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hübsche Freunde
Die Eisenbahn fährt los. Ich fahre gerne mit der Eisenbahn, besonders mit der roten, großen, die wie ein Hochhaus aussieht. Ein Hochhaus, das fahren kann und dabei gar keinen Lärm macht, aber durch die Landschaft zischt wie ein Düsenflieger der ganz nah am Boden bleiben muss, weil ihn sonst die Feinde sehen.
Ich sitze immer unten. Hier können die mich erst recht nicht sehen, wenn ich an ihnen vorbei und zur Arbeit zische und … und noch weiter. Hier können sie mich nicht sehen, die Leute die glauben, ich sei ein dummer Junge. Nur ich kann sie angucken, wenn die Eisenbahn ganz schnell durch einen Bahnhof fährt. Ich kann sehen, wie hübsch sie alle sind und wie gemein.
Ich habe schöne Beine. „Deine Beine sind das Schönste an dir, Stefan!“, hat auch meine Mutter immer gesagt. Aber meine Beine sind nicht nur schön, sondern auch stark. Es macht Ihnen gar nichts aus, wenn ich meine Hände auf sie lege und den Koffer mit dem Butterbrot, dem Tee und dem Werkzeug sogar noch auf die Hände obendrauf. Den Trick hat mir mal ein Kumpel von mir beigebracht. Ein Kumpel auf der Arbeit bei der „reintegrativen Maßnahme“. Er hat gesagt, dass es ganz leicht ist, die Hände auszutricksen. Inzwischen bin ich auch ziemlich gut darin.
Ich finde es schade, dass es hier keine Abteile mehr gibt. Keine eigenen Räume mit einer Tür [Komma] die man zumachen kann, damit man sich fühlt wie in einem eigenen Zimmer. Hier gibt es nur Vierersitze, zwei Sitze in und zwei Sitze gegen die Fahrtrichtung, aber selbst die sind schöner als die einsamen Einzelplätze vor und hinter mir. Wie immer setze ich mich also in eine von den Sitzgruppen. „Ich mag Menschen“, sage ich immer wenn mich einer fragt warum, und „ich sehe mir gerne ihre hübschen Gesichter an“. Besonders morgens, dann wenn die Gesichter noch echt sind und nicht hinter einer Maske aus Erwachsensein versteckt werden.
Ein anderer Grund warum ich so gerne in den Vierersitzen sitze ist, dass ich Freunde suche. Echte Freunde, die mich auch mögen.
„Freunde sind wie Eltern, die länger leben. Sie passen auf dich auf.“, „Freunde sind immer da.“, „Ein guter Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste was es gibtaufderwelt“ und vor allem „Wenn ich mal nicht mehr da bin, Stefan, dann brauchst du sehr viele, sehr gute Freunde.“
Das sind die Gründe, warum ich hier sitze und die Menschen freundlich anlache. Vielleicht brauchen sie ja auch einen Freund. Das wäre schon sehr praktisch. Man könnte sich ja zusammen tun, irgendwie.
Ein junger Mann setzt sich auf den Platz mir gegenüber. Ich weiß nicht, ob er das macht, weil er es so möchte, oder weil kein anderer Platz frei ist, aber das ist mir egal. „Jeder Besuch ist guter Besuch“, sage ich immer.
Er ist sehr hübsch. „Ein fescher Bursche“, würde meine Mutter sagen. Seine dunklen, ganz durcheinander aussehenden Haare hängen ein bisschen lose über seinen Augen. Er hat schöne, braune Haut und große Wangenknochen. In seiner rechten Hand hält er ein kaputtes Taschenbuch. Mit der anderen Hand zusammen legt er diese Hand auf die Sitzlehne.
Ich finde, dass das schön aussieht.
Er hat einen engen, schönen Pulli an und eine schwarze, ganz enge Hose und auch sonst ist alles sehr eng.
Sein Kopf ist ein kleines Bisschen zurückgelehnt. Seine Nase hat eine schöne Form, wenn er aus dem Fenster guckt. Ganz kurz, sodass er es nicht merkt, wandere ich mit meinen Augen auf seinem Körper herum.
Er tut so, als sei er sehr müde, aber ich kann aus diesen dunklen Augen erkennen, dass er es nicht ist. Er beobachtet alles sehr wach, auch mich und ich weiß nicht, ob ich das gut finde.
Vielleicht ist das ja seine Art Freunde zu finden. Ich denke kurz nach und frage ihn dann etwas. „Was liest du denn da Schönes?“, frage ich. Das ist eine gute, nette Frage um ein Gespräch anzufangen.
Er sieht überrascht aus und antwortet erst, nachdem er mich einmal genau so angeguckt hat, wie ich nicht gerne von Leuten angeguckt werde. Von oben bis unten hat er mich angeguckt und er bleibt mit seinen Augen genau an der Stelle hängen, an der ich das nicht so gerne habe, auf meinem Koffer und auf meinen Händen die darunter eingequetscht liegen.
Der Koffer ist eigentlich nicht besonders schön und ich glaube, die Leute gucken ihn nicht so oft an, weil sie gerne alte Koffer angucken oder Koffer sammeln, sondern weil sie wissen, was ich damit mache. Die Leute sind schlauer, als man denkt. Sie wissen, warum ich meine Hände austricksen muss.
Endlich antwortet er auf meine Frage. „Was Englisches“, sagt er, nicht mehr. Nur: „Was Englisches.“ Eigentlich mag ich solche Antworten nicht, aber bevor ich weiter darüber nachdenken kann sage ich schnell: „Aber auch englische Bücher haben Namen, oder?“.
Das war schlau von mir. Einfach ganz schnell was sagen, dabei einen Witz machen und alles ist wieder gut. Beinahe wäre das Gleiche passiert, wie beim letzten Mal, wie bei allen letzen Malen.
Auch der junge Mann lacht jetzt ein bisschen. „Ja“, sagt er und sagt einen sehr langen, komplizierten englischen Namen, den ich noch nie gehört habe.
Ich bin schon wieder schlau. Anstatt zuzugeben, dass ich den Namen nicht kenne, sage ich ganz schnell, dass ich auch gerne lese. Ich sage auch, dass man vom Lesen ja schlauer wird und ich glaube der junge Mann freut sich ein bisschen über das kleine Kompliment. Ich finde, er ist sehr hübsch, wenn er sich freut und ich mache ihm noch ein Kompliment. Ich sage, „Deine Augen sind sehr schlaue Augen.“ und ich lüge nicht, wenn ich das sage.
Er, glaube ich, findet das aber nicht sehr schön und ich weiß auch warum und zucke zusammen. Ich weiß, dass viele Leute es nicht gerne mögen, wenn ich zu nah an ihnen dran bin. „An dem jungen Mann bin ich viel zu nah dran, wenn meine Hand sein Bein berührt“, denke ich und lehne mich zurück, so schnell wie möglich. Ich bin stärker als mein Bauch.
Es ist mein Bauch, der all das Schuld ist, nicht mein … das, was weiter unten ist. Das habe ich auch meiner Mutter gesagt und sie hat mir nicht geglaubt. Das habe ich auch dem Arzt gesagt und er hat mir nicht geglaubt und immer etwas von unterdrückt gesagt.
Unter meinen Gedanken drunter, hat er gesagt, da sind noch andere Sachen, die mich dazu bringen Menschen anzufassen, die ich nicht kenne. Unterbewusst, genau, das war das Wort. Der Arzt hat schon ganz viele andere Leute untersucht, die ganz speziell begabt sind, so wie ich. Spezielle Leute machen auch manchmal spezielle Sachen, sagt er, so wie ich. Ich finde aber, er hat nicht immer Recht. Ich glaube ihm nicht, wenn er sagt, dass unter meinem normalen Denken noch ein anderes Denken ist, dass ich gar nicht bemerke. Und ich glaube ihm auch nicht, dass ich die Leute anfasse, weil ich sie „mehr als gerne haben will“. Ich weiß, was er damit meint, ich bin ja nicht so dumm wie er sagt.
Der junge Mann lächelt sofort wieder, als ich mich zurückgelehnt habe, aber sein Lächeln ist jetzt anders. Es ist nicht mehr so echt. Es ist nicht mehr so stark. Vielleicht ist das so, weil ich sein Bein doch sehr stark angefasst habe. Die rote Bahn ruckelt und will anhalten. Er macht ein Zeichen mit seinem Finger. Ein Zeichen, das „Ich steige jetzt aus“ bedeuten soll, aber ich weiß, dass er nicht echt aussteigen will. Ich weiß, dass er vor mir wegläuft, vor dem alten dummen Jungen. Ich will ihn doch nur zum Freund haben. Das versteht er einfach nicht und glaubt, ich will andere Sachen mit ihm machen. Wie alle anderen. Als er auf dem Flur ist, merke ich, dass er es ernst meint. Er will wirklich gehen. Ich darf ihn nicht lassen.
- „Du brauchst ganz viele Freunde, Stefan!“. –
Ich fasse ihn noch mal an und sage ihm, er solle bitte nicht gehen. Bitte nicht! Er merkt das kleine Anfassen an der Hand nicht. Ich muss ihn stärker anfassen, fester.- „Freunde muss man sich bewahren!“ – Jetzt umarme ich ihn richtig fest. Der junge Mann kriegt Angst und wird auch ein bisschen wütend. Das merke ich, als er mir ins Gesicht schlägt. Ich lasse ihn sofort los, weil ich merke, dass es so nicht geht. Und weil ich Angst habe, dass mir wieder das gleiche passiert wie das letzte Mal, als ich einen anderen Freund von mir nicht gehen lassen wollte. Da habe ich ihm ins Gesicht geschlagen. Das letzte Mal, als ich danach ins Gefängnis gehen musste. Dort wollten die Leute auch nicht gerne meine Freunde sein.
Ich sage „Entschuldigen sie vielmals!“, setze mich wieder hin und bin wieder schlau. Ich bin wieder so schlau wie vorher, weil ich wieder nett bin.
Der junge Mann geht sehr schnell weg, die Leute im Wagen gucken mich böse an, aber das ist mir egal, weil ich sie nicht als Freunde haben will und weil sie nicht hübsch sind.
Ich setzte mich wieder hin und frage mich, warum nicht auch andere Leute gerne andere Menschen anfassen. Sie sind doch so schön!
Warum wollen andere Menschen nicht meine Freunde sein? Man braucht doch so dringend welche.