Virus vernichten. Wie gesagt, so was hebt die Stimmung.
Das Haus war totenstill. Keine Bewegung, bis auf das geisterhafte Wabern des roten Nebels, der mittlerweile alles einhüllte.
Als wir das Haupttor öffneten, schien ein Zittern die Mauern zu durchlaufen. Wir blickten noch einmal zurück, unsere Kameraden winkten uns und dann gingen wir hinein.
In der Halle war es kühl. Sie kennen Carrington Hall, Sir. Sie wissen, dass schon die Eingangshalle ein Prunkstück ist. Als wir über den gemusterten Marmorfußboden klapperten, kamen wir uns vor wie Eindringlinge.
Am Treppenaufgang fanden wir eine männliche Person, tot. Nein, Sir, es war nicht Ihr Vetter, das dachten wir zunächst auch. Doch es war ein alter Mann, der da lag, es handelte sich um Ihren Onkel. Die Flucht wäre ihm anscheinend fast gelungen, nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Freiheit. Er wurde erschossen, Sir, von hinten. Und dann stürzte er die Treppe hinunter.
Wir zogen ihn gemeinsam bis vor die Tür und betteten ihn in eine halbwegs angemessene Stellung, um ihn später mitzunehmen und zu beerdigen.
Während Jones und Challenger die Halle sicherten, beschäftigte ich mich mit der Frage, aus welcher Richtung Ihr Onkel gekommen war und von wo aus er erschossen wurde. Ich ging davon aus, dass er vom Zentrum weggelaufen war und derjenige, der ihn tötete, von dort gekommen sein musste. Damit kam vorerst noch die gesamte obere Etage in Frage; dass sich das Zentrum unten befinden könnte, schloss ich aus.
Wir machten uns daran, die Räume in dem Stockwerk systematisch zu durchsuchen. Jones ging vorweg, die Waffe im Anschlag, ich folgte und Challenger deckte nach hinten. Wir hatten die Helme noch nicht aufgesetzt, da wir davon ausgingen, dass eine reale Gefahr noch nicht bestand.
Das Haus war seltsam kühl. Das haben wir oft, Sir. Alle Energie wird abgezogen und dem Zentrum zugeführt, es wird dadurch gestärkt und wächst. Es wird unersättlich, bis es so mächtig geworden ist, den Virus zum nächstliegenden Gebäude zu schleudern und es zu infizieren. Was genau vorgeht, haben wir lange noch nicht begriffen, die Forschung steht erst am Beginn.
Abgesehen von der Kälte begegneten wir nichts Ungewöhnlichem. Die Zimmer waren in normalem Zustand, sie wirkten bewohnt, nur das Feuer im Kamin natürlich war erloschen.
Das war seltsam, denn im Allgemeinen spüren die Gebäude, dass wir auf dem Weg sind und sie versuchen uns abzuwehren. Zwar schwach nur in den Außenbereichen, doch umso heftiger, je näher wir dem Zentrum kommen.
Doch hier nichts dergleichen.
Wir hatten einen Flügel abgesucht, ohne auf irgendetwas anormales zu stoßen. Ich hatte die Befürchtung, dass wir leichtsinnig werden könnten, dass uns das Gemäuern einschläfern und dann grausam zuschlagen würde. So wurde ich immer nervöser.
In einer Art Abstellzimmer fanden wir eine weitere Leiche – eine ältere Frau. Wenn Sie mich fragen, Sir, war es die Haushälterin. Sie war grauhaarig, ihre Augen standen offen und ihre Kehle war mit einem blutigen Schnitt durchtrennt. Ihr Rock war hochgerutscht, so dass sie einen sehr unanständigen Eindruck machte.
Es stand allerlei Gerät herum, Besen, Wischer, Staubsauger, eine Bohnermaschine. Auf dem Boden lagen Kabel verstreut, es war ein rechtes Durcheinander. Zudem war der Platz kaum ausreichend für uns drei hier drinnen. Challenger stand draußen und beobachtete den Gang.
Ich sah mich um in der Hoffnung, erkennen zu können, wohin der Mörder der alten Dame geflohen war, um damit unsere weitere Marschrichtung zu erkennen. Das Elektrokabel eines Staubsaugers interessierte mich. Es lag achtlos hingeworfen neben dem Gerät und ich hätte schwören können, dass es sich eben bewegt hatte. Ich hockte mich nieder und tatsächlich, als ich genau hinschaute, erkannte ich, dass sich das schwarze Seil langsam hin- und herschlängelte. Sanft und ziellos waren die Bewegungen des Strangs.
Natürlich, Sir, ich hätte es besser wissen müssen. Ich bin einer der erfahrensten Häuserbekämpfer, wenn Sie so wollen. Natürlich mache ich mir Vorwürfe und ich übernehme voll und ganz die Schuld für das folgende.
Fasziniert folgte ich dem Tanz der Schnur, legte jede Vorsicht ab und berührte es leicht mit der Fingerkuppe. Es war warm und kringelte sich wohlig unter meiner Hand.
Plötzlich schnappte es nach vorn und legte sich um meine Handgelenke. Ich war verblüfft und während ich noch geistlos hinabstarrte, wickelt sich der Strang rasend schnell um meine Unterarme, meine Schultern, den Oberkörper und schließlich um meine Beine. Mit einem schmerzhaften Ruck zog sich das Seil fest und ließ mich hilflos zur Seite kippen. Ich war gefesselt und lag vollkommen bewegungsunfähig neben der Leiche der alten Frau.
Zwei Dinge nahm ich gleichzeitig wahr: Jones hatte es ebenso wie mich erwischt und die alte Frau begann sich zu regen. Langsam zog sie die Glieder an und richtete sich auf. Die rote Wunde am Hals zog sich nach oben wie ein schmutziges Grinsen. Jones’ Blick kreuzte den meinen und ich konnte die nackte Angst darin sehen. Wir waren hilflos und die Leiche erhob sich.
Sie setzte sich ungelenk auf, schaute mit leeren Augen um sich und ergriff das Rasiermesser, das neben ihr lag. Als sie sich vollständig erhoben hatte, ahnte ich, was sie plante und ich wusste, dass ich nichts mehr dagegen unternehmen konnte.
Draußen stand Challenger mit dem Rücken zu uns. Die Alte stapfte auf ihn zu, ich versuchte zu schreien. Quälend langsam drehte er sich um. Ich warf mich gegen meine Fesseln, zerrte daran mit aller Kraft.
„Vorsicht, Jake!“ Jones hatte die Gefahr erkannt und warf sich ebenso umher, doch genauso wenig wie bei mir nutzte das bei ihm.
Die Alte erreichte Challenger, Challenger schaute sie an, hob seine UZI. Doch mit einem gnadenlosen Hieb fuhr sie mit dem Messer nach oben und die Waffe fiel haltlos zu Boden.
Drei Finger polterten hinterher.
Entgeistert starrte Challenger erst nach unten, dann zu uns hinüber. Totenstille jetzt – dann sah er die Frau an.
Und die ließ das Messer noch einmal niedersausen und völlig übergangslos schoss Blut aus Challengers Nase – oder besser daraus, wo vorher seine Nase gesessen hatte. Haltlos lief es übers Gesicht und besudelte die Jacke und das Hemd. Er hob die Hände vors Gesicht, doch seine Rechte blutete ebenso stark.
Challenger war nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Er weinte vor Schmerz und streckte nur zur Abwehr die Arme vor den Kopf. Das scharfe Messer drang wie in Butter in das Fleisch seines Unterarms ein und zerteilte es mühelos bis aufs Gebein. In einem grauenhaften Moment sah ich die klaffende Wunde, das im Schock weiße Fleisch und den blanken Knochen darunter.
Das war zuviel. Ich schrie und zerrte wie ein Tier. Ich musste loskommen von diesem verdammten Elektrokabel. Ich versuchte zu treten und mich zu wälzen. Alles, alles um nur Challenger zu Hilfe zu kommen, der zusammengesunken war und schluchzend zu Füßen dieses Monsters kauerte.
Die Frau trat hinter Challenger, griff seinen Kopf bei den Haaren und riss ihn hoch. Sie sah uns mit ihren toten Augen triumphierend an und zog das Rasiermesser langsam an seinem Haaransatz von links nach rechts. Sofort troff Blut hervor und verteilte sich übers ganze Gesicht.
Der arme Challenger, einer meiner besten Leute, war offensichtlich ohnmächtig geworden, er hing schlaff im Griff der Alten.
Die zog die Kopfhaut vom blanken Schädel bis nach hinten, so dass diese nur noch an einem Fetzen hing.
Dann geschahen mehre Dinge fast gleichzeitig: Dieses Ungetüm gab Challenger den Gnadenstoß, trennte ihm sauber die Kehle auf. Das Herz des armen Teufels hörte sofort auf zu schlagen, die Alte kippte nach vorn und blieb bewegungslos auf ihrem Opfer liegen. Und zudem fielen fast augenblicklich die Fesseln von unseren Körpern und wir konnten uns wieder frei bewegen.
Sir! Gewiss habe ich schon eine Menge gesehen in meinem Kampf gegen dies verdammte Virus. Aber das hier war an Brutalität und Kaltblütigkeit kaum zu überbieten. Es war eindeutig, dass es dem Haus nicht um den Tod Challengers ging, einzig unsere Qualen bei seinem Dahinsiechen waren wichtig. Ich hatte nicht nur einen Kameraden auf schreckliche Weise sterben sehen, Sir, ich kam mir auch benutzt und gedemütigt vor.
Jones zitterte am ganzen Leib. Ich vermochte kaum, ihn zu beruhigen, der arme Kerl war nicht mehr bei sich.
Ich zerrte den Leichnam der alten Frau von meinem Freund und zog dessen Körper aus dem Raum an die Seite des Ganges. Ein breiter Blutsstreifen blieb zurück. Ich legte ihn ab und nahm mir vor, für ein würdiges Begräbnis dieses Mannes zu sorgen.
Wir gingen weiter – zu zweit, notdürftig gesichert. Denn ich war jetzt umso entschlossener das Haus zu vernichten.
Jones hielt sich wacker. Dann und wann schluchzte er auf und ich sah, wie die Furcht in seinen Blick schlich. Doch dann riss er sich zusammen, versuchte mir kurz zuzulächeln und setzte seinen Weg fort.
Ich wies ihn an, den Helm aufzusetzen und tat es ihm nach. Der war zwar unbequem, aber ich wollte jedes Risiko ausschließen. Ich ahnte ja nicht, dass ich damit Jones’ Untergang besiegelte.
Ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass das Zentrum des Hauses – der Herd des Virus’ – im anderen Flügel lag. Wir waren falsch gelaufen. Kleine Indizien sagten mir das.
Kleinste Staubpartikel hatten sich auf dem Boden zu einem Muster arrangiert. Tote Fliegen lagen mit dem Hinterteil in diese Richtung, die Gardinen bewegten sich, obwohl die Fenster geschlossen waren. Alles strebte dem Mittelpunkt zu.
Und über allem eine Grabesstille.
Ich ahnte, dass hinter den Morden an den beiden Hausbewohnern ein weiteres menschliches Wesen stand. Es kommt vor, dass sich Menschen mit dem befallenen Haus verbünden, sie sind ihm zu Diensten. Ich weiß nicht, was genau sie sich davon versprechen, aber für das Gebäude sind dies meist die willkommensten Helfer.
Die tote Haushälterin hingegen, das wusste ich, wurde vom Bauwerk selbst bewegt, von seiner garstigen Seele.
Wie Sie wissen, Sir, sind diese kranken Gemäuer in der Lage, allerlei Kreaturen ins Leben zu rufen. Sie lassen sie erscheinen, aus dem Nichts, wie man annehmen könnte. Und sie machen demjenigen, der darin ist, das Leben zur Hölle. Die Wissenschaftler sind dem Phänomen auf der Spur, sie sagen, es hat irgendetwas mit Ektoplasma zu tun. Keine Ahnung, Sir, ich verstehe davon nicht viel. Alles was ich weiß ist, dass Ihnen die unmöglichsten Wesen begegnen können.
Ich habe von riesigen Spinnen gehört, die durch Zimmer krochen, Reptilien, so groß wie zwei ausgewachsenen Männer. Einer wollte mir von einer drei Meter hohen Schildkröte erzählen, die ihn angriff. Mit Verlaub, Sir, das jedoch halte ich für übertrieben!
Es wurden aber Wesenheiten beschrieben, die nicht von dieser Welt sein können. Individuen, die auf Spinnenbeinen die Räume durchkreuzen, mit dem Panzer eines Alligators bewehrt, die aber das Gesicht einer Meerkatze haben. Schaurige Geschöpfe! Und wir waren immer gewärtig, eines dieser Biester auf uns zukommen zu sehen. Doch wir täuschten uns.
Keine Monster, keine Geistererscheinungen! Nur Stille und Leere.
Wir mussten uns beeilen, nach meiner Rechnung konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Dämmerung über das Haus hereinbrach, und wenn das geschah, wollte ich meine Aufgabe erledigt und diese Mauern verlassen haben. Nicht auszudenken, im Dunkeln hier herumstreifen zu müssen.
In einem liebevoll eingerichteten Kinderzimmer fanden wir schließlich die Leichen eines Mädchens und eines Jungen, sowie ihrer Mutter. Ein schauriger Anblick, wie sie dalagen, sich in den Armen hielten und aneinander Schutz suchten. Sie waren zielgenau erschossen worden.
Ich schob Jones sofort aus dem Zimmer und schloss die Tür wieder von außen. Mir selbst ging es nicht viel besser als ihm, es war mehr, als ein braver Soldat vertragen kann.
Wir durchstreiften das nächste Zimmer und dort passierte es dann. Jones war schon am anderen Ende des Raumes; ich hatte den Eindruck, er wollte so schnell wie möglich durch sein. Er hatte die Klinke schon in der Hand, als mir etwas auffiel.
„Warte“, murmelte ich leise, doch es klang wie ein Pistolenschuss.
Eine dunkle Bodenvase stand in einer Zimmerecke und ich hatte gemeint, dass sich etwas darin bewegt hätte, ein kleines Tier vielleicht, das darin verschwunden war. Wenn wirklich eine Maus oder anderes Getier den Angriff des Virus überlebt hatte, so musste ich es sehen. Ich näherte mich sicher, denn ich hatte den Helm auf.
Ich klappte das Visier herunter und trat vorsichtig an das Gefäß.
Es war nichts zu erkennen. Soweit das Licht einfiel, bewegte sich da drinnen nichts. Hatte ich mich geirrt?
Die menschliche Psyche, Sir, ist seltsam beschaffen. Nach dem Geheimnis zu suchen ist ihr Begehr, das Unbekannte bekannt zu machen. Wenn sie aber nichts findet, wenn alles dafür spricht, dass es gar kein Mysterium gibt, dann sucht sie weiter.
Ich beugte mich tiefer über die Vase und da geschah es. Eine schwarze Flüssigkeit schoss nach oben, traf mein Visier und breitete sich kriechend darauf aus. Zähflüssig wie Öl blieb es haften am Kunststoff meines Helmes.
Ich schreckte zurück und versuchte mit den Händen, die Maske frei zu reiben. Mir war vollständig die Sicht genommen, für mich war das Zimmer schwarz.
Hektisch bemühte ich mich, das Visier hochzuklappen – es hatte sich verklemmt; den Helm abzuwerfen – er saß fest; die Sichtscheibe sauber zu wischen – es ging nicht!
Ich hörte Jones rufen: „Was ist passiert?“ Und dann: „Oh, mein Gott!“
Ich hielt inne in meinen Bewegungen, um wenigstens hören zu können, was geschah.
Die Geräusche, die dann an mein Ohr drangen, gehörten zum Furchtbarsten, dessen ich jemals Zeuge war.
Es begann sehr leise, kaum hörbar und nahm an Intensität rasch zu: Ein fernes Rauschen, ein Scharren fast, als höre man eine entfernte Menschenmenge tuscheln und raunen. Oder Füße, zehntausende Füße, die weit fort über Asphalt marschierten.
Das Geräusch wurde lauter. Und gleichzeitig begann Jones zu schreien: „Nein, nein!“
Eine Salve harter Schüsse aus der UZI.
„Jones, was ist los?“
Die Füße kamen immer näher, es gesellte sich jetzt ein Brei aus Männerstimmen dazu.
Jones schrie wieder. Getrappel und Gemurmel allerorten, das sich plötzlich auswuchs zu einem Lied, gesungen von Dutzenden Soldatenkehlen.
Ich wischte wie wild an meinem Visier, damit ich wenigstens ein wenig erkennen konnte. Doch der schwarze Schleim schien eingebrannt.
Ich versuchte, die Halterung des Helmes aufzureißen, auch das gelang mir nicht, der Hebel wollte sich einfach nicht bewegen lassen. Ich war vollkommen meiner Orientierung beraubt.
Blind versuchte ich, mich Jones vorzutasten, doch ich stieß gegen Wände und Möbel. Ein Stück fiel mit lautem Knall zu Boden.
Der Lärm war jetzt ohrenbetäubend, es war kaum auszuhalten. Jones brüllte, dann ein schreckliches Knirschen, die UZI wurde nochmals abgefeuert. Es folgte ein widerliches Schmatzen, das ich nicht einordnen konnte und das kein Ende nehmen wollte.
Dann verstummte Jones schließlich, das Schmatzen erstarb, die Männer marschierten weiter.
Und plötzlich Totenstille, die in den Ohren dröhnte. Kein Laut, nur sanftes Quietschen, als schwänge eine Tür hin und her.
Ich riss den Helm vom Kopf, ohne mich zu wundern, dass es plötzlich ging, und musste die Augen zusammenkneifen. Das Licht stach.
Jones lag in der Ecke, das Visier hochgeklappt, die Arme ausgestreckt. Er bewegte sich nicht. Sonst war nichts verändert im Zimmer; die Vase stand an ihrem Platz, nur ein Stuhl lag umgeworfen.
Vorsichtig und mit pochendem Herzen trat ich an meinen Kameraden heran. Ich konnte nicht erkennen, dass er atmete und mich ergriff Panik . Ich beugte mich hinunter und mit zitternden Fingern riss ich seine Jacke auf. Dann zerrte ich mit Mühe den Helm von seinem Kopf – und erschrak fast zu Tode. Kein Gesicht mehr, was zum Vorschein kam, kein Antlitz! Jones gab es nicht mehr. Es grinste mich ein Schädel an, dem die Haut abgezogen und das Fleisch herausgerissen war. Die Augen hingen lose aus den Höhlen. Nirgends eine Spur von Blut. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken, als ich mir vorzustellen versuchte, was geschehen war.
Sir, ich gebe zu, ich hatte Angst. Das nackte Grauen kroch in mir empor. Wer weiß, wozu dieses Haus noch imstande war. Es schien, als hätte es schon enorme Mengen an Energie aufgesaugt. Ich musste schnellstens das Zentrum finden.
Also zog ich auch Jones in eine ruhige Ecke, nahm ihm die Waffe ab und machte mich allein auf den Weg.
Das Haus, es atmete; die Wände pulsierten, als seien sie selbst lebendig, und es wurde immer kühler. Ich verfluchte mich, weil ich mich nicht wärmer angezogen hatte. Doch im Grunde war es mir egal. Das einzige, was zählte, war der Mittelpunkt des Hauses – die Ausbreitung des Virus’ zu verhindern und die würdevolle Bestattung meiner Kameraden. Mehr hatte ich nicht im Sinn.
Langsam begannen sich Eiskristalle an den Mauern auszubreiten. Ein feiner weißer Überzug, der, je weiter ich durch die Zimmer streifte, kräftiger wurde und schließlich dichter.
Ich hielt es für angebracht, das Sicherungsseil umzulegen. Ich machte es fest an einem Fensterkreuz, das recht stabil schien, und klinkte den Haken im Geschirr um meiner Hüfte ein. Ab jetzt musste ich Seil nachgeben, je weiter ich ging.
Keinen Augenblick zu früh; mit dem Klicken des Metalls hob ein Heulen an, das allmählich anschwoll und unangenehm wurde. Es machte den Eindruck, als würden Tausende verlorener Seelen um ihr Ende klagen.
Und dann das Ziehen. Zuerst spürte ich ein Jucken auf der Kopfhaut, das sich auf den ganzen Körper übertrug. Dann zog mich etwas in die Richtung, die ich eingeschlagen hatte – ein Zerren am Leib, das stärker und fordernder wurde. Ich wusste, ich war kurz vor meinem Ziel.
Wind trieb mich – ein Sturm, der alles mit sich riss. Keine Gegenstände mehr in den Räumen, einige Schritte weiter fehlte jegliches Mobiliar, die nackten Zimmer. Ich hatte Schwierigkeiten, mich gegen den Sog zu wehren, unaufhörlich und gnadenlos wurde ich in die Richtung getrieben, in die alles strebte, wo sich alles sammelte und konzentrierte. Vorsichtig gab ich Seil nach.
Mir wurde klar, dass ich es mit einem Haus zu tun hatte, das bösartiger und stärker war, als alles, was mir bis dahin begegnet war. Fragen Sie mich nicht, warum, Sir, aber vor diesem Gebäude hatte ich Angst. Ich wollte nicht mehr weitergehen, mich stemmen gegen den Sog und fliehen; doch andererseits wusste ich auch, dass es vernichtet werden musste, um Yernshire vor dem Untergang zu bewahren und ich hatte keine Ahnung, ob sich Überlebende hier aufhielten.
So ging ich weiter, wobei ich mich immer stärker dem Druck entgegenstemmen musste, um nicht fortgerissen zu werden.
Und dann ging ich durch eine Öffnung (die Tür war längst fortgeschleudert worden) und wusste sofort, hier war die Macht.
Mittlerweile hatte ich vollkommen die Orientierung verloren, die Räume waren keine Räume mehr, es herrschte Verwüstung ohnegleichen. Mauern waren eingerissen und fortgesogen, die Decke existierte nicht mehr, so dass eine Halle entstanden war – eine Kathedrale.
Und über allem ein ohrenbetäubendes Heulen.
In der Mitte des Gewölbes tobte, zwei Stockwerke hoch, ein wütender Wirbelsturm aus all den Sachen, die der Sog zu fassen gekriegt hatte. In einem wilden Tanz – immer rundherum – waren dort Tische und Stühle, Kleidung und Mauerwerk, Teppiche und allerlei Gerümpel vereint.
Ich stand davor, gesichert durch das Seil, bekam kaum Luft und schaute hinauf. Und ich sah, Sir, dass noch mehr Menschen von dem Virus hingerafft sein mussten, denn etwas über meiner Augenhöhe wurde ein blutiger Torso, dem als einziges der rechte Arm bis zum Ellenbogen geblieben war, herumgewirbelt. Immer im Kreis, eine Runde nach der anderen; ich war nicht in der Lage, den Blick abzuwenden, bis mir der Stumpf fröhlich zuzuwinken schien.
„Weshalb sind Sie gekommen?“, flüsterte eine Stimme direkt neben meinem Ohr. Ich schaute mich um, so gut es ging, konnte aber niemanden entdecken. Der Saal war, bis auf den Tornado, leer, nur dann und wann kam ein Gegenstand an mir vorbeigerast und stürzte sich wie ein Lemming in die Windhose.
Ich wusste, wo der Sprecher sich befand; ich hatte diese Situation zwar noch nicht selbst erlebt, aber einige Male schon war mir davon berichtet worden. Es kommt wie gesagt vor, dass sich Bewohner des Gebäudes mit diesem zusammentun und meinen, damit Vorteile zu erzielen.
Sir, Ihr Bruder stand in der Mitte des Wirbelsturmes und blieb von ihm unbehelligt. Ich konnte nur seine Augen erkennen.
„Was wollen Sie hier?“
„Sir, ich werde das Virus vernichten“, sagte ich.
Ein Sessel kam geflogen, angekündigt durch ein feines Pfeifen. Im letzten Moment konnte ich ausweichen und er schoss in den Mahlstrom und wurde Teil der Kaskade.
„Sir!“ Ich versuchte so gut wie möglich die Fassung zu wahren. „Sir, was versprechen Sie sich davon? Sie haben Ihre Familie ausgeliefert, Sie haben Ihre Lieben getötet, Sie haben...Ihr Land verraten!“
Ganz dicht neben mir knurrte es: „Nicht mehr lange, Freund, dann wird dieses Land nicht mehr existieren, es wird etwas vollkommen Anderes, Neues entstehen, und ich kann sagen, ich habe mitgewirkt daran! Denkst du, Dummkopf, dass dies hier alles ist? Oh nein! Wenn wir dieses Land übernommen haben, wenn wir durch sind, wenden wir uns Übersee zu. Amerikaner! Ich konnte sie nie leiden, dieses kulturlose Volk.“
„Was soll entstehen? Das Virus produziert nur Chaos und Tod.“
Er schwieg; mir schien, der Lärm um uns herum hätte auch abgenommen. Die Augen starrten mich an – um eine Antwort verlegen.
„Wie werden siegen!“, flüsterte er.
Langsam nahm ich den Flammenwerfer vom Rücken, betätigte die Zündung und mit einem gezielten Feuerstoß setzte ich die Sachen in dem Tornado in Brand. Ich musste zurücktreten, um nicht von dem Feuer erfasst zu werden. Brennendes Mobiliar, flammende Teile, der Torso verkohlt – und inmitten dieser Hölle Ihr Bruder, Sir. Er stand unbeweglich, und nach und nach wurde seine Gestalt sichtbar – der Körper. Und ich erkannte, dass auch er in Flammen stand; trotzdem bewegte er sich noch immer nicht.
Seine Stimme erklang noch einmal direkt neben mir.
„Was...“, ertönte es brüchig. „Wir sind...goldene...“ Dann war Stille und ein Flammenmeer ergoss sich über ihm. Er riss die Arme hoch und für eine grauenhaften Moment sah ich noch einmal seine Augen, seinen Blick. Der Ausdruck zeigte mir, dass er verstanden hatte. In diesem letzten Augenblick vor dem Tode hatte das Haus seinen Einfluss auf ihn verloren. Er sah klar, was er angerichtet hatte und was aus ihm werden würde.
Es krachte und neben mir stürzte ein riesiges Stück Mauerwerk zu Boden. Verderben hatte seit Stunden in der Luft gelegen – jetzt brach es los.
Das Gemäuer erzitterte in seinen Fundamenten, als spürte es, dass sein Ende gekommen war.
Ich stürzte aus dem Raum. Keine Sekunde zu früh, denn die Decke gab nach und unter Getöse fiel der ganze Raum in sich zusammen.
Ich hastete von Zimmer zu Zimmer, es war ein ungleiches Wettrennen. Steine und Verputz fielen in meinen Weg, ich musste ausweichen, manchmal blieb mir nichts anderes übrig, als drüber zu klettern.
Etwas traf mich am Hinterkopf – ich ignorierte es. Ein Schmerz breitete sich fächerartig aus, doch ich hatte nur noch eines im Sinn: aus dem Haus, aus diesem sterbenden Individuum zu entkommen.
Jones lag und schien mich mit seinen Augäpfeln anzustarren. Ich stürmte vorüber. Challengers Leiche befand sich im anderen Flügel, so dass ich an ihr nicht vorbei musste.
Ich mache mir Vorwürfe, dass ich es nicht fertig brachte, meine toten Kameraden zu bergen, die unschuldigen Opfer und auch nicht Ihren Vetter, Sir. Einzig den Körper Ihres toten Onkels konnte ich vor dem Inferno retten, wir beerdigten ihn unweit seines Heimes.
Das war Carrington Hall, Sir. Übrig blieb ein riesiger Haufen Schutt und schwelender Asche. Ich konnte das Virus vernichten, Sir. Die Ausbreitung konnte eingedämmt und Yernshire gerettet werden. Doch um welchen Preis?!
Wir haben den Krieg noch lange nicht gewonnen, ich habe Meldungen von der Westküste, dass dort vereinzelt infizierte Häuser gesichtet wurden. Es ist noch lang nicht vorbei, Sir.
Bitte mich zurückziehen zu dürfen!